Wenn die Eltern fremd werden
In Berlin wollen viele vietnamesische Kinder, statt zu Hause, im Kinderheim leben
Ein Blumenladen in Berlin-Lichtenberg. Eine Vietnamesin bindet einen Strauß und reicht ihn über den Ladentisch. »Fünf Euro 20.« Die Kundin bedankt sich, zahlt und verlässt den Laden. Vielleicht kam ihr die Verkäuferin etwas jung vor, vielleicht nicht. Gedanken wird sie sich kaum darüber machen. Huyen ist 16 Jahre alt und besucht die 10.Klasse einer Gesamtschule. Blumen verkauft sie am Wochenende.
»Meine Eltern zwingen mich nicht dazu, ich mache das freiwillig«, erzählt Huyen, während sie die Sträuße hinter dem Verkaufstisch umsteckt. Sonnabends und sonntags steht sie jeweils acht Stunden hinterm Ladentisch, erzählt sie. Und in den Ferien »so fünf oder sechs Stunden am Tag. Genau habe ich das noch nicht gezählt«.
Huyens Vater war Vertragsarbeiter in der DDR. Damals musste er Frau und Töchter in Vietnam zurücklassen. Und weil Vertragsarbeiter nach der Wende viele Jahre auf ein Familiennachzugsrecht warten mussten, konnte Huyen erst vor vier Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Deutschland kommen. Sie hat ihre Kindheit in Vietnam verlebt. Dort musste sie nicht arbeiten, erzählt sie. Die Erfahrung machte sie erst im reichen Deutschland. Und sie ist stolz, das Geld mitzuverdienen, das ihre Eltern den Großeltern in Vietnam schicken.
Huyen weiß, dass sie sich von ihren deutschen Klassenkameraden unterscheidet. »Die gehen am Wochenende zur Party. Und ich gehe zur Arbeit.« Aber, fügt sie hinzu, »ich komme damit klar und ich habe viel Freude bei der Arbeit«.
Ein paar Straßen weiter fährt Duc mit Rollerskatern um seinen Häuserblock. Der Junge ist elf Jahre alt und wurde in Berlin geboren. Arbeiten geht er nicht und das kann er sich auch nicht vorstellen. Aber er weiß, dass seine Eltern das von ihm erwarten werden - wenn die kleine Schwester zur Schule kommt und er sie nicht mehr jeden Tag aus der Kita abholen muss.
»Meine Mutter sagt mir immer, sie musste in Vietnam schon mit fünf Jahren an der Nähmaschine sitzen«, sagt der Junge im akzentfreien Deutsch. »Meine Eltern haben nur die Arbeit im Kopf. Nie gehen sie mit mir und meiner Schwester in den Tierpark oder ins Schwimmbad.« Und noch etwas anderes belastet den Jungen: »Sie verlangen immer, dass ich auf meine Schwester aufpassen soll. Nie darf ich zu Freunden. Die lachen mich inzwischen aus.«
Mit solchen kulturellen Konflikten in vietnamesischen Familien hat Monika Kunkel jeden Tag zu tun. Sie ist Sozialarbeiterin im Jugendamt Lichtenberg und dort für vietnamesische Kinder zuständig. 10000 Vietnamesen wohnen in Berlin. Das ist die größte vietnamesische Gemeinde bundesweit. Jeder dritte von ihnen wohnt in Lichtenberg.
Bei einer solchen Konzentration werden hier Probleme, die andernorts als Einzelfälle abgetan werden, am ehesten als kulturelle Konflikte wahrgenommen. Die Probleme der jungen Vietnamesen sind ganz andere als die anderer Zuwandererkinder: Sie sprechen in der Regel perfekt deutsch, haben gute Noten in der Schule und werden selten kriminell. Sie werden nicht einmal laut.
Mithilfe im elterlichen Geschäft wie bei Huyen ist hingegen eines der häufigsten Probleme. In der Regel wird das Jugendamt erst auf diese Jugendlichen aufmerksam, wenn ihnen die Bürde, die ihnen die Familien übertragen haben, zu schwer wird. Etwa, wenn sie in der Schule vor Übermüdung einschlafen oder wegen häufiger Fehltage gar die Schule abbrechen müssen. Zweimal schon hat das Jugendamt Lichtenberg vietnamesischen Eltern das Sorgerecht für ihre jugendlichen Kinder aberkennen müssen, weil sie die über die Maßen als kostenlose Arbeitskräfte missbrauchten.
Monika Kunkel erzählt von einem 16-jährigen Mädchen, das von seinem Vater extra aus Vietnam geholt wurde, um die beiden jüngeren Halbgeschwister zu versorgen. Der Vater hatte in Berlin eine neue Frau und zwei neue Kinder im Kindergartenalter. Die musste die große Tochter vor der Schule in die Kita bringen. Nach der Schule wartete der Einkauf, sie musste Essen kochen, die Kinder versorgen und ins Bett bringen.
