»Ihr habt den Weißen Weißen geholfen!«

Der Alte am Little Bighorn: Häuptlingssohn Joseph Medicine Crow erinnert sich

Ein Indianer im College
In der Annahme, es sei billiger, die Indianer zu ernähren als zu bekämpfen, unterzeichneten Repräsentanten der USA 1868 in Fort Laramie/Wyoming einen Vertrag mit den Plains-Stämmen, denen damit große Gebiete in den heutigen Dakotas, in Montana, Wyoming und Nebraska als Reservationen zugeteilt wurden. Die Regierung garantierte, sie »gegen jegliche Übergriffe durch Bürger der vereinigten Staaten« zu beschützen, solange der Himmel blau ist, das Gras wächst, usw. Als sechs Jahre später Gold in den Black Hills gefunden wurde und Tausende von Glücksrittern das Indianerterritorium überschwemmten, versuchte die Regierung erfolglos, den Indianern das Land abzukaufen. Den Sioux und Cheyenne, die sich mit Überfällen gegen den Vertragsbruch wehrten und dazu auch ihre Reservationen verließen, wurde im Dezember 1875 vom Kommissar für indianische Angelegenheiten befohlen, bis Ende Januar 1876 zu ihren Agenturen zurückzukehren. Nachdem die Frist verstrichen war, bekam die Armee Order zur Zwangsdurchführung. Im Mai begann der Feldzug in drei parallelen Expeditionen. Lieutenant Colonel Custer, dem man im Bürgerkrieg den Ehrenrang »Brigadegeneral« verliehen hatte, sollte mit der 7. Kavallerie die feindlichen Stämme aufspüren.
Seine Truppe bestand aus etwa 600 Männern, die von Scouts der Crow und Arikaree unterstützt wurden - Stämme, die ebenfalls mit den Sioux und Cheyenne verfeindet waren. Als Custer sich dem Indianerdorf näherte, teilte er sein Kontingent in drei Abteilungen, behielt selbst 225 Kavalleristen unter seinem direkten Kommando. Einen Tag später, am 25.6.1876, wurden er und alle seine Männer getötet. Aus den beiden anderen Formationen unter Major Reno und Hauptmann Benteen fielen 47 Offiziere und Soldaten, 52 wurden verwundet: die größte militärische Niederlage der US-Armee bis zu dem Zeitpunkt.
Joseph Medicine Crow (88) wuchs als Abkömmling einer berühmten Linie von Crow-Häuptlingen bei seinem Großvater auf. Als erster Crow-Indianer machte er einen College-Abschluss. Er studierte Anthropologie und ist heute der offizielle Stammeshistoriker der Crow. Sein Buch »Mein Volk, die Krähenindianer - Die Stammesgeschichte der Absarokee« erschien auch auf Deutsch (Eugen Diederichs Verlag, München 1994). Zum 125. Jahrestag der Schlacht am Little Bighorn befragte ihn Rainer Klis (auf dem Foto rechts neben Joseph Medicine Crow) am Ort des Geschehens zur Rolle der Crow während der Indianerkriege und zur heutigen Situation in den Reservationen.

ND: Die traditionellen Geschichtenerzähler der Indianer sind tot. Sie aber konnten ihr Wissen noch von Großeltern übernehmen, die frei umhergezogen waren. Und Ihr Onkel, White-Man-Runs-Him, war General Custers bevorzugter Scout. Was er über die 7. Kavallerie berichtete, wollten viele amerikanische Historiker nicht glauben - z.B., dass Whiskey getrunken wurde, bevor man in den Kampf zog.

