Hypersensibel, aber tödlich dünn

Was Eltern von magersüchtigen Töchtern lernen können

  • Jürgen Meier
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
»Frau Doktor«, sagte ein Vater mit freundlich lächelndem Gesicht, »wir möchten uns bei Ihnen bedanken. Ihr Eltern-Kind-Workshop hat uns erst die Augen geöffnet, was wir von unserer kranken Tochter alles hätten lernen können.« »Das ist bitter«, antwortete die Fachärztin Wally Wünsch-Leiteritz forsch, um dann, sehr zugewandt, ja, fast liebevoll, dem Vater zu sagen, »es ist doch sehr bitter für Ihr Kind, wenn es erfährt, dass es erst krank werden musste, damit sich Ihnen die Defizite ihrer sozialen Kompetenz offenbaren.« Der Vater, ein großer und sehr pointiert sprechender Internist, die Mutter, eine zierliche Frau, die seit dreißig Jahren mit selbstverständlicher Zurückhaltung den anstrengenden Berufsalltag ihres Mannes unterstützt, sind zunächst verwundert, doch sie verstehen schnell, was gemeint ist. Im Eltern-Workshop, der fünf Tage zwölf Elternpaare vereinte, mal mit, mal ohne Kind, um die Problematik besser begreifen zu lernen, die sich hinter der Magersucht ihrer Töchter verbirgt, war immer er es, der als erster auf die enthüllenden Fragen des Therapeutenpaares mit fein geschliffenen Sätzen antwortete. Als er einmal mit großem Pathos erklärte, alles mit seiner Tochter besprochen zu haben, wirklich alles, unterbrach ihn die Therapeutin Wally Wünsch-Leiteritz mit der Frage, die alle, die sich im großen Kreis sitzend gegenseitig in die Augen schauen konnten, zu nachdenklichem Schweigen brachte: »Haben Sie mit ihrer Tochter etwa auch über die Ereignisse in ihrem Ehebett gesprochen?« »Natürlich nicht«, antwortete der Gefragte entrüstet. »Das ist gut so«, stellte die Therapeutin entschlossen fest und ergänzte ihre Zustimmung mit dem Hinweis, dass es ein grundsätzlicher Fehler von Eltern sei, alles mit den Kindern diskutieren und besprechen zu wollen. Es müsse eine klare Eltern-Kind-Hierarchie herrschen. »Wie kann diese jugendlich wirkende Frau von Hierarchie reden«, dachten die meisten Zuhörer, »das hört sich ja an wie das Gerede meiner Eltern, die mich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem anständigen deutschen Menschen erziehen wollten.« Die Frau des Internisten hatte stets die beste Freundin ihrer Tochter sein wollen, Hierarchie war für sie noch immer ein Terminus autoritätshöriger Menschen. Die Therapeutin, die aus Erfahrung von diesen innerlichen Protesten der Eltern wusste, erklärte: »Nur durch diese Hierarchie lässt sich ein gesunder Abstand zwischen Eltern und Kindern herstellen. Das Kind braucht eine kindgerechte Welt. Die kann es nur bekommen, wenn es nicht in die Lebensbelastungen der Erwachsenen hineingezogen wird.« Da meldete sich der Internist zu Wort, der ein zynisches Lächeln nur schwer verbergen konnte. »Wir haben unsere beiden Töchter in freimütiger und offener Harmonie erzogen. Folgt man Ihrer Theorie, dann hätte ja nicht nur die jüngere, sondern auch die ältere Tochter magersüchtig werden müssen. Es kann doch nicht an unserem liberalen Erziehungsstil liegen, dass unsere Tochter magersüchtig geworden ist.« »Warum löst das Wörtchen Hierarchie eine so enorme Emotion bei Ihnen aus?«, fragte die Therapeutin ruhig, »wenn ich von hierarchisch spreche, will ich damit zum Ausdruck bringen, dass es eine Rangordnung in der Beziehung der Menschen gibt. Diese Rangordnung existiert objektiv. Kein Säugling würde ohne diese Hierarchie überleben. Ich denke, dass es zum Erlernen von sozialer Kompetenz eine Rangordnung von oben nach unten geben muss. Die Eltern entscheiden über die Orientierung in der Familie, nicht die Kinder. Konflikte lösen lernt man in einem Klima, das einerseits konfliktbereit ist, in dem man sich aber andererseits liebevoll getragen und geborgen fühlt. Dass nicht beide Töchter erkrankt sind, ist einfach zu erklären. Ich beschreibe diese Besonderheit mit einem Bild aus der Medienwelt. Wo Menschen wie Sie und ich, wahrscheinlich auch Ihre zweite Tochter, eine kleine Antenne auf unseren Köpfen tragen, um sich in die Beziehung zu anderen Menschen einfühlen zu können, werden Menschen, die eine Essstörung entwickeln, von einem dicken Sendemasten mit vielen Antennen auf ihrem Kopf fast erdrückt. Diese Menschen registrieren