Vater und Stiefmutter waren Händler. Wenn sie um 21 Uhr von der Arbeit kamen, musste das Essen auf dem Tisch stehen. Sie verlangten nicht aus Lieblosigkeit von ihrer Tochter, sie am Abend nach einem schweren Arbeitstag zu bedienen. Vielmehr ist es in Vietnam eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder ihren Eltern in der Familienhierarchie untergeordnet sind. Der Respekt vor den Älteren verlangt nach der konfuzianistischen Tradition, ihnen so viel Arbeit abzunehmen wie irgend möglich. In solchen Kulturen sind es nicht die Frauen, sondern die Kinder, deren Situation in der Familie problematisch ist.
»Noch schwieriger ist es bei den Kindern, die hier geboren und in der Kita sozialisiert wurden«, erzählt Monika Kunkel. »Weil sich die Eltern zu wenig mit ihnen beschäftigen, stehen sie deren Anforderungen und Wertvorstellungen völlig verständnislos gegenüber.« In Vietnam sind nicht die Eltern, sondern die Großeltern für die Kinderbetreuung zuständig, während es Aufgabe der Eltern ist, für die Großfamilie das Geld zu verdienen. Doch die Großeltern fehlen in Deutschland, so dass sich häufig niemand oder aber häufig wechselnde Personen um die Kinder kümmern.
Einige wenige Kinder haben deutsche Pflegegroßeltern, die sie ein- oder zweimal in der Woche betreuen. Die sind ihnen oft eine große moralische Stütze, und es entstehen Beziehungen über die Kindheit hinaus. Der traurigste Fall, mit dem Monika Kunkel befasst war, war ein fünfjähriges Mädchen, das sich abends auf der Straße verirrt hatte. Sie konnte der Polizistin, die sie nach Hause bringen wollte, weder den Namen ihrer Eltern noch ihre Adresse sagen. Hingegen wusste sie ganz genau, wo ihre Kita steht und welche Erzieherin sie dort betreut.
Oft sprechen Eltern und Kinder nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Die hier geborenen vietnamesischen Kinder verständigen sich auf Deutsch und beherrschen Vietnamesisch nur rudimentär. Bei den Eltern ist es umgekehrt. Monika Kunkel: »Immer wieder kommen solche Jugendlichen ganz allein ins Jugendamt und sagen, sie wollen nicht mehr bei den Eltern leben. Ich soll sie in einem Kinderheim unterbringen.«
Oft nimmt sich die Sozialarbeiterin Stunden Zeit, um zwischen Eltern und Kindern zu vermitteln. Doch es gab viele Fälle, in denen Heim oder eine betreute Wohngruppe für eine bestimmte Zeit die beste Lösung sind. Die Kinder fühlen sich zu Hause zu streng kontrolliert, sie dürfen keine Freizeitangebote wahrnehmen, sollen stattdessen immerfort lernen, auch in den Ferien. Sie sollen den Haushalt in der Regel allein versorgen und ab einem Alter von 12 oder 14 Jahren auch im Geschäft der Eltern helfen.
Christina Emmrich, die Bezirksbürgermeisterin von Lichtenberg, hat die Situation vietnamesischer Jugendlicher in ihrem Bezirk zur Chefsache gemacht. »Wir müssen zwei Dinge lösen: Erstens müssen wir die Eltern erreichen und mit ihnen über ihre Erziehungsstile diskutieren. Das ist Aufgabe des Jugendamtes. Zweitens müssen wir gemeinsam mit freien Trägern Freizeitangebote für diese Kinder und Jugendlichen entwickeln, insbesondere am Wochenende«, erklärt die PDS-Politikerin. Dazu startet derzeit im Stadtbezirk ein Projekt zur Wochenendbetreuung. Daran können Kinder nur teilnehmen, wenn ihre Eltern einer Familientherapie zustimmen.
Duc hat die Rollerskates abgeschnallt und geht nach Hause. Die Mutter ruft gerade auf seinem Handy an und fragt, warum er nicht zu Hause war und gelernt hat. »Ich lerne ja«, brummt er. Eigentlich hätte er sagen wollen, dass er nicht gut lernen kann, wenn die Mutter ihn unter Duck setzt. Aber ein vietnamesischer Junge widerspricht seinen Eltern nicht. Statt ins Mathebuch sieht er in einen Comic, bevor er die Schwester aus der Kita holt.
Die in Vietnam geprägte Huyen hat solche kulturellen Konflikte mit ihren Eltern nicht. Später will die Zehntklässlerin eine Ausbildung als Flugbegleiterin machen. Dass sie auch danach zugleich weiter im elterlichen Geschäft arbeiten wird, ist ihr selbstverständlich. »Da habe ich so viel Urlaub wie eine Deutsche. Ich kann doch nicht faulenzen...
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