White-Man-Runs-Him war siebzehn Jahre alt, ein groß gewachsener Junge. Selbst im hohen Alter maß er zwei Meter. Custer war streng mit den Soldaten, aber seine Crow-Scouts hat er immer gut behandelt. Ich glaube, er verstand, dass sie noch Kinder waren, Jungs von sechzehn, siebzehn Jahren. Sie schauten aus nach den Feinden und entdeckten von diesem Platz, der heute »Ausguck der Crow« heißt, das Lager, den Rauch und die Pferde der Sioux. Custer konnte selbst durch sein Fernglas nichts erkennen. Sie sagten ihm, es ist dort! Also entschied er, in diese Richtung zu marschieren. Von diesem Punkt bis zum Little Bighorn sind es gut zwanzig Kilometer. Er kam runter, entlang dem Reno Creek. Im Tal rasteten sie, tränkten die Pferde. Sie aßen Zwieback zum Frühstück, als sechs Maultiere, beladen mit je zwei Fässern, herangeführt wurden. Die Soldaten kamen mit ihren Kaffeetöpfen und begannen zu trinken. Auch mein Onkel ging zu den Fässern und bekam eine gelbe Flüssigkeit, die aussah wie braunes Wasser. Ich trank davon, sagte er, und es war ekelhaft. Nach zwei oder drei Schlucken hörte ich auf. Meine Lippen wurden taub und ich hatte Lust, Lieder zu singen. Es war das erste Mal, dass wir Feuerwasser getrunken haben. Die Soldaten wurden verrückt davon. Wir fragten unseren Dolmetscher Mitch Bouyer, wie sie so etwas trinken konnten in dieser Situation.

ND: Mitch Bouyer? Seltsamer Name.

Er war halb Franzose, halb Sioux und er war mit einer Crow verheiratet. Er will die Soldaten tapfer machen, sagte er. Sie waren tapfer verrückt. So. Alle diese Schriftsteller, diese Biografen von Custer, leugnen, dass er im Dienst getrunken hat. Ein anderer Scout namens Curly erzählte seinem Enkel George, meinem Freund, dass Custer ihn mit einem Zettel zur letzten Gruppe zurück schickte, als sich der Zug dem »Ausguck der Crow« näherte. Er nahm den Zettel und ritt in diese Richtung an mehreren Kompanien vorbei und hielt bei der Tragtierkolonne am Schluss. Die Maultiere trugen Fässer an beiden Seiten, und die Soldaten tranken. Sie boten auch mir davon an, sagte er, aber ich wollte nicht.

ND: Wann haben sich die Crow-Scouts, die einzigen Überlebenden von Custers Truppe, abgesetzt?

Custer schickte Benteen nach Süden, um die feindlichen Indianer aufzuhalten, falls sie in diese Richtung fliehen sollten. Reno sollte geradeaus den Fluss entlang vorrücken und angreifen. Ich werde vom Norden kommen und sie schlagen, sagte Custer. Das war der Plan. Also trennten sie sich dort. Drei unserer Scouts gingen mit Reno, drei mit Custer.

ND: Und unter diesen, die mit Custer zogen, war Ihr Onkel?

Ja. Goes Ahead, Hairy Moccasin und White-Man-Runs-Him. - Wir kamen hinunter nach Cedar Coulee, sagte White- Man-Runs-Him. Wir hielten, und Custer schickte mich aus, um in das Tal zu spähen. Ich sprang auf mein Pferd und ritt auf den Hügel. Ich schaute auf das größte Lager, das ich je gesehen habe! Ich berichtete es Custer. Wir ritten zusammen hoch, und zum ersten Mal sah er, was dort war. Sein Gesicht wurde blass. Er hat nichts gesagt. Bei unserer Rückkehr zog Goes Ahead seine zerfetzte Uniform aus und legte seine indianische Kampfausrüstung an. Custer schaute ihn an und fragte, was macht der? - Er will wissen, was du machst, sagte der Dolmetscher. - Sag ihm, sagte Goes Ahead, dass wir in Kürze getötet werden. Er wird in die glücklichen Jagdgründe der weißen Männer gehen wie ein Soldat. Über eine Abkürzung. Ich werde in die ewigen Jagdgründe gehen als ein Crow-Krieger. Ich werde nicht des weißen Mannes Kleider tragen. Und Custer antwortete, okay; sag ihm, ich habe sie angeworben, damit sie mich zum Lager bringen. Sie haben das gemacht und können jetzt gehen. Und Mitch Bouyer sagte zu Goes Ahead, Junge, du hast Glück, er lässt dich gehen jetzt. Ich habe unterschrieben, ich muss bleiben.

