»Uns selbst misstrauen«
Ilse Aichinger zum 80. Geburtstag
Hör gut hin, Kleiner,/ es gibt Weißblech, sagen sie,/ es gibt die Welt,/prüfe, ob sie nicht lügen.« So lesen wir im Gedicht »Verschenkter Rat« (1978). Die erste öffentliche Äußerung der gerade 24-jährigen Wiener Studentin Ilse Aichinger im Jahre 1946, das Gedicht »Verschenkter Rat«, war ein »Aufruf zum Mißtrauen«. Er stand quer zu den mehr oder weniger euphorischen Vorstellungen von einem Neuanfang in der »Stunde Null«. »Aufruf zum Mißtrauen - Ein Druckfehler?... Nein! ... Uns selbst müssen wir mißtrauen ... Kaum haben wir gewagt, wieder "du" zu sagen, haben wir es schon mißbraucht.«
Aichingers Werke sind von Anfang an - und bleiben es bis zu ihren jüngsten Texten in »Film und Verhängnis« - Aufforderungen zum Prüfen, zum Nichteinverstandensein mit den Verhängnissen, mit Lüge, Gewalt, Krieg, Zerstörung, Vernichtung, »Überrumpelung der eigenen Existenz«. Am Rande (»Gebirgsrand«, ein Gedichttitel) von Leben, Existenz und Sprache, wo die Worte »Flüchtigkeit« und »Verschwinden« ins Bewusstsein drängen, stellt sich Widerstand ein.
Das Schreiben Aichingers ist immer ein Trotzdem und, zunehmend, ein Sich-Beschränken. Reicht Sprache und wohin reicht sie? Bei Ilse Aichinger reicht sie vom Ende zum Anfang, vom Tod bis zur Geburt (»Spiegelgeschichte«). Sie reicht von der Welt der Erwachsenen bis zur Welt der Kinder, der Märchen und biblischen Gestalten (aber sie ist keine kindliche), zum »Mutterland«. Über die Vernichtung reicht sie zurück zu den Wurzeln des Judentums. In »Die größere Hoffnung« ist der Stern für beides Zeichen und Symbol. Die Sprache reicht von der Autorin hin zum aufmerksamen Leser (oder Hörer). Ilse Aichingers Texte sind explizit und implizit immer Dialoge oder vielstimmige Hör-»Spiele«. 1997 hat sie in einer Rede zum Erich-Fried-Preis für Gert Jonke mit dem Titel »Das Verhalten auf sinkenden Schiffen« gesagt: »Ich weiß nicht, ob man die Wahl hat, das Erzählen wiederzuentdecken. Die Sprache wählt die Person.« Was für die Sprache gilt, gilt auch für die Inhalte. Der Roman »Die größere Hoffnung« (ihr einziger) fand 1948 nur ein geringes Echo in Deutschland, mehr Unverständnis und Missdeutungen, falsche »Antworten« oder gar keine. Erst in jüngster Zeit gibt es genauere Lesarten.
Mit ihrer Autobiografie »Film und Verhängnis«, eine einzigartige Sicht auf das eigene Leben und ihre Lebenszeit, gibt uns die Autorin nun doch etwas mehr von sich preis. Zwischen dem ersten und dem letzten Buch hatte sie zunehmend immer weniger über sich selbst gesagt. Liest man ihre Texte genau, so fällt die Vielzahl von Fragen in ihnen auf.
