»Das Gut-sein-Wollen«

Edeltraud Eckert: Ein früher Tod, spät veröffentliche Gedichte, ideologische Zwecke und moralische Zuständigkeit

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.
Sie schrieb für sich. Um sich an sich selber festzuhalten. Um sich ein Gesicht zu geben dort, wo es keine Spiegel gab. Um der Mensch zu sein, der sie sein wollte: stark und sehnsuchtsvoll, liebend, hoffend, verbunden mit ihrer Familie, von der sie nun lange getrennt sein würde. - Edeltraud Eckert war 20, als sie im Mai 1950 verhaftet wurde, verurteilt zu 25 Jahren Arbeitslager. Knapp fünf Jahre später verletzte sie sich bei einem Arbeitsunfall im Frauenzuchthaus Hoheneck so schwer, dass sie nach mehreren Operationen starb. Schlimm - und lange her. Also das Buch gar nicht erst zur Hand nehmen? Aber es ist etwas, das ich nicht wusste, und es gehört zur Geschichte des Landes, in dem ich fast 40 Jahre gelebt habe ... Im Paket mit den wenigen Hinterlassenschaften, das die Eltern von Edeltraud Eckert am 23. April 1955 aus dem Haftkrankenhaus erhielten, war ein Oktavheft mit ihren Gedichten. Schlichte Verse, anrührend, echt. »Ich weiß nicht viel von mir zu sagen,/ Nur dass ich lebe, dass ich bin, / Und alle Wünsche, die mich tragen,/ Sind im Verzicht ein Neubeginn.// Als ich euch damals lassen musste,/ war ich beinah noch ein Kind,/ Das nichts von all den Tiefen wusste,/ Die oft ein buntes Trugbild sind « Sie beschwört Berge, Wolken, Wellen, Frühlingsblüten - und kann diese Bilder der Natur doch nur in sich selber finden. »Der Himmel verhangen, nach Schnee riecht die Luft,/Nur blasse Gesichter in graugrüner Kluft « Der Rilke-Band ist in ihrem Zimmer geblieben, der Klang schwingt in ihr weiter, ist ihr Halt. Schreibversuche, von denen wir nichts erfahren hätten, wäre nicht dieses Schicksal der Autorin. Dazu kommen einige Briefe, die wenig von ihrer Lage enthüllen, da sie die Zensur passieren mussten. Es gehe ihr gut, beteuert sie, die Eltern sollten sich nicht sorgen. »Die Jahre vergehen schon irgendwie.« Sie versuche, »aus den kleinsten Dingen Freude zu schöpfen«. »Nur manchmal ist es unbegreiflich, dass man ausgeschlossen ist und dass das Leben weitergeht.« Beim Lesen fühlt man mit, wie es einem Menschen in Haft ergeht. Es bleibt eine Strafe auch dann noch, wenn jede Zelle, wie heute in Deutschland (!) nicht selten, Sanitärtrakt und Fernsehapparat hat. Dagegen die Zellen damals in Waldheim: ewiger Dämmer. Ein unbeheizter Waschraum, wo es keine Seife gibt ... Es soll einen schaudern, wie Ines Geipel das im Nachwort beschreibt. Aber fünf Jahre nach dem Krieg wurden die Gefängnisse erst einmal so benutzt, wie sie aus der NS-Zeit erhalten waren. - Und fünf, sechs Jahre früher wäre Edeltraud Eckert für das, was sie tat, womöglich mit dem Leben nicht davongekommen ... Aber es sollte doch gerade eine ganz andere, eine gerechte, eine menschliche Gesellschaft auf deutschem Boden entstehen! Das war die selbst gesetzte Norm, an der die DDR gemessen wurde und wird. Und ist es nicht paradox: Gerade diejenigen, die dem Sozialismus keinerlei Sympathie entgegenbringen, halten seine Ideale vehement der Wirklichkeit entgegen. Das Tragische aber ist: Manch einer, der diese humane Ordnung einforderte, weil er ihr vertrauen wollte, wurde zum Abtrünnigen erklärt. Und andererseits nicht selten auch von der Gegenseite benutzt im Machtkampf der Systeme. Edeltraud Eckert ist 1946 in die FDJ eingetreten. Freie Deutsche Jugend - das klang gut. Ihrem Antrag auf Zulassung zum Pädagogikstudium fügte sie einen Aufsatz bei, in dem es hieß, ein Lehrer solle seine Passion darin finden, die »Erziehung zur uneingeschränkten Entfaltung und freien Meinungsäußerung des jungen Menschen« zu fördern und »nicht darin, ihm eine bestimmte politische Richtung aufzudrängen«. Als sie hörte, dass es im Osten Deutschlands noch NKWD-Lager gäbe, sei Edeltraud Eckert empört gewesen, schreibt Ines Geipel. Mit Freunden zusammen hätte sie Flugblätter verteilt. »Politische Aktionen für die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« - wie beiläufig fällt hier der Begriff. Da sei hinzugefügt, dass die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« eine in Westberlin ansässige und zum Teil von US-Stellen finanzierte Organisation gewesen ist, die vor allem in Schulen und Universitäten Anhänger warb und zunächst »nur« große Flugblattaktionen inszenierte, dann aber auch zu Sabotageanschlägen überging. Die DDR ist gegen diese Gruppe, ehe sie sich 1959 auflöste, mit großer Härte vorgegangen. Es wurden hohe Haftstrafen verhängt und sogar Todesurteile gefällt. Eine Wer-Wen-Situation: Zwei Deutsche Staaten, hinter denen zwei Machtblöcke standen. Kalter Krieg, und Stalin lebte noch. In der BRD wurde ein auf potenzielle Bürgerkriegssituationen bezogener Gewaltapparat geschaffen. 