ND: War Custer blind vor Ehrgeiz oder ist das ein willkommenes Image, um die Niederlage zu erklären? Wie sahen ihn die Scouts?

Sie haben ihn beraten, da oben, in Crows Nest. Dass er warten sollte, bis die anderen Truppen auftauchten. Er hörte nicht zu, wollte weitergehen. Dafür haben sie ihn als tapferen Mann betrachtet. Sie haben ihn nicht ungern gehabt und ihn nicht verachtet. Die Zeitungen haben ihn als Ruhmjäger usw. bezeichnet - das ist die Sprache der Weißen. Weiße haben das gesagt, nicht Indianer. Die Sioux hassen ihn auch nicht. Sie haben sogar Verständnis für ihn. Die Cheyenne haben Gründe, ihn zu hassen, nachdem er viele von ihnen in Oklahoma massakriert hatte. Als tapferen Gegner aber haben sie ihn geachtet. Sie empfanden, dass er eher wie ein Indianer als wie ein Weißer gekämpft hat. Er kämpfte auch, wenn er wusste, dass er nicht gewinnen konnte. Sie haben ihn »Gelbhaar« genannt. Wir nannten ihn »Sohn des Morgensterns«. Das ist ein ehrenhafter Name, ein Crow-Name!

ND: Viele in Europa fragen sich, warum die Crow der Armee halfen. War es, weil die Crow mit allen benachbarten Stämmen im Krieg lagen?

Das ist eine interessante Frage. Ich gebe dir eine interessante Antwort. 1825 hat die Regierung eine Delegation den Missouri hochgeschickt, die Frieden machen sollte mit den verschiedenen Stämmen. Es wurde ein Freundschaftsvertrag geschlossen. Beide Seiten erkannten an, dass, wenn eine Nation in Schwierigkeiten wäre, die andere ihr zu Hilfe käme. Wir haben den Vertrag gemacht, und die Crow haben ihn nie gebrochen.

ND: Und deshalb unterstützten sie die Weißen?

Als General Crook Repräsentanten schickte, um die Crow zu rekrutieren, sagten wir, na ja, wir haben eigene Probleme mit den Sioux, wir können unser Lager nicht allein lassen. Der Offizier sagte, ihr habt im Vertrag von 1825 versprochen, uns zu helfen, ihr müsst das jetzt tun. Und da haben wir gesagt okay, wir machen das. Der Rat der Häuptlinge erkor meinen Großvater Medicine Crow, um 176 Krieger zu Crook nach Wyoming zu bringen. Das waren keine Scouts, das waren Krieger. 176 Spitzenkrieger der Crow, Feinde der Sioux! Der Grund für unsere Teilnahme war Selbstschutz. Nutzen wir diese Weißen aus, sagten wir uns, um uns zu schützen. Wir wussten nicht, dass wir dadurch selbst geschlagen würden.

ND: Wie ist heute das Verhältnis zu den Cheyenne, den Lakota?

Die beschimpfen uns immer noch. Sie sagen, ihr seid zu nichts gut. Ihr habt den Weißen geholfen. Ihr seid Indianer, ihr solltet uns helfen. Sie vergessen, dass sie versucht haben, uns auszurotten.

ND: In meiner Heimatstadt wurde Karl May geboren, man bezeichnet ihn als Indianerschriftsteller. Kennen Sie ihn?

Karl May hat amerikanische Schriftsteller gelesen und versucht, von ihnen zu lernen. Er hat es nicht direkt bekommen wie du gerade. Trotzdem hat er das Interesse der Leute an den Indianern geweckt. Einiges in seinen Büchern ist gut, anderes voller Fehler.

