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  • Politik
  • Der Rentner Heinz Bischoff verliert seine Frau an die Krankheit Alzheimer

Abschied

von Irene

  • Lesedauer: 11 Min.

Seit einem Jahr lebt der Rentner Heinz Bischoff in der Zweiraumwohnung allein. Doch so stimmt es nicht - jedes Möbelstück, jedes Tischtuch, jedes Glas hat Irene ausgesucht, sie lächelt von den Fotografien in der Schrankwand im Wohnzimmer, sie ist gemeint, wenn das Telefon klingelt. Irene wohnt noch hier, obwohl sie fort ist. Seit sie fort ist, spürt er sie mehr, als damals, da sie hier ausund einging. Nie ist er so einsam gewesen. Einsamkeit ist ein Gefährte, der schweigt.

Meist ist es noch dunkel, wenn er aufwacht. Der Schlaffaßt sich kurz, Bischoff ist 77 Wenn er sich gewaschen hat, erträgt er sich schon wieder im Spiegel. Mit dem frischen, karierten Sporthemd sieht er noch gesund aus und rüstig. Er frühstückt, spült, saugt Staub, wäscht Wäsche, wobei er die Handtücher weggibt. Um halb zwölf kommt das Mittagessen vom Arbeiter-Samariterbund. Er ißt, wischt den Tisch ab, setzt sich und grübelt. Manchmal weint er, dann sagt er sich, daß er ruhig weinen darf, weil er kein Baggerfahrer ist. Wie die meisten Lübbenauer hat er in der Kohle gearbeitet: Baggerfahrer sind hart im Nehmen, und wer eine dünnere Haut hat, der muß sich noch längst nicht schämen. Manchmal holt er die Schreibmaschine, um mit dem Papier zu reden. Dann versteht er, was ihm passiert, doch er akzeptiert es nicht. Er verliert Irene an Alzheimer Könnte er es akzeptieren, es wäre leichter, es wäre ein Strich. Doch er will den Strich nicht ziehen. So tippt er denn »unser gemeinsames Leben in kurzen Abschnitten« und quält sich: Irene Albrecht, geb. am 16.4.1927 in Leipzig, und Heinz Bischoff, geb. am 22.7 1921 in Senftenberg, schlössen am 17 4.1954 in Leipzig die Ehe.

Blutleere Zahlen, blasse Fakten, wie man sie in einen Lebenslauf schreibt. Er ahnt, daß es das ist, was übrigbleibt. Wenn überhaupt etwas übrigbleibt, dann nichts, was atmet, hofft, enttäuscht ist, sich sorgt, sich freut, schwitzt, streichelt, zittert. Irene, wie war sie? Noch schafft

er es nicht, in der Vergangenheit von ihr zu sprechen. Sie ist ja noch, wenn auch nicht mehr die, die sie früher gewesen ist. Sie erinnert sich nicht mehr Aber er erinnert sich. Für ihn ist sie noch dieselbe Frau, mit der er fast 40 Jahre lebte.

Und doch kann er seltsam wenig über diese Frau erzählen. Er war 30, als er ihr begegnete. Eine Geschichte, bei der er sich aufhält, weil sie schön ist und weit zurückliegt. Der junge Kriegsheimkehrer Bischoff berichtete für den Staatlichen Rundfunk aus dem Senftenberger Revier Als '52 über Nacht der Zuckerpreis erhöht wurde, herrschte Aufruhr unter den Rentnern, die mit ihren schmalen Bezügen häufig von Marmelade lebten. Der eifrige Arbeiterkorrespondent schmetterte eine herbe Kritik zum Rundfunkkomitee nach Berlin und wird postwendend gerüffelt: Als Parteimitglied müsse er die Entscheidung gutheißen! Die wird kurz darauf revidiert, so daß er erneut einen Brief schreibt. Eine Frau Albrecht, Leiterin der Funkkorrespondentenbewegung, antwortet, sie schicke ihm den Rüffler zum klärenden Gespräch; sie komme mit, um zu kontrollieren. Von nun an schafft er seine Berichte immer persönlich nach Berlin.

Warum liebt man einen Menschen? »Naja«, sagt er, »ihre Einstellung und natürlich ihr großes Wissen«. Er ist nicht geübt, zu beschreiben und Gefühlen nachzuspüren, geschweige denn, Worte für sie zu finden. Er erwähnt, wie Irene den Rundfunk aufgab und zu ihm nach Senftenberg zog - sie trug eine weiße Bluse, »das passierte ihr nie wieder«. Von nun an wischte sie Tag für Tag den Kohlenstaub von den Fensterbrettern, seit 1960 in Lübbenau, dort hatte er im neuerbauten BKW »Jugend« angefangen. »Naja«, sagt er, »da hat Irene schon bei der HO gearbeitet.« Er ist stolz auf sie gewesen: Angestellte, Filialleiterin, bald schon Fachbereichsdirektorin und schließlich Fachdirektorin Handel für die Städte Calau und Lübben! »Naja«, meint er, »und dann die Kinder Wir haben zwei davon großgezogen: Zuerst unseren Sohn Andreas, und dann, als Andreas mit seiner Frau noch in Moskau Physik studierte, unsere Enkelin Regina.« Also wieder früh, sehr früh 'raus, Regina versorgen,

zur Krippe bringen, weiterhetzen zu den Bussen - Irene sei noch mal ganz Mutter gewesen. Zu den guten Erinnerungen gehören die gemeinsamen Reisen: das Erzgebirge, der Harz, die Ostsee, Ungarn und die Slowakei, das Bergarbeiterheim Pizunda, Mittelasien, der Kaukasus, Moskau. Sicher, all diese Orte wären auch ohne Irene schön gewesen, aber eben doch nicht so wie mit ihrem »Guck mal da«, »Schau mal hin«, »Hast du gesehen!«

Warum liebt man einen Menschen? Heinz Bischoff mag kein Dichter sein, doch es gibt Prosa, die Poesie ist: »Wenn Irene hier wäre, würde sie sagen, Heinz, putz doch mal Fenster« Die Sonne scheint, die Fenster blitzen.

Erste Anzeichen der Krankheit traten vor drei Jahren auf. Irene verlor schnell die Ausdauer, konnte sich nicht konzentrieren, wurde zunehmend vergeßlich. Anfangs noch kein Grund zur Besorgnis: Wegen einer Herzerkrankung wurde sie ständig ärztlich betreut, etwas Ernstes, glaubten sie, hätte der Arzt festgestellt. Später konsultierten sie doch noch einen Neurologen, der bestellte sie regelmäßig und fragte Irene jedes Mal nach der Jahreszahl, ihrem Geburtstag und den Namen von Verwandten. Sie schrieb sich die Daten zu Hause auf, um sie doch wieder zu vergessen. Der Arzt empfahl ihr zur Konzentration Handarbeiten und Kreuzworträtsel. »Sie suchte die Worte und fand sie nicht. Ein paar Maschen, dann war sie erschöpft.« Anfang '97 in Lübben die Computertomographie: Gehirnabschnitte degeneriert, ganze Nervenstränge zerstört. Da wußte er, es gibt keine Rettung.

An diesem Tag begann sein Kampf. Ein Kampf wider besseres Wissen. Heinz Bischoff hat über die Krankheit alles, was ihm in die Hände fiel, gelesen. Er weiß, daß sie nicht zu stopp'en ist und daß Eiweißablagerungen an der Hirnrinde daran schuld sind. Er hat den Krankheitsverlauf studiert, wie sich die Persönlichkeit auflöst, bis der Tod durch Herzstillstand, Lungenentzündung oder auch Oberschenkelhalsbruch eintritt. Trotzdem kann er keine Klarheit gewinnen. Zu widersprüchlich, zu verworren sind die Meinungen der Spezialisten und die

Berichte in der Presse. Die einen sagen, Alzheimer sei der Alterungsprozeß, nur sehr viel früher, breiter, schneller - eine präsenile Demenz, die schon vom 45. bis zum 60. Lebensjahr auftritt. Irene dagegen sei bereits älter, in ihrem Fall sei von »seniler Demenz des Typs Alzheimer« zu sprechen. Andere schreiben, die Ursache seniler Demenz sei Alzheimer für sie ist Alzheimer offenbar die pathologische Erscheinung. Nach ihrer Definition ist das, was Irene passiert, eine Krankheit. Folgt man der anderen Auffassung, ist es das, was uns allen geschieht, wenn wir nur alt genug werden. Kann man Altern als Krankheit bezeichnen? Zwar fallen Lebensfunktionen aus, aber Altern ist natürlich, Sterben die natürliche Grenze, die wir überschreiten müssen; es gibt nun mal kein ewiges Leben.

Ein Chaos, in dem er hin- und herirrt. Er klammert sich an die Krankheitsvariante: Wäre Irene einfach nur alt - es wäre der trostlos-banale, unerträgliche Gang der Dinge. So kann er sich auflehnen, dagegenstemmen, Hoffnung schöpfen. Und immer wieder abstürzen. Ein Labor in Kalifornien legt neue Forschungsergebnisse vor, umgehend schreibt er seinem Sohn, der nun in Los Angeles lebt, er möge die Resultate erbitten. »Sicher«, tippt er in die Maschine, »hatte Andreas keine Zeit: Arbeitstage bis Mitternacht sind in seiner Branche alltäglich.« Er schlägt eine Sauerstofftherapie vor, die der Arzt als nutzlos ablehnt. »Man kriegt nicht die Hilfe, die man sich wünscht.«

Irene ging es zusehends schlechter Sie wurde verwirrter, aß kaum noch, Sehund Hörvermögen schwanden, sie konnte nicht mehr verständlich sprechen und verlor auch die Kontrolle über ihren Stoffwechsel. Dann die Phase des falschen Tag-Nacht-Rhytmus' Tags schlief sie, in der Nacht war sie wach, durchsuchte den Kühlschrank, ließ das Licht an und wollte im Hemd aus der Wohnung rennen. Er kriegt kaum noch Schlaf, erledigt den Haushalt, pflegt und beaufsichtigt Irene. Es folgte die »aggressive Phase«: Irene verstreute Gegenstände, schleppte ihr Bettzeug auf den Eßtisch und warf mit dem Telefon um sich: »Wenn man dies

verhindern will, bringt der Kranke eine Kraft auf, der man kaum gewachsen ist. Hier ist geduldiges Einreden nötig, man darf nicht versuchen, den Kranken mit gleicher Kraft zu bändigen.« Er hilft ihr, hat eine Engelsgeduld, ist zärtlich und möchte doch vor Schmerz brüllen. Am 8. August '97 wird Irene ins Krankenhaus eingeliefert. Er muß sie ans Bett geschnallt sehen, sie wird nicht nach Hause zurückkehren.

Seit einem Jahr lebt Heinz Bischoff allein. Irene ist im Pflegeheim. Sie werde gut versorgt, sagt er, obgleich manchmal nur zwei Pflegekräfte für 16 Patienten da seien. Individuelle Betreuung, Bewegungsübungen und Massagen, um Muskelverhärtungen vorzubeugen, seien so leider nicht möglich.

Irene kannte viele Menschen, nur wenige besuchen sie. Bischoff erlebt, man wird schnell vergessen. Wenn er frühere Bekannte ausdrücklich um einen Besuch bittet, wehren sie ab, sie merke ja doch nichts. Er weiß nicht, ob Irene nicht doch noch dieses oder jenes wahrnimmt. Er und ihre Schwester Ruth besuchen sie jeden zweiten Tag, nehmen sie zu Spaziergängen mit, wenn sie dazu fähig ist. Meist ist sie unruhig, hastet rastlos auf dem Korridor hin und her Selbst die Mahlzeiten unterbricht sie, um ihren Lauf wieder aufzunehmen. Eines v Tages legt er ihr Reginas Lieblingspuppe aufs Bett. Irene scheint die Puppe zu mögen, denn sie legt sich oft daneben. Die Augen öffnet sie nur einen Spalt breit. Dann fragt sie ihn: »Bist du mein Vater?« Oder fleht, wenn sie ihn erkennt. »Du bist doch mein Mann, bitte hilf mir « Wieder allein in der Wohnung, weint er

Jeder muß sterben; dies sei im Leben die einzige Gerechtigkeit, heißt es. Doch niemand, der bald sterben muß oder den, den er liebt, sterben sieht, findet, daß es gerecht zugeht. Zu dieser Demut sind wir nicht fähig. Warum sie, warum jetzt, warum so? Er braucht Antworten, die es nicht gibt. Können Streß und jahrelange große nervliche Belastung Alzheimer herbeiführen? Die Experten verneinen es. Können neue Medikamente aus Frankreich und von der Pharma Basel die Demenz verlangsamen? Die Experten sind unsicher- Gestoppt werden könne Alzheimer nicht, wenn überhaupt, sind die Medikamente nur im Frühstadium erfolgreich. Warum hat man bei Irene die Krankheit nicht früher erkannt? Wäre jemand verantwortlich, bekäme das Ganze einen Sinn; vor dem Sinnlosen sind wir hilflos. Er hat gelesen, es gebe zu wenig Berichte von Angehörigen, er möchte die Leute aufklären helfen: Die Zahl der Erkrankungen nehme zu, so daß man Alzheimer inzwischen mit Krebs oder Aids vergleichen müsse. Die Experten widersprechen. Die Wahrheit ist. Man könne heute die Krankheit nur besser diagnostizieren, außerdem erreichten heute mehr Menschen als früher das Alter, in dem sich Demenz einstellt.

So bleibt auch dieser Versuch vergeblich. Heinz Bischoff sitzt in der Wohnung und grübelt. Er hustet, er raucht zu viel »Cabinet«. Es tut weh, an Irene zu denken. Neuerdings weicht er gern aus in die Zeit, in der sie noch keine Rolle spielte: Kindheit und Jugend, Bergvorschule, HJ und Segelfliegerausbildung, Technikstudium in Eisleben. Einberufung, Luftnachrichtenschule, Fliegerhorst Welzow, er spielt Banonion, zieht über die Dörfer mit der Kapelle. Sie nennen sich »Erko-Melodiker«, die Stimme der Ersten Kompanie, dann Pommern, wo sie eines Tages in Winterklamotten gesteckt werden und ahnen, daß ihnen der Osten droht. Nach drei Tagen »Arsch auf Grundeis« Klamotten wieder abgeben, es geht in die Nähe von Le Havre, er kartiert Truppenbewegungen. Gefangenschaft, Bergarbeiterlager, '48 darf er nach Haus, wo in Senftenberg gerade die neue Ingenieurschule öffnet und er ins dritte Semester einsteigt...

Frühe Bilder, er sieht sie nun öfter Details, die keinen interessieren, aber für ihn plötzlich wichtig sind, als seien sie Weltgeschichte. Zum Ende hin, sagt man, erinnert man sich wieder daran, wie es anfing. Er denkt jetzt häufig an das Ende. Vor kurzem war es so weit weg eine Dürre in Afrika, jetzt sitzt es mit ihm im Wohnzimmer Was wird aus dem Tisch mit der Wachstuchdecke, aus dem Sofa und den Sesseln, dem Nippes, den sie gesammelt haben, den Töpfen und Tellern und Bestecken? Er ahnt die letzte Wahrheit: nichts. Dann weint er wieder, weil er nun mal kein Baggerfahrer ist, und flüchtet wieder in Tagträume. Hauptsache, nicht an Irene denken!

Doch er denkt immer an Irene. Er müßte mal 'raus, um Luft zu holen, wenigstens ein paar Tage weg - er kann nicht, vielleicht braucht ihn Irene. Mancher wünschte, es ginge vorbei. Er nicht, er sagt: »Um Gottes willen! Ich würde am liebsten mitgehen.« Dann fällt ihm ein, daß Irene es ja wahrscheinlich nicht mitbekäme und also auch nichts davon hätte. Er kann für Irene nichts mehr tun. Und doch hat er ihr ein Denkmal gesetzt. Mit einer seltenen Liebesgeschichte.

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