1951 wurde das 1. Strafrechtsänderungsgesetz beschlossen, das Bestimmungen über Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat enthielt. Im gleichen Jahr wurde die FDJ als »verfassungsfeindliche und kriminelle Vereinigung« verboten und 1956 die KPD ... Der gesamtdeutsche Blick fehlt im Nachwort von Ines Geipel. Sie führt eine DDR-Auseinandersetzung so, als ob dieser Staat noch bestehen würde. Und sie nutzt, nach allzu bekanntem Muster, Literarisches zu einem ideologischen Zweck. Die Publikation des Buches wurde von der »Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« unterstützt, für die Ines Geipel und Joachim Walther zwischen 2001 und 2004 ein »Archiv unterdrückter Literatur in der DDR« zusammengetragen haben. Etwa 40000 Manuskriptseiten - ein Teil davon soll nun in 20 Bänden der »Verschwiegenen Bibliothek« an die Öffentlichkeit gebracht werden, die mit Edeltraud Eckerts Gedichten und dem Tagebuch »Blende 89« des Leipziger Autors Radjo Monk eröffnet wird. Ob man nun diese oder jene Emotion damit verbindet, unterm Strich bleibt: Etwas Verborgenes wird ans Licht gehoben, damit man es besehen und beurteilen kann. Und doch spürte ich zunächst auch Aversion. Abrechnung mit der DDR - das ist so bundesrepublikanisch staatskonform! Eine Seite im Kalten Krieg hat gesiegt, und die gibt nun die Wertmaßstäbe und Denkmuster vor. Immerhin aber kann ich dies schreiben, und es wird sogar gedruckt in einer Zeitung wie dieser. Solchen Freiraum hat die DDR Andersdenkenden nicht geboten. Tatsache ist aber auch, dass sich viele einstige DDR-Bürger heute in die Ecke gestellt fühlen. Lebenswege bekamen einen Knick, zur ökonomischen Unsicherheit kam soziale Demütigung. Es war eben keine deutsch-deutsche Vereinigung. Der Osten wurde »Beitrittsgebiet«. Das hat Trotz geweckt. Aber es ist auch eine Frage der Einstellung zum Leben. Ich kann wählen, ob ich mich hinter Verbitterung verschanze, überall Angriffe sehe, ob ich mich resigniert von allem abkehre, was mir nicht gefällt, oder ob es mir wichtiger ist, im Heute offen und in geistiger Bewegung zu bleiben. Mag zur bundesdeutschen Staatsideologie die Abrechnung mit der DDR gehören. Mag es so sein. Das nimmt mir doch nicht die Zuständigkeit für das, was zu meiner Zeit geschehen ist! Edeltraut Eckert schaut mich an, die ich nichts von ihr wusste und bis zuletzt noch glaubte, man könne die DDR durch eine »Perestroika« verbessern. Ihr Schicksal liegt auf meinem Gewissen, obwohl ich erst fünf war, als sie starb. Und ich auch nichts hätte daran ändern können, wenn ich damals im Alter meiner Eltern gewesen wäre. Eine Zwanzigjährige!, das war mein erster Impuls. Zwanzigjährige darf man überhaupt nicht ins Gefängnis stecken! Es sei denn, sie haben sich eines schweren Gewaltverbrechens schuldig gemacht. Aber was heißt Gewalt? Und wo lebe ich denn, dass ich mir solche Ansichten leisten kann. Auf einer derzeit einigermaßen ruhigen Insel wohl in der Weltgeschichte - zwischen Workuta und Guantanamo. Das große Ganze und das einzelne Leben - Humanität wird da immer mit sich im Widerspruch sein. Mit historischen Zusammenhängen lässt sich fast alles erklären. Und Moral wird nicht selten auch bloß instrumentalisiert zu einem bestimmten politischen Zweck. Man sieht es ja jeden Tag: Den einen Staat bezichtigt man der Verletzung von Menschenrechten, dem anderen werden dafür Waffen geliefert. Wie mans braucht. Und trotzdem: Auch wenn überall auf der Welt junge Menschen in Kerkern sterben, was Edeltraud Eckert widerfuhr, wird dadurch nicht abgemildert. Es ist nicht gutzumachen. Was bleibt, ist Trauer. Wäre sie am Leben geblieben, um diese frühen Gedichte hätte sich niemand geschert. Aber vielleicht wäre sie eine große Schriftstellerin geworden. Ihren Texten merkt man an, wie sie mit sich gerungen hat. Immer wieder deutet sie Erkenntnisse an, die sie nicht näher benennt, auch dass sie sich, Rückschau haltend, »in vielen Dingen geändert habe«. Hesse zitiert sie, man müsse bereit sein zum Abschied und zum Neubeginn, »ohne Angst und ohne überschwängliche, strohfeuergleiche Begeisterung«. Sie will kein »wirklichkeitsfremder Idealist« mehr sein, aber sie bleibt, was Ines Geipel auch nicht erwähnt, bis zuletzt von einer tiefen Gläubigkeit. »Ich kämpfe nicht um Menschen«, schreibt sie bezugnehmend auf ihre Schwester Annemarie, die sie offenbar enttäuschte, »auch um dich nicht. Weißt du, ich habe verzichten gelernt, fast auf alles, auf eines nicht: Das Gut-sei...

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