ND: In Ihrem Buch preisen Sie das Land der Crow als das beste weit und breit. Ist das ein Dank für die Hilfe der Crow in den Indianerkriegen?

Die Weißen gaben uns nicht das Land, wir haben es behalten.

ND: Wie geht es den Crow heute?

Als ich jung war, gab es viele, die neunzig, hundert Jahre alt waren. Die Reservation hat uns krank gemacht. Schlechte Nahrung, manchmal keine. Seltsame Krankheiten erschienen. Tuberkulose. Heute bekommen wir Diabetes oder Krebs. Fast alle haben Diabetes.

ND: In manchen Sioux-Reservationen liegt die Lebenserwartung bei 40 Jahren, wie ist es hier?

Nicht ganz so schlimm, durchschnittlich um die Fünfzig. Aber das Problem ist überall das gleiche, auch in Florida unter den Seminolen. In Alaska und Kalifornien und Maine - Feuerwasser!

ND: Wie steht es um die gesundheitliche Betreuung?

Das Krankenhaus ist gut, alle Ausrüstungen werden vom Staat bezahlt. Das Problem ist, dass sie nur junge Ärzte schicken, und die üben dann an uns. Eine andere Sache ist, wir bekommen in der Reservation vielleicht eine bessere medizinische Versorgung als die allgemeine amerikanische Bevölkerung - 40 % aller Amerikaner sind nicht versichert. Solange wir in der Reservation sind, zahlt der Staat dafür. Wenn wir die Reservation verlassen, können wir es uns nicht leisten, uns zu versichern. Ich bekomme meine Medizin kostenlos, aber man muss auf die jungen Ärzte aufpassen.

ND: Und die Qualität der Schulen?

Die ersten wurden Ende des 19. Jahrhunderts von den Katholiken gegründet. Es gab auch andere christliche Schulen, z.B. von den Baptisten. Alle waren sehr streng, wollten die Indianer sofort in Weiße verwandeln und arbeiteten dabei mit der Regierung zusammen. Wir wurden in unserer Identität verwirrt. In den 1890er Jahren hat die Regierung Internate gegründet, und alle Kinder ab fünf Jahren sollten dahin gehen. Polizei wurde geschickt, wenn die Kinder nicht kamen. Sie wurden schlecht behandelt, missbraucht. Viele sind gestorben, und nicht nur durch Selbstmord. 1929 wurden diese Internate abgeschafft. Der Stamm trat Montana 55000 Acre Land ab, dessen Erträge der Staat für neue öffentliche Schulen verwenden sollte. Ich bin erst in einer baptistischen Schule gewesen, dann in einer öffentlichen. Letztes Jahr sind 300 Crow zu weißen Hochschulen gegangen. Das ist gut. Man muss aber die Regierung immer an Verträge erinnern. Sie neigt dazu, zu vergessen.

ND: Machen Sie dem Staat gegenüber Ansprüche geltend? Die Teton-Sioux zum Beispiel verlangen die Black Hills zurück?

Sie gehörten den Sioux, ihre Forderung ist berechtigt.

ND: Und die Crow?

Über unsere Ostgrenze gibt es Streit. Sie sollte am 103. Grad westlicher Länge verlaufen. Die Landvermesser der Regierung haben Fehler gemacht. Wir haben 56 000 Acres verloren und streiten uns darüber mit der Regierung. Die hat unser Land weggenommen und es den Ranchern und auch den Cheyenne gegeben. Es gibt Steinkohle da.

ND: Ihre Großmutter wurde 105 Jahre alt, Ihr Onkel überlebte Custers Truppe. Sie sind achtundachtzig. Kann ich da etwas lernen?

Mein Rat wäre, ein reines Leben zu führen, den Körper in gutem Zustand zu halten, nicht zu viel zu essen und zu schlafen, nicht zu viel zu arbeiten und nicht zu viel Sex zu haben. Na ja. Lass uns damit aufhören und was essen. Ich habe Appetit.