sehr viele Signale aus ihrer Umwelt. Wer viele Signale empfängt, der will diese auch deuten und bewerten. Und so entsteht ein Problem. Da jungen Menschen mit diesen hypersensiblen Fähigkeiten häufig die geistige Orientierung fehlt, die zur Auswertung der empfangenen Signale ja unbedingt erforderlich ist, beziehen sie viele dieser Signale auf sich. Wenn die Eltern-Kind-Hierarchie in der Familie nicht funktioniert, die Eltern gar ihre Konflikte vor diesem Kind austragen, fühlt sich ein dermaßen begabtes Kind verantwortlich für die Eltern, ja, es empfindet sich häufig sogar als Verursacher der Eltern-Konflikte. Wenn dieses Kind dann noch mit Sätzen konfrontiert wird, wie "ich tue alles für dich" oder "wir haben alles versucht, dass es dir besser geht", dann empfängt es diese Sätze als Signale eigener Geringschätzung. Es denkt, ich bin falsch, da ich alles, was für mich getan wird, nicht annehme.« Eine große Erleichterung der Eltern war ganz deutlich nach diesen Sätzen zu spüren. Denn plötzlich begriffen fast alle, dass die engagierte Therapeutin keine Schuldigen in den Eltern suchte, sondern diese lediglich ermuntern wollte, die eigenen Paarkonflikte und Lebensängste als erwachsene Menschen selbstständig lösen zu lernen, ohne die Kinder damit zu konfrontieren. Die Eltern des Workshops diskutierten und kochten in dieser Woche nicht nur gemeinsam, sondern konnten sich in einer kleinen Kunstausstellung, die Zeichnungen und kleine Tonplastiken ihrer Kinder zeigte, die diese während ihres stationären Aufenthaltes gestaltet hatten, davon überzeugen, zu welch großartigen Entäußerungen ihre Kinder befähigt sind, weil sie über eine sehr sensible »Antenne« in ihrem Kopf verfügen, die der Philosoph Georg Lukács das Signalsystem 1 nannte. Dieses Signalsystem 1, erklärte einer der Anwesenden, sei unbedingte Voraussetzung nicht nur für eine präzise Menschenkenntnis, sondern auch für die künstlerische Entäußerung der menschlichen Hand, die ja ohne »große Antenne« nie als ganz eigene Quelle menschlicher Erkenntnis hätte entstehen können. Mit dem Signalsystem 1 vergleichen wir subjektiv Erscheinung und Wesen des anderen Menschen. Dieses Signalsystem 1 könne sich in einer auf Quantität und pragmatische Fakten wie Umsatz, Image oder Zensuren festgelegten Gesellschaft nur schwer behaupten. »Auch Kafka«, erklärte die Kunsttherapeutin, »der literarische Meister, der das menschliche Verharren in panikartiger Angst in prägnante Worte zu kleiden verstand, war magersüchtig. "Je originaler ein Mensch ist, desto tiefer ist die Angst in ihm", hat Kafka einmal gesagt, und klagte die heutige Welt des Kapitalismus als Hölle an, deren Macht allein in den Händen unterirdischer Mächte konzentriert sei. »Schauen sie hier«, sie zeigte auf eine kleine Plastik, die ein menschenähnliches Wesen mit zwei großen Antennen auf dem Kopf zeigte, die wie zwei Stierhörner ausschauten, »die magersüchtigen Frauen protestieren, ganz im Sinne Kafkas, gegen eine Macht, der sie nur durch Ohnmacht in ein monströses Nichts zu entfliehen hoffen.« »Diese Frauen wollen leben«, stellte ein Vater fest, »sie wollen anders leben als üblich. Aber wie sie leben wollen, das wissen sie nicht. Sie suchen Vorbilder, aber sie finden nur selten geeignete, weil auch wir uns ihnen als solche entziehen.« »Uns Erwachsenen ist die Ethik verloren gegangen«, hörte man die leise Stimme einer Mutter, »an diesem Manko leiden die Kinder, die ein sinnvolles Leben anstreben möchten. Sie verhungern ohne Orientierung.« »Alle Eltern«, hörte man zum Schluss die tröstenden Worte der Therapeutin, »übersehen phasenweise ihr Kind. Nicht absichtlich, aber je mehr man es als Eltern perfekt machen will, desto mehr kann es schon sein, dass man zunehmend nur an sich denkt und weniger von seinem Gegenüber mitbekommt. Es ist eine narzisstische Kränkung für ein Kind, wenn die Eltern es als starke und eigenwillige Person einschätzen, obwohl es sich selbst ganz anders wahrnimmt. So wächst dann das Gefühl des Kindes, nichts wert zu sein, so denkt das Kind, es sei doch völlig falsch geraten, wenn die Eltern ihm alle Freiheiten geben, es selbst aber nach klarer Orientierung verlangt. Die Wirklichkeit ist oft anders, als wir sie sehen wollen. Lernen wi...

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