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Lippenbekenntnisse

  • Klaus Jaschinski
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Morgen des 10. November 1938 starb Mustafa Kemal (Atatürk), der Begründer der modernen Türkei, in Istanbul. Sein Leichnam wurde im Rahmen der anschließenden Trauerfeierlichkeiten nach Ankara überführt, um ihn in einer zunächst eher provisorisch erbauten Grab- und Gedenkstätte beizusetzen. 15 Jahre später wurde er in ein neuerbautes Mausoleum, Anitkabir, umgebettet, das - auf einer Anhöhe Ankaras gelegen - zu einem Wallfahrtsort gedieh. Geboren am 12. März 1881 in Saloniki als Sohn einer Bauerntochter und eines Zollbeamten, begann er 1893 mit dem Eintritt in die dortige Militärschule seine militärische Laufbahn, die ihn rasch in Kontakt mit der Politik brachte. Seine Anlehnung an die reformorientierten Jungtürken währte jedoch nicht lange. Im Ersten Weltkrieg war er an fast allen Kriegsschauplätzen, doch auch die Glanztaten

des 1916 zum Brigadegeneral beförderten Kemal konnten nicht verhindern, daß das Osmanische Reich im Oktober 1918 zusammenbrach und auseinanderfiel.

Angesichts der anschließend drohenden kolonialen Versklavung des Landes, bei der das Regime des Sultans den Entente-Mächten offenbar noch zu assistieren gedachte, kehrte Atatürk dem Monarchen, den er bis dahin die Treue gehalten hatte, den Rücken. Er nutzte seine Vollmachten zur Formierung einer Befreiungsarmee, um sich der ausländischen Interventen und ihrer Handlanger im Lande zu erwehren. Mit diplomatischem Geschick und militärischem Können gelang es ihm und seinen Anhängern schließlich, das überkommene Regime zu Fall zu bringen und die Entente-Mächte zum Einlenken und Abzug zu bewegen.

Am 6. Oktober 1923 rückte der letzte Soldat der Entente aus Istanbul ab, am 29 Oktober erfolgte die amtliche Proklamation der Türkischen Republik, der Mustafa Kemal als Präsident vorstand - ein Amt, in das er noch dreimal (1927, 1931

und 1935) gewählt wurde. Maßgeblich inspiriert von den Entwicklungen in Westeuropa wollten Kemal und seine Anhänger den als hinderlich empfundenen islamischen Traditionen entsagen und die im Land allenthalben spürbare Rückständigkeit mittels gesellschaftlicher Radikalkur überwinden. Ein an westlichen Standards orientiertes modernes und prosperierendes Staatswesen sollte entstehen. Die Rolle des Agitators und Promotors übernahm dabei die »Volkspartei« (ab 1924 »Republikanische Volkspartei«), deren Vorsitz Kemal inne hatte. Ab 1934 ließ er sich Atatürk (Vater der Türken) nennen. Schlagworte wie Populismus, Säkularismus, Etatismus (ab 1929), Nationalismus, Reformismus und Republikanismus prägten und begleiteten den hier versuchten entwicklungspolitischen Kraft- und Balanceakt. Die Türken einschließlich der vielen im Land lebenden Nichttürken bekamen einen Staat im Gewand einer Entwicklungsdiktatur verordnet, der den meisten von ihnen, verglichen mit dem Sultanat, zweifellos Besseres bot, ihrer individuellen Betätigung und Entfaltung gleichwohl etliche Schranken setzte und Widerstand nicht tolerierte. Außenpolitisch galt der Grundsatz »Friede daheim, Friede in der Welt«.

Atatürk gehörte zu den wenigen Staatsmännern seiner Zeit, die Hitlers

»Mein Kampf« im deutschen Original gelesen hatten. 1934 prophezeite er dem amerikanischen General Douglas MacArthur während einer Unterredung, daß um 1940 in Europa ein großer Krieg von Deutschland entfesselt werde...

Nach Atatürks Tod waren seine Nachfolger zwar darauf bedacht, an seine Verdienste zu erinnern, entstellten aber auch zugleich seine Leitgedanken. Besonders kraß widerspiegelte sich dies auf außenpolitischem Gebiet. Im Sommer 1939 sorgte bereits die Abtretung des Sandschaks von Alexandrette an die Türkei durch Frankreich für reichlich Empörung in Syrien. Auch das Verhältnis zum Nachbarn Sowjetunion kühlte sich ab, vor allem im Gefolge der »Türkischen Krise« 1945/46 und nach dem Beitritt des Landes zur NATO 1952. Bald gab es kaum noch ein Nachbarland, das von Ankara nicht mit Vorhaltungen und Drohungen bedacht wurde. Die Türkei Atatürks war passe. Das Land frönte hegemonialen Ambitionen, profilierte sich als regionaler Störenfried. Soziale Gebrechen, Korruption und Vetternwirtschaft, gepaart mit Inkompetenz, Arroganz und Maßlosigkeit, kennzeichneten fortan das Land. Wenn heute türkische Politiker und Militärs den Kemalismus preisen, so sind dies nur Lippenbekenntnisse.

15. November 1923: Stabilisierung der deutschen Währung, Ende der Inflation in Deutschland. Ein Dollar war zuletzt zweieinhalb Billionen Reichsmark wert. 17. November 1558: Maria, Königin von England, auch »die Blutige« genannt, gestorben. Die Tochter Heinrichs VIII. und der Katharina von Aragonien verschaffte sich gewaltsam die Krone, die sie von 1553 bis 1558 trug. Den Beinamen »die Katholische« erhielt Maria, da sie den Protestantismus zu unterdrücken und den Katholizismus wieder einzuführen versuchte.

17. November 1858: Robert Owen, englischer Sozialreformer und Begründer des englischen Genossenschaftswesen, in Newton gestorben. Er engagierte sich maßgeblich für die Einschränkung der Kinderarbeit, für Arbeitsschutz, Volkserziehung, Armenfürsorge und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Seine Gesellschaftsvorstellungen fixierte er in seinem Werk »A New View of Society«. 19. November 1828: Franz Schubert, österreichischer Komponist, in Wien gestorben. Das 12. Kind einer aus Mähren eingewanderten Lehrerfamilie schuf er 1200 Werke und lebte doch in Armut.

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