Gespräch: Rainer Klis

Ein Indianer im College
In der Annahme, es sei billiger, die Indianer zu ernähren als zu bekämpfen, unterzeichneten Repräsentanten der USA 1868 in Fort Laramie/Wyoming einen Vertrag mit den Plains-Stämmen, denen damit große Gebiete in den heutigen Dakotas, in Montana, Wyoming und Nebraska als Reservationen zugeteilt wurden. Die Regierung garantierte, sie »gegen jegliche Übergriffe durch Bürger der vereinigten Staaten« zu beschützen, solange der Himmel blau ist, das Gras wächst, usw. Als sechs Jahre später Gold in den Black Hills gefunden wurde und Tausende von Glücksrittern das Indianerterritorium überschwemmten, versuchte die Regierung erfolglos, den Indianern das Land abzukaufen. Den Sioux und Cheyenne, die sich mit Überfällen gegen den Vertragsbruch wehrten und dazu auch ihre Reservationen verließen, wurde im Dezember 1875 vom Kommissar für indianische Angelegenheiten befohlen, bis Ende Januar 1876 zu ihren Agenturen zurückzukehren. Nachdem die Frist verstrichen war, bekam die Armee Order zur Zwangsdurchführung. Im Mai begann der Feldzug in drei parallelen Expeditionen. Lieutenant Colonel Custer, dem man im Bürgerkrieg den Ehrenrang »Brigadegeneral« verliehen hatte, sollte mit der 7. Kavallerie die feindlichen Stämme aufspüren.
Seine Truppe bestand aus etwa 600 Männern, die von Scouts der Crow und Arikaree unterstützt wurden - Stämme, die ebenfalls mit den Sioux und Cheyenne verfeindet waren. Als Custer sich dem Indianerdorf näherte, teilte er sein Kontingent in drei Abteilungen, behielt selbst 225 Kavalleristen unter seinem direkten Kommando. Einen Tag später, am 25.6.1876, wurden er und alle seine Männer getötet. Aus den beiden anderen Formationen unter Major Reno und Hauptmann Benteen fielen 47 Offiziere und Soldaten, 52 wurden verwundet: die größte militärische Niederlage der US-Armee bis zu dem Zeitpunkt.
Joseph Medicine Crow (88) wuchs als Abkömmling einer berühmten Linie von Crow-Häuptlingen bei seinem Großvater auf. Als erster Crow-Indianer machte er einen College-Abschluss. Er studierte Anthropologie und ist heute der offizielle Stammeshistoriker der Crow. Sein Buch »Mein Volk, die Krähenindianer - Die Stammesgeschichte der Absarokee« erschien auch auf Deutsch (Eugen Diederichs Verlag, München 1994). Zum 125. Jahrestag der Schlacht am Little Bighorn befragte ihn Rainer Klis (auf dem Foto rechts neben Joseph Medicine Crow) am Ort des Geschehens zur Rolle der Crow während der Indianerkriege und zur heutigen Situation in den Reservationen.

ND: Die traditionellen Geschichtenerzähler der Indianer sind tot. Sie aber konnten ihr Wissen noch von Großeltern übernehmen, die frei umhergezogen waren. Und Ihr Onkel, White-Man-Runs-Him, war General Custers bevorzugter Scout. Was er über die 7. Kavallerie berichtete, wollten viele amerikanische Historiker nicht glauben - z.B., dass Whiskey getrunken wurde, bevor man in den Kampf zog.

