Des Kaisers Chirurg
Johannes K. Soyener macht die Napoleonzeit lebendig
Titel und vor allem Schutzumschläge geben heute kaum noch verlässliche Auskunft über den Inhalt eines Buches. Aber nicht oft findet man eine so konsequente Verschleierung wie hier. Was kann der Leser hinter dem Titel »Der Schatten des Kaisers« erwarten, wenn der Umschlag zwei ruhende Hände zeigt, umgeben von rotem Samt? Erwarten kann er unmöglich das, was der Roman von Johannes K. Soyener tatsächlich bietet: Das dramatische Leben des Chirurgen Baron Jean-Dominique Larrey. Napoleon nannte ihn in seinem Testament den »redlichsten und tugendhaftesten Mann, den ich je kennen gelernt habe«. Der Name Larrey steht eingemeißelt auf der Ehrentafel am Arc de Triomphe mitten unter den Generälen.
Wer war Larrey? Geboren wurde er in den Hochpyrenäen 1766 in schlichten familiären Verhältnissen. Durch Vermittlung eines Onkels konnte er in Toulouse Medizin studieren. Mit 21 Jahren trat er mit dem Patent eines »Chirurgien major« in die königliche Kriegsmarine ein und sammelte als Schiffsarzt erste Erfahrungen. Als Wundarzt in Paris erlebte er die Revolution. Er nahm als unmittelbarer Zeuge vor allem das Pöbelhafte und die Wendemanöver seiner Zeitgenossen wahr, weniger den großen Umbruch der Gesellschaft.
Es charakterisierte bereits in dieser Phase sein Wesen, dass er sich mit Leidenschaft auf seine Aufgabe als Arzt konzentrierte. Er vereinte früh in seinen Handlungen die Fähigkeit des guten Chirurgen zur unvermeidlichen Härte, schnelle Entschlusskraft, herausragendes Organisationstalent, dies alles inspiriert von hohen humanistischen Idealen.
In den Feldzügen der Rheinarmee 1792 entwickelte Larrey seine berühmten Grundzüge der Kriegschirurgie. Dazu gehörte der unverzügliche Rücktransport der Verletzten in dafür ausgestalteten Kastenwagen, den »Ambulances volantes«. Dazu gehörte vor allem die 24-Stunden-Regel, die bis heute für Schwerverletzte gilt: Chirurgische Behandlungen müssen innerhalb von 24 Stunden nach Verwundung erfolgen. Diese Auffassung war nicht leicht durchzusetzen, widersprach sie doch bisherigen Auffassungen seiner Kollegen. Larrey war ein begnadeter Chirurg, im Stande, innerhalb von Sekunden eine Amputation durchzuführen, was vor allem dem Patienten zugute kam, der solche Eingriffe ohne Betäubung zu bestehen hatte. Notfalls vermochte Larrey auf dem Schlachtfeld zu operieren. Wer da durch Säbelhieb zerhauen, von einer Kanonenkugel zerschmettert in seinem Blute lag, galt ihm gleichviel, ob Mameluck, ob Brite, ob Offizier der Garde oder schlichter Trompeter. Nicht selten verärgerte er damit Napoleons Generäle, war dafür in allen feindlichen Ländern ein geachteter Mann. Am höchsten geschätzt wurde er freilich von den zahlreichen Invaliden, denen seine Eingriffe das Leben gerettet hatten.
Dies alles erfährt der Leser in farbigen Erzählungen. Larrey hat alle 24 Feldzüge Napoleons begleitet. Er beobachtete mit tiefer Sorge dessen Verwandlung vom »Bürger« Napoleon Bonaparte zum Kaiser, vom genialen Verteidiger der Revolution zum größenwahnsinnigen Usurpator. An seiner Loyalität hat das nichts geändert. Er war dabei, als Napoleon die Armee nach Ägypten unter die Pyramiden führte, bedroht nicht nur von Wassermangel, auch von Pest und Syphilis. Und während des Feldzugs nach Russland amputierte er bei minus 16° Celsius ...
Soyener überzeichnet seinen Helden nicht. Larrey war extrem ehrgeizig und karrierebewusst. Als er aus armen Verhältnissen nach Paris kam, ertrug er seine soziale Deklassierung in dieser Welt der Schönen und Reichen nur schwer. Das verleitete ihn zu strafbaren chirurgischen Eingriffen, die ihm schnell Geld brachten. Er brach schließlich diese Geschäfte ab. Nicht nur, dass er erpressbar wurde, dass er sich Feinde fürs Leben zugezogen hatte, er selbst litt unter seiner Verfehlung. Das Bewusstsein, keimendes Leben getötet zu haben, bildete die dunkle Folie seiner so leidenschaftlichen Motivation, Leben zu retten.
Larrey war ohne Frage ein attraktiver Mann, hatte Amouren und heiratete in wohlhabende konservative Kreise hinein. Sein Schwiegervater war Finanzminister unter Ludwig XVI. gewesen. Er ließ den 28-jährigen Wundarzt seine Verachtung spüren. Dass dieser kein idealer Familienvater wurde, liegt auf der Hand. Wenn Larrey zwischen zwei Feldzügen in Paris weilte, gab er sich unruhig und tyrannisch, gewöhnt an das Anordnen, das zu seinem Amte gehörte.
Soyener hat in seinen Romanen stets durch sorgfältige Recherchen zu beeindrucken gewusst. Seine Sachkenntnis wusste er für Leser zum Erlebnis zu machen. In diesem Sinne ist auch der neue Roman ein staunenswertes Buch. Die ungeheure Menge des Faktischen, destilliert aus den überlieferten Materialien der vielfigurigen welthistorischen Feldzüge, wird selbst für den, der sich halbwegs damit auskennt, zum neu bestürzenden Geschehen. Dieses gewinnt seine mitreißende menschliche Wertung dadurch, dass aus der Sicht eines Arztes erzählt wird. Larrey hat selbst ein Buch der »Denkwürdigkeiten« verfasst. Historische Schilderungen liegen dem Roman zu Grunde. Doch Soyener findet eine eigene Sprache, eine Diktion ohne Pathos und Sentimentalität. Dieser epische Erzählton des Berichtens regt die Fantasie des Lesers mehr an, zieht ihn nachhaltiger in die Szene, als es effektsetzende dramatische Behandlung könnte. Die Charaktere erschließen sich aus ihrem Tun. Der Begriff des Helden ist heute diskreditiert, aber wenn man diesem Wort noch einmal seine ursprüngliche Bedeutung verleihen wollte, Bedeutung, auf die wir leider zu verzichten gelernt haben, mit dem Chefchirurgen Jean-Dominique Larrey wäre einer vorgestellt: Kein Ritter ohne Furcht und Tadel, dafür ein Mann, der nie zögert, Leben zu retten, immer wieder, solang es gehen muss.
Soyener entlässt Larrey aus des Lesers Blickfeld, als er, ein würdevoller Greis, 74-jährig, hinter dem Sarkophag Napoleons herschreitet. Die Bourbonen beanspruchten 1840 aus politischen Gründen das symbolische Erbe des Kaisers und ließen seine leiblichen Reste in einer pompös inszenierten Feier nach Paris heimholen. Larrey sieht sich unvermittelt über den Sarkophag hinweg seinem Erzfeind Marschall Soult Aug in Aug gegenüber. Beid...
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