»Die größere Hoffnung« schildert das Schicksal des rassisch verfolgten Mädchens Ellen in der Nazizeit. Die Hoffnung, noch auswandern und zu der im Exil lebenden Mutter gelangen zu können, zerschlägt sich. Das Kind mit zwei »richtigen« und zwei »falschen« Großeltern gehört nirgends hin, »es ist unnütz«. Die jüdische Großmutter nimmt sich das Leben. Auch zu den jüdischen Kindern (mit drei oder vier »falschen« Großeltern), die in Verstecken hausen, bis sie deportiert werden, gehört sie nicht. Ellen überlebt bis zum Kriegsende, wird dann aber bei den letzten Kämpfen von einer Granate in Stücke gerissen. Von der ersten Frage im Roman (»Viel zu viel Hoffnung. Wirklich, zuviel?«) spannt sich der Bogen zur letzten Frage und »größeren Hoffnung« am Ende: Ellen sieht das Gesicht des deportierten, wahrscheinlich schon ermordeten Freundes Georg. »Georg«, ruft sie, »die Brücke steht nicht mehr!« - »Wir bauen sie neu!« - »Wie soll sie heißen?« - »Die größere Hoffnung, unsere Hoffnung!«
Der Roman ist keine Autobiografie, aber er ist von der Biografie der Autorin gezeichnet. Geboren als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nichtjüdischen Lehrers, der sich von der Familie trennte, überlebte Ilse Aichinger die Nazizeit in Wien. Ihre Zwillingsschwester Helga und die Mutter konnten emigrieren. Die Großmutter und die jüngere Schwester der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. In ihrem Gedicht »Alter Blick« wird sie später schreiben: »Ich habe mich gewöhnt an dieses Fenster/ und daß der Schnee durch meine Augen fällt«, und weiter fragt sie: »aber wer ist den Verlorenen nachgegangen/ durch das offene Gartentor, / wer besiegelt, was da war, / die Regentonne/ und den Mond als Mond, /alle gefrorenen Gräser?«
Nicht für den Roman, sondern für die »Spiegelgeschichte« erhielt Ilse Aichinger 1952 den Preis der Gruppe 47. Sie schrieb zahlreiche Hörspiele (das bekannteste ist »Knöpfe«), einige zusammen mit ihrem Ehemann Günter Eich. Auch die Erzählungen und Dialoge warten geduldig, wieder gelesen zu werden: »Der Gefesselte«, »Spiegelgeschichte«, »Das Plakat«, »Das Fenster-Theater«, »Mein grüner Esel«, »Holzfahrscheine«, »Rede unter dem Galgen«, um nur einige zu nennen. Man sollte sie laut lesen. Jedes Wort ist wichtig. Je knapper die Texte wurden, desto deutlicher wurden ihre Chiffren. Von Metaphern zu sprechen, verbietet sich seit Paul Celans Verdikt (»Metapherngestöber«). Überhaupt ist die Korrespondenz zu Celans Gedichten deutlich, jedenfalls für einige Schreibjahre. Die Texte sind »Sprachgitter«, durch die Bilder hervorscheinen: Stern, Fenster, Schatten, Brücke, Spiele und Spiegel, oft gesprungen. Nun heißt es: »Die Erinnerung splittert.«
Ist der Film eine neu gefundene Chiffre? Fast scheint es so. »Keine Milderung, auch kein Ausweg: aber ein Ausblick. Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach: ich gehe ins Kino. Dort könnte sich eine brauchbare Chronologie entdecken lassen.« Filme, in ihrer Reihung von Bildern und Sentenzen, fügen sich zu einem Film- und Lebensbuch zusammen. Wie rettend ist das Kino angesichts der »Mediokrität politischer Instanzen«? Für Ilse Aichinger ist es die kleine Hoffnung, »übersehbaren Aussichtslosigkeiten fürs erste zu entkommen.«
Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer Verlag. 207 Seiten, gebunden, 18 DM.
Ebenfalls bei Fischer: eine achtbändige Taschenbuch-Ausgabe Ilse Aiching...
Aichingers Werke sind von Anfang an - und bleiben es bis zu ihren jüngsten Texten in »Film und Verhängnis« - Aufforderungen zum Prüfen, zum Nichteinverstandensein mit den Verhängnissen, mit Lüge, Gewalt, Krieg, Zerstörung, Vernichtung, »Überrumpelung der eigenen Existenz«. Am Rande (»Gebirgsrand«, ein Gedichttitel) von Leben, Existenz und Sprache, wo die Worte »Flüchtigkeit« und »Verschwinden« ins Bewusstsein drängen, stellt sich Widerstand ein.
Das Schreiben Aichingers ist immer ein Trotzdem und, zunehmend, ein Sich-Beschränken. Reicht Sprache und wohin reicht sie? Bei Ilse Aichinger reicht sie vom Ende zum Anfang, vom Tod bis zur Geburt (»Spiegelgeschichte«). Sie reicht von der Welt der Erwachsenen bis zur Welt der Kinder, der Märchen und biblischen Gestalten (aber sie ist keine kindliche), zum »Mutterland«. Über die Vernichtung reicht sie zurück zu den Wurzeln des Judentums. In »Die größere Hoffnung« ist der Stern für beides Zeichen und Symbol. Die Sprache reicht von der Autorin hin zum aufmerksamen Leser (oder Hörer). Ilse Aichingers Texte sind explizit und implizit immer Dialoge oder vielstimmige Hör-»Spiele«. 1997 hat sie in einer Rede zum Erich-Fried-Preis für Gert Jonke mit dem Titel »Das Verhalten auf sinkenden Schiffen« gesagt: »Ich weiß nicht, ob man die Wahl hat, das Erzählen wiederzuentdecken. Die Sprache wählt die Person.« Was für die Sprache gilt, gilt auch für die Inhalte. Der Roman »Die größere Hoffnung« (ihr einziger) fand 1948 nur ein geringes Echo in Deutschland, mehr Unverständnis und Missdeutungen, falsche »Antworten« oder gar keine. Erst in jüngster Zeit gibt es genauere Lesarten.
Mit ihrer Autobiografie »Film und Verhängnis«, eine einzigartige Sicht auf das eigene Leben und ihre Lebenszeit, gibt uns die Autorin nun doch etwas mehr von sich preis. Zwischen dem ersten und dem letzten Buch hatte sie zunehmend immer weniger über sich selbst gesagt. Liest man ihre Texte genau, so fällt die Vielzahl von Fragen in ihnen auf.
»Die größere Hoffnung« schildert das Schicksal des rassisch verfolgten Mädchens Ellen in der Nazizeit. Die Hoffnung, noch auswandern und zu der im Exil lebenden Mutter gelangen zu können, zerschlägt sich. Das Kind mit zwei »richtigen« und zwei »falschen« Großeltern gehört nirgends hin, »es ist unnütz«. Die jüdische Großmutter nimmt sich das Leben. Auch zu den jüdischen Kindern (mit drei oder vier »falschen« Großeltern), die in Verstecken hausen, bis sie deportiert werden, gehört sie nicht. Ellen überlebt bis zum Kriegsende, wird dann aber bei den letzten Kämpfen von einer Granate in Stücke gerissen. Von der ersten Frage im Roman (»Viel zu viel Hoffnung. Wirklich, zuviel?«) spannt sich der Bogen zur letzten Frage und »größeren Hoffnung« am Ende: Ellen sieht das Gesicht des deportierten, wahrscheinlich schon ermordeten Freundes Georg. »Georg«, ruft sie, »die Brücke steht nicht mehr!« - »Wir bauen sie neu!« - »Wie soll sie heißen?« - »Die größere Hoffnung, unsere Hoffnung!«
Der Roman ist keine Autobiografie, aber er ist von der Biografie der Autorin gezeichnet. Geboren als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nichtjüdischen Lehrers, der sich von der Familie trennte, überlebte Ilse Aichinger die Nazizeit in Wien. Ihre Zwillingsschwester Helga und die Mutter konnten emigrieren. Die Großmutter und die jüngere Schwester der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. In ihrem Gedicht »Alter Blick« wird sie später schreiben: »Ich habe mich gewöhnt an dieses Fenster/ und daß der Schnee durch meine Augen fällt«, und weiter fragt sie: »aber wer ist den Verlorenen nachgegangen/ durch das offene Gartentor, / wer besiegelt, was da war, / die Regentonne/ und den Mond als Mond, /alle gefrorenen Gräser?«
Nicht für den Roman, sondern für die »Spiegelgeschichte« erhielt Ilse Aichinger 1952 den Preis der Gruppe 47. Sie schrieb zahlreiche Hörspiele (das bekannteste ist »Knöpfe«), einige zusammen mit ihrem Ehemann Günter Eich. Auch die Erzählungen und Dialoge warten geduldig, wieder gelesen zu werden: »Der Gefesselte«, »Spiegelgeschichte«, »Das Plakat«, »Das Fenster-Theater«, »Mein grüner Esel«, »Holzfahrscheine«, »Rede unter dem Galgen«, um nur einige zu nennen. Man sollte sie laut lesen. Jedes Wort ist wichtig. Je knapper die Texte wurden, desto deutlicher wurden ihre Chiffren. Von Metaphern zu sprechen, verbietet sich seit Paul Celans Verdikt (»Metapherngestöber«). Überhaupt ist die Korrespondenz zu Celans Gedichten deutlich, jedenfalls für einige Schreibjahre. Die Texte sind »Sprachgitter«, durch die Bilder hervorscheinen: Stern, Fenster, Schatten, Brücke, Spiele und Spiegel, oft gesprungen. Nun heißt es: »Die Erinnerung splittert.«
Ist der Film eine neu gefundene Chiffre? Fast scheint es so. »Keine Milderung, auch kein Ausweg: aber ein Ausblick. Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach: ich gehe ins Kino. Dort könnte sich eine brauchbare Chronologie entdecken lassen.« Filme, in ihrer Reihung von Bildern und Sentenzen, fügen sich zu einem Film- und Lebensbuch zusammen. Wie rettend ist das Kino angesichts der »Mediokrität politischer Instanzen«? Für Ilse Aichinger ist es die kleine Hoffnung, »übersehbaren Aussichtslosigkeiten fürs erste zu entkommen.«
Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer Verlag. 207 Seiten, gebunden, 18 DM.
Ebenfalls bei Fischer: eine achtbändige Taschenbuch-Ausgabe Ilse Aiching...
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