White-Man-Runs-Him war siebzehn Jahre alt, ein groß gewachsener Junge. Selbst im hohen Alter maß er zwei Meter. Custer war streng mit den Soldaten, aber seine Crow-Scouts hat er immer gut behandelt. Ich glaube, er verstand, dass sie noch Kinder waren, Jungs von sechzehn, siebzehn Jahren. Sie schauten aus nach den Feinden und entdeckten von diesem Platz, der heute »Ausguck der Crow« heißt, das Lager, den Rauch und die Pferde der Sioux. Custer konnte selbst durch sein Fernglas nichts erkennen. Sie sagten ihm, es ist dort! Also entschied er, in diese Richtung zu marschieren. Von diesem Punkt bis zum Little Bighorn sind es gut zwanzig Kilometer. Er kam runter, entlang dem Reno Creek. Im Tal rasteten sie, tränkten die Pferde. Sie aßen Zwieback zum Frühstück, als sechs Maultiere, beladen mit je zwei Fässern, herangeführt wurden. Die Soldaten kamen mit ihren Kaffeetöpfen und begannen zu trinken. Auch mein Onkel ging zu den Fässern und bekam eine gelbe Flüssigkeit, die aussah wie braunes Wasser. Ich trank davon, sagte er, und es war ekelhaft. Nach zwei oder drei Schlucken hörte ich auf. Meine Lippen wurden taub und ich hatte Lust, Lieder zu singen. Es war das erste Mal, dass wir Feuerwasser getrunken haben. Die Soldaten wurden verrückt davon. Wir fragten unseren Dolmetscher Mitch Bouyer, wie sie so etwas trinken konnten in dieser Situation.

ND: Mitch Bouyer? Seltsamer Name.

Er war halb Franzose, halb Sioux und er war mit einer Crow verheiratet. Er will die Soldaten tapfer machen, sagte er. Sie waren tapfer verrückt. So. Alle diese Schriftsteller, diese Biografen von Custer, leugnen, dass er im Dienst getrunken hat. Ein anderer Scout namens Curly erzählte seinem Enkel George, meinem Freund, dass Custer ihn mit einem Zettel zur letzten Gruppe zurück schickte, als sich der Zug dem »Ausguck der Crow« näherte. Er nahm den Zettel und ritt in diese Richtung an mehreren Kompanien vorbei und hielt bei der Tragtierkolonne am Schluss. Die Maultiere trugen Fässer an beiden Seiten, und die Soldaten tranken. Sie boten auch mir davon an, sagte er, aber ich wollte nicht.

ND: Wann haben sich die Crow-Scouts, die einzigen Überlebenden von Custers Truppe, abgesetzt?

Custer schickte Benteen nach Süden, um die feindlichen Indianer aufzuhalten, falls sie in diese Richtung fliehen sollten. Reno sollte geradeaus den Fluss entlang vorrücken und angreifen. Ich werde vom Norden kommen und sie schlagen, sagte Custer. Das war der Plan. Also trennten sie sich dort. Drei unserer Scouts gingen mit Reno, drei mit Custer.

ND: Und unter diesen, die mit Custer zogen, war Ihr Onkel?

Ja. Goes Ahead, Hairy Moccasin und White-Man-Runs-Him. - Wir kamen hinunter nach Cedar Coulee, sagte White- Man-Runs-Him. Wir hielten, und Custer schickte mich aus, um in das Tal zu spähen. Ich sprang auf mein Pferd und ritt auf den Hügel. Ich schaute auf das größte Lager, das ich je gesehen habe! Ich berichtete es Custer. Wir ritten zusammen hoch, und zum ersten Mal sah er, was dort war. Sein Gesicht wurde blass. Er hat nichts gesagt. Bei unserer Rückkehr zog Goes Ahead seine zerfetzte Uniform aus und legte seine indianische Kampfausrüstung an. Custer schaute ihn an und fragte, was macht der? - Er will wissen, was du machst, sagte der Dolmetscher. - Sag ihm, sagte Goes Ahead, dass wir in Kürze getötet werden. Er wird in die glücklichen Jagdgründe der weißen Männer gehen wie ein Soldat. Über eine Abkürzung. Ich werde in die ewigen Jagdgründe gehen als ein Crow-Krieger. Ich werde nicht des weißen Mannes Kleider tragen. Und Custer antwortete, okay; sag ihm, ich habe sie angeworben, damit sie mich zum Lager bringen. Sie haben das gemacht und können jetzt gehen. Und Mitch Bouyer sagte zu Goes Ahead, Junge, du hast Glück, er lässt dich gehen jetzt. Ich habe unterschrieben, ich muss bleiben.

