Momente für die Ewigkeit

Das Photogemälde von Christine Radack

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.
Die Fotografin Christine Radack ist eine Optimistin, ein Gegenwartsmensch mit Sinn für schöne alte und immer wieder neue Dinge. In ihrem kleinen Haus nahe der Oder hat sie sich zusammen mit ihrem Mann, dem Bildhauer Rainer Radack, einen bescheidenen, aber wunderschönen Lebens- und Arbeitsraum gesucht, der wie geschaffen ist für ihre künstlerische Arbeit: umgeben von der freien Natur, der herben Landschaft mit dem hohen, sich stets verändernden Himmel - nachts eine große Sternenglocke überm flachen Land, in der Nähe der Fluss, der Grenze markiert und an Lebenslauf erinnert, auch schon einmal vor gar nicht langer Zeit zur Bedrohung wurde. Als ich sie aufsuche, sind wir sehr schnell im Gespräch. Christine Radack ist ein Mensch, der Freunde, Nachbarn und Besucher sofort und offen in ihren Lebensbereich mit einbezieht, in alles ihr Wichtige, die Arbeit, die Natur, den Garten - mitsamt ihren Katzen, die sie besonders liebt. Das gehört zu ihrem Wesen und zu ihrem Beruf als Kunstfotografin.
»Wie oft hast du eigentlich immer wieder neu angefangen«, frage ich sie. Das ist schwer zu sagen. Schon einige Male, vor allem nach der »Wende«, gab es Neuanfänge, »Existenzgründungen«, wie man das heute so nennt, aber Christine Radack hat dabei stets auf Vorausgegangenem aufbauen können. Die Ideen wurden aus den Erfahrungen und erworbenen Fähigkeiten gewonnen. »Erinnern« und »Bewahren« sind Worte (und Inhalte), die ihr wichtig sind, die man aber auch in ihren Ausstellungskatalogen lesen kann. Sie fallen einem einfach ein, wenn man ihre Bilder betrachtet.
Ja, ein wichtiger und hoffnungsvoller Neuanfang war die Gründung der Fotogalerie MANDALA 1991 in Pankow-Niederschönhausen - auch die Verwirklichung eines lange gehegten Traumes. Damals habe ich Christine Radack kennen gelernt in ihrer Galerie in den ehemaligen Ladenräumen am Berliner Stadtrand, umgeben von den Bildern, hübschen Dingen, vielen Künstlern und Kunstliