War Johannes Kepler ein Mörder?

US-Autorenpaar stellt die Einsichten der Wissenschaftsgeschichte auf den Kopf

In seinen »Bekenntnissen« antwortete Karl Marx auf die Frage, wer seine Helden seien: Spartakus und Kepler. Unerschrocken kämpfte der eine für die Befreiung der Sklaven, der andere für die Befreiung der Astronomie aus mittelalterlichen Fesseln. Spartakus scheiterte, Kepler jedoch gelang der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zur modernen Naturwissenschaft. Doch um welchen Preis? Glaubt man den US-Autoren Joshua und Anne-Lee Gilder, dann war ein ruchloses Verbrechen letztlich der Grund für Keplers Aufstieg in den Olymp der Wissenschaften. Sein Platz dort gebühre eigentlich dem dänischen Astronomen Tycho Brahe, ohne dessen sorgfältige Himmelsbeobachtungen, so die Gilders weiter, Kepler nur eine Fußnote in der Geschichte der Astronomie geblieben wäre. Weil Brahe sich aber weigerte, sein astronomisches Wissen mit Kepler zu teilen, habe ihn dieser, um in den Besitz der Beobachtungsdaten zu gelangen, mit Quecksilber vergiftet. Als Beleg präsentieren die Autoren eine forensische Untersuchung aus Schweden, bei der 1996 in einem erhalten gebliebenen Kopfhaar von Brahe eine auffallend hohe Konzentration dieses toxischen Metalls festgestellt wurde. Die meisten Wissenschaftshistoriker haben die »Theorie« der Gilders mit Verärgerung zur Kenntnis genommen. Der große Kepler ? ein Mörder? Das sei schlicht eine absurde Konstruktion, urteilt Manfred Fischer, der Vorsitzende der Kepler-Gesellschaft mit Sitz in Weil der Stadt, dem Geburtsort des berühmten Astronomen. Vielmehr könnten der »lautere Charakter« und die verantwortungsvolle Forschungstätigkeit Keplers noch heute als vorbildlich gelten. Ob Kepler sich gegenüber Brahe tatsächlich immer fair verhalten hat, mag nach 400 Jahren dahingestellt bleiben. Zumal auch das Gegenteil an sich nichts Außergewöhnliches wäre. Es sei denn, man neigt zu der Auffassung, dass Erfolg in der Wissenschaft notwendigerweise einen tadellosen Charakter voraussetzt. Blicken wir also zurück: Als Anhänger der copernicanischen Lehre hatte Kepler in seinem Werk »Mysterium Cosmographicum« 1596 ein geometrisches Modell entwickelt, das die Kugelsphären der sechs damals bekannten Planeten auf spekulative Weise mit den fünf Platonischen Körpern verband. Ein Exemplar dieses Werkes schickte er 1597 an den berühmten dänischen Astronomen Tycho Brahe mit der Bitte um ein kritisches Urteil. Das Buch »gefällt mir wirklich in nicht gewöhnlichem Maße«, antwortete dieser, gab jedoch zu bedenken, dass Keplers Modell ohne empirische Prüfung nicht mehr als eine elegante Spekulation sei. Tatsächlich verfügte Brahe seinerzeit über die genauesten Himmelsbeobachtungen, so dass Kepler dessen Angebot zu einem kollegialen Gedankenaustausch erwartungsfroh akzeptierte. Im Februar 1600 begegneten sich beide zum ersten Mal, am Hof des deutschen Kaisers Rudolf II. in Prag. Hier war Brahe nach seiner Verbannung aus Dänemark seit 1599 als Astronom und Astrologe tätig und sorgte nun dafür, dass auch Kepler an gleicher Stelle wissenschaftlich arbeiten konnte. Mehr noch beauftragte er diesen mit der Untersuchung der Marsbahn, die nach den vorliegenden Beobachtungen als nicht kreisförmig erschien. Bei der Bewältigung dieser komplizierten Aufgabe habe Kepler, wie Fischer betont, Brahes Datensammlung über den Mars von Anfang an uneingeschränkt nutzen dürfen. Und noch etwas lag Brahe am Herzen: Er hatte in Konkurrenz zu Ptolemäus und Copernicus ein eigenes Weltsystem entworfen und hoffte nun, dass Kepler, den er für einen überragenden Theoretiker hielt, dieses ganz nebenbei bestätigen werde. Im so genannten tychonischen Weltsystem steht wie bei Ptolemäus die ruhende Erde im Mittelpunkt des Alls. Aber auch an Copernicus knüpfte Brahe an, um die rückläufige Bewegung der Planeten zu erklären. Das heißt: Er ließ die Planeten um die Sonne, die Sonne aber um die Erde kreisen ? und stellte dabei fest, dass die Bahnen von Sonne und Mars sich regelmäßig kreuzten. Sein Modell widersprach somit der damals vorherrschenden Doktrin des Aristoteles. Denn danach sollten alle Himmelskörper durch streng getrennte Kristallsphären auf ihren Bahnen gehalten werden. Nach einigem Zögern gab Brahe die Idee der Kristallsphären auf. Was aber, fragte er sich, hält die Planeten dann auf ihren Umlaufbahnen, und welche Kraft versetzt sie in Bewegung? Dieses Problem löste in seiner Himmelsmechanik erst Isaac Newton, anknüpfend an eine Idee Keplers aus dem Jahr 1609: »Die Sonne ist die Quelle der bewegenden Kraft, die in der Nähe stärker, in der Ferne schwächer wirkt.« Ob Kepler darüber hinaus die Abhängigkeit dieser Kraft vom reziproken Quadrat der Entfernung mathematisch korrekt beschrieben hat, ist umstritten. Doch kehren wir noch einmal zurück ins Jahr 1600. Dass Brahe einen Teil seiner Himmelsbeobachtungen unter Verschluss hielt, ist historisch ebenso verbürgt wie die Tatsache, dass es deswegen zwischen ihm und Kepler mitunter zu Reibereien kam. Eine Rolle könnte dabei auch die Tatsache gespielt haben, dass Kepler auf Grund seiner mangelnden Sehkraft selbst nicht in der Lage war, exakte Himmelsbeobachtungen anzustellen. Jedoch hat er sich nach allen Auseinandersetzungen mit Brahe für sein aufbrausendes Verhalten entschuldigt und versucht, die für beide fruchtbare Zusammenarbeit fortzusetzen. Kepler war sicherlich keine einfache Persönlichkeit. Ihn deshalb aber gleich zum Verbrecher zu stempeln, wie dies die Gilders tun, geht an den historischen Tatsachen vorbei und taugt als These bestenfalls für einen reißerischen Wissenschaftskrimi. Eine Frage allerdings bleibt noch: Woher stammt das Quecksilber in Brahes Kopfhaar? Es stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Alchemistenküche, meint Fischer. Fast 30 Jahre lang hatte Brahe dort bei Experimenten giftige Dämpfe eingeatmet, bevor er am 24. Oktober 1601 in Prag unerwartet starb. Woran genau, ist bis heute ungeklärt. Sein astronomisches Werk jedoch lebt fort ? in den so genannten Keplerschen Gesetzen. Denn ohne die umfangreichen Marsbeobachtungen Brahes wäre Kepler wohl kaum zu der bahnbrechenden Erkenntnis gelangt, dass die Planeten sich auf Ellipsenbahnen mit nicht ...

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