ND: War Custer blind vor Ehrgeiz oder ist das ein willkommenes Image, um die Niederlage zu erklären? Wie sahen ihn die Scouts?

Sie haben ihn beraten, da oben, in Crows Nest. Dass er warten sollte, bis die anderen Truppen auftauchten. Er hörte nicht zu, wollte weitergehen. Dafür haben sie ihn als tapferen Mann betrachtet. Sie haben ihn nicht ungern gehabt und ihn nicht verachtet. Die Zeitungen haben ihn als Ruhmjäger usw. bezeichnet - das ist die Sprache der Weißen. Weiße haben das gesagt, nicht Indianer. Die Sioux hassen ihn auch nicht. Sie haben sogar Verständnis für ihn. Die Cheyenne haben Gründe, ihn zu hassen, nachdem er viele von ihnen in Oklahoma massakriert hatte. Als tapferen Gegner aber haben sie ihn geachtet. Sie empfanden, dass er eher wie ein Indianer als wie ein Weißer gekämpft hat. Er kämpfte auch, wenn er wusste, dass er nicht gewinnen konnte. Sie haben ihn »Gelbhaar« genannt. Wir nannten ihn »Sohn des Morgensterns«. Das ist ein ehrenhafter Name, ein Crow-Name!

ND: Viele in Europa fragen sich, warum die Crow der Armee halfen. War es, weil die Crow mit allen benachbarten Stämmen im Krieg lagen?

Das ist eine interessante Frage. Ich gebe dir eine interessante Antwort. 1825 hat die Regierung eine Delegation den Missouri hochgeschickt, die Frieden machen sollte mit den verschiedenen Stämmen. Es wurde ein Freundschaftsvertrag geschlossen. Beide Seiten erkannten an, dass, wenn eine Nation in Schwierigkeiten wäre, die andere ihr zu Hilfe käme. Wir haben den Vertrag gemacht, und die Crow haben ihn nie gebrochen.

ND: Und deshalb unterstützten sie die Weißen?

Als General Crook Repräsentanten schickte, um die Crow zu rekrutieren, sagten wir, na ja, wir haben eigene Probleme mit den Sioux, wir können unser Lager nicht allein lassen. Der Offizier sagte, ihr habt im Vertrag von 1825 versprochen, uns zu helfen, ihr müsst das jetzt tun. Und da haben wir gesagt okay, wir machen das. Der Rat der Häuptlinge erkor meinen Großvater Medicine Crow, um 176 Krieger zu Crook nach Wyoming zu bringen. Das waren keine Scouts, das waren Krieger. 176 Spitzenkrieger der Crow, Feinde der Sioux! Der Grund für unsere Teilnahme war Selbstschutz. Nutzen wir diese Weißen aus, sagten wir uns, um uns zu schützen. Wir wussten nicht, dass wir dadurch selbst geschlagen würden.

ND: Wie ist heute das Verhältnis zu den Cheyenne, den Lakota?

Die beschimpfen uns immer noch. Sie sagen, ihr seid zu nichts gut. Ihr habt den Weißen geholfen. Ihr seid Indianer, ihr solltet uns helfen. Sie vergessen, dass sie versucht haben, uns auszurotten.

ND: In meiner Heimatstadt wurde Karl May geboren, man bezeichnet ihn als Indianerschriftsteller. Kennen Sie ihn?

Karl May hat amerikanische Schriftsteller gelesen und versucht, von ihnen zu lernen. Er hat es nicht direkt bekommen wie du gerade. Trotzdem hat er das Interesse der Leute an den Indianern geweckt. Einiges in seinen Büchern ist gut, anderes voller Fehler.

