Wilder Hund, blondes Schwein
Seit 15 Jahren liegt die Ostsee-Halbinsel Wustrow brach, weil sich die Gemeinde Rerik und Investoren nicht einigen können
Die Wirtin meiner Pension steht mit verschränkten Armen vor meinem Frühstückstisch: »Meine Tochter hat zu mir gesagt: "Mama, die wollen uns hier nicht. Wenn wir zu zehnt durch den Ort gehen und laute Musik hören, rufen die Touristen die Polizei an. Fühlen sich bedroht von uns." Warum? Es wird nichts gemacht für die Jungen, sie kriegen keine Räume. Einerseits jammern alle über Überalterung der Gesellschaft, andererseits werden Jugendliche wie Störfaktoren behandelt. Ich sage meiner Tochter immer, ihr müsst euch wehren.«
Ihre Söhne sind schon weggegangen von Rerik an der Ostseeküste, nach Hamburg. Die Tochter hat sich mit einem Realschulabschluss von 2,0 auf 50 Lehrstellen in der Region beworben. Nichts. Wer nicht in die Gastronomie will, der findet nichts; die kleinen Betriebe bilden nicht mehr aus.
Während die Wirtin Gäste bedient, blättere ich in der Lokalzeitung - eine strahlende 16-Jährige aus Kühlungsborn hat eine Stelle bekommen bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Viele Jungs wollen zum Militär oder dessen Fachschulen. Die 16-jährige Kühlungsbornerin jagt in zwei Jahren vielleicht Graffiti sprühende Jugendliche in Duisburg, die zu ihren Müttern sagen: Mama, die wollen uns hier nicht.
500000 Besuchern kommen jedes Jahr nach Rerik, in die kleinste Stadt Mecklenburgs zwischen Ostsee und Salzhaff. Ich sitze im »San Leone« am Haffplatz und probiere eine kleine Meerforelle. Der Inhaber Paolo Volpe möchte, dass ich andere Gerichte kennen lerne. Ein alter Mann steht in der Brandung. Sie tobt nicht gerade, doch die Luft frischt auf. Der Alte sagt, er geht auf Dorsch.
Ich sehe in Richtung Südwesten auf die Ostseehalbinsel Wustrow, die mit Rerik über eine schmale Nehrung, den Wustrower Hals, verbunden ist. Die Immobiliengruppe Fundus, die Fünf-Sterne-Hotels betreibt, hat das 1000 Hektar große Wustrow vor sieben Jahren vom Bundesvermögensamt gekauft. Wustrow ist menschenleer, seit die Sowjetarmee vor zwölf Jahren von dort abzog. Sie waren nicht die ersten Militärs auf der Halbinsel. Davor saß dort die Wehrmacht und drillte Soldaten für die Flugabwehr. Eine richtige Kasernenkleinstadt entstand - mit Kaufhaus, Kino, Krankenhaus, Casino und Post.
Davon sind nur noch leere, verfallende Gebäude übrig. Im Neuen Weltatlas ist Wustrow als Sperrgebiet rot umkreist und dementsprechend verlaufen meine ersten Gespräche im Gemeindeamt: »Schreiben Sie lieber über das schöne Rerik, in Wustrow ist doch nichts.« Dann rufe ich bei Fundus an. Ihr Sprecher sagt lapidar: »Tja, das Ferienangebot in Wustrow liegt auf Eis.«
Am nächsten Tag sitzt ein Stadtvertreter von Rerik, der ehemalige Antarktisforscher Klaus Feiler, neben mir in einem kleinen Pavillon über dem Meer. »Zunächst hatte Fundus ein korrektes Konzept: die 90 Häuser der Wustrower Wohnsiedlung sanieren, die russischen Baracken abreißen und die Flächen neu bebauen. Dann kamen die fünfte, die zehnte, die zwanzigste Überarbeitung. Zum Schluss kam raus: Aus 90 Häusern werden 330, aus dem 18-Loch- ein 27-Loch-Golfplatz. In der Kurve dort wollen sie die erste Luxuswohnsiedlung hinbauen, mit 2000-Quadratmeter-Grundstücken.«
Wie es weitergeht, weiß niemand, aber die Hoffnungen sind nicht mehr groß. Man hat schon zu viele Versprechungen gehört und zu viele Enttäuschungen erlebt. »Wenn die Investoren kommen und uns Arbeit versprechen«, sagt ein arbeitsloser Schlosser aus dem Nachbardorf, »dann steht es mir schon bis oben.«
Ähnlich desillusioniert äußert sich Reriks Vize-Bürgermeister Werner Blume (PDS), ein Antifaschist, der den Eindruck macht, dass er es gewohnt ist zu kämpfen. Er spricht von seinem Glück, irgendwann die richtigen Leute getroffen zu haben, die ihm das Richtige erklärt haben. »Wir haben 1945 und auch 1990 davon geträumt, dass die Stadt Rerik die Verantwortung für Wustrow übertragen bekommt. Aber es kam anders, nachdem alles, was mal dem Deutschen Reich gehörte, ins Bundesvermögen überging und das volkseigene Vermögen gleich mit.« Blume lacht sarkastisch und fügt hinzu: »Wir sind ja eigentlich ein Dorf, wir als Ort müssen dagegenhalten - gegen eine Entwicklung, die in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu einer Bebauung der Küste geführt hat, die letztlich feindlich ist.« Es gab zähe Verhandlungen zwischen Stadt und Investor über eine erträgliche Verkehrslösung zwischen Rerik und Wustrow. Sie scheiterten, 2003 sperrte daraufhin die Gemeinde Rerik den Verkehr auf die Halbinsel.
Das Wetter schlägt um. Innerhalb einer Stunde ist Rerik vom Regen leergefegt. Es dämmert, als ich mich zwischen Rerik und Wustrow umsehe und deutlich das Tier erkenne, bei dem Jäger wie Naturschützer gleichermaßen abwinken - den Marderhund. Ein wilder Hund, mit längerem schwarz-braun-gelbem Fell, der ursprünglich in den Waldgebieten Ostasiens lebte und nun immer weiter nach Westen vordringt. Ich verstehe, dass er keine Fressfeinde hat, und bin froh, als er abdreht. Er hat sich vor einigen Jahren auf Wustrow angesiedelt, wie ein großer Waschbär sah er aus. West drängt nach Ost, und Ost drängt nach West.
Für eine Stunde darf ich die Halbinsel Wustrow betreten. Seit 1994 ist die bewaldete Halbinsel Landschafts- und Naturschutzgebiet. Sie wird bewacht. 90 Häuser stehen dort, Ställe, Speicher, Bunker, der Tower des einstigen Flugplatzes und eine Gutsruine. Viel Pappelwald, ein alter Obstgarten, Weidenbuschreihen. Wustrow ist für viele gefährdete Pflanzen- und Tierarten ein Vorposten zur Erhaltung ihrer Art. »88 Vogelarten leben hier, 25 davon sind gefährdet und deshalb gesetzlich geschützt. Bei den Pflanzenarten sind fünf vom Aussterben bedroht, 62 gefährdet«, teilt ein Lokalblatt mit. Ein Zeugnis der 45-jährigen Präsenz der Sowjetarmee auf Wustrow sind blonde Wildschweine, eine Kreuzung von Haus- und Wildschweinen.
Abstecher nach Greifswald. Hier arbeitet Prof. Michael Succow in seinem Botanischen Institut. Er war der letzte Vize-Umweltminister der DDR. Ich will wissen, ob es üblich ist, dass gesetzlich geschützte Naturschutzgebiete privatisiert werden. »Der überwiegende Teil von Naturschutzgebieten, die im Besitz des Bundesvermögensamts waren, ist bereits verkauft«, sagt Succow. Noch eine Reihe von Naturschutzgebieten stehe auf der Verkaufsliste. »Überwiegend erleben wir, dass die Gebiete nach dem Erwerb durch Privatbesitzer in ihrer Substanz Schaden nehmen. Es gibt dann keine Beaufsichtigung mehr, so die Naturschutzgebiete entwertet werden.«
Nun möchte die Fundus-Gruppe nach Wustrow greifen. Im nahe gelegenen Heiligendamm bietet sie gemeinsam mit der Kempinski AG die Struktur an, die sie in Wustrow noch nicht hat. Die historischen Gebäude des alten Seebades Heiligendamm gehören Fundus; ein Luxus-Hotel ist in Betrieb. 2007 wird dort im Kempinski Grand Hotel der G 8-Weltwirtschaftsgipfel stattfinden. 1937 war das jüdische Unternehmen Kempinski »arisiert«, manche aus der Familie retteten sich ins Exil, andere wurden in Konzentrationslagern ermordet. Nach 1945 konnten die Verantwortlichen dieser Enteignung ihren Raub legalisieren, der bis heute die Existenzgrundlage des Unternehmens bildet. »Entspannen Sie in der Eleganz vergangener Zeiten«, steht im weißen Hotelprospekt.
Immerhin, beim G 8-Gipfel in zwei Jahren wird Präsident Bush wohl noch nicht mit den Mächtigen der Welt auf Wustrow flanieren. Die Sperbergrasmücke, der ...
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