ND: In Ihrem Buch preisen Sie das Land der Crow als das beste weit und breit. Ist das ein Dank für die Hilfe der Crow in den Indianerkriegen?

Die Weißen gaben uns nicht das Land, wir haben es behalten.

ND: Wie geht es den Crow heute?

Als ich jung war, gab es viele, die neunzig, hundert Jahre alt waren. Die Reservation hat uns krank gemacht. Schlechte Nahrung, manchmal keine. Seltsame Krankheiten erschienen. Tuberkulose. Heute bekommen wir Diabetes oder Krebs. Fast alle haben Diabetes.

ND: In manchen Sioux-Reservationen liegt die Lebenserwartung bei 40 Jahren, wie ist es hier?

Nicht ganz so schlimm, durchschnittlich um die Fünfzig. Aber das Problem ist überall das gleiche, auch in Florida unter den Seminolen. In Alaska und Kalifornien und Maine - Feuerwasser!

ND: Wie steht es um die gesundheitliche Betreuung?

Das Krankenhaus ist gut, alle Ausrüstungen werden vom Staat bezahlt. Das Problem ist, dass sie nur junge Ärzte schicken, und die üben dann an uns. Eine andere Sache ist, wir bekommen in der Reservation vielleicht eine bessere medizinische Versorgung als die allgemeine amerikanische Bevölkerung - 40 % aller Amerikaner sind nicht versichert. Solange wir in der Reservation sind, zahlt der Staat dafür. Wenn wir die Reservation verlassen, können wir es uns nicht leisten, uns zu versichern. Ich bekomme meine Medizin kostenlos, aber man muss auf die jungen Ärzte aufpassen.

ND: Und die Qualität der Schulen?

Die ersten wurden Ende des 19. Jahrhunderts von den Katholiken gegründet. Es gab auch andere christliche Schulen, z.B. von den Baptisten. Alle waren sehr streng, wollten die Indianer sofort in Weiße verwandeln und arbeiteten dabei mit der Regierung zusammen. Wir wurden in unserer Identität verwirrt. In den 1890er Jahren hat die Regierung Internate gegründet, und alle Kinder ab fünf Jahren sollten dahin gehen. Polizei wurde geschickt, wenn die Kinder nicht kamen. Sie wurden schlecht behandelt, missbraucht. Viele sind gestorben, und nicht nur durch Selbstmord. 1929 wurden diese Internate abgeschafft. Der Stamm trat Montana 55000 Acre Land ab, dessen Erträge der Staat für neue öffentliche Schulen verwenden sollte. Ich bin erst in einer baptistischen Schule gewesen, dann in einer öffentlichen. Letztes Jahr sind 300 Crow zu weißen Hochschulen gegangen. Das ist gut. Man muss aber die Regierung immer an Verträge erinnern. Sie neigt dazu, zu vergessen.

ND: Machen Sie dem Staat gegenüber Ansprüche geltend? Die Teton-Sioux zum Beispiel verlangen die Black Hills zurück?

Sie gehörten den Sioux, ihre Forderung ist berechtigt.

ND: Und die Crow?

Über unsere Ostgrenze gibt es Streit. Sie sollte am 103. Grad westlicher Länge verlaufen. Die Landvermesser der Regierung haben Fehler gemacht. Wir haben 56 000 Acres verloren und streiten uns darüber mit der Regierung. Die hat unser Land weggenommen und es den Ranchern und auch den Cheyenne gegeben. Es gibt Steinkohle da.

ND: Ihre Großmutter wurde 105 Jahre alt, Ihr Onkel überlebte Custers Truppe. Sie sind achtundachtzig. Kann ich da etwas lernen?

Mein Rat wäre, ein reines Leben zu führen, den Körper in gutem Zustand zu halten, nicht zu viel zu essen und zu schlafen, nicht zu viel zu arbeiten und nicht zu viel Sex zu haben. Na ja. Lass uns damit aufhören und was essen. Ich habe Appetit.

Gespräch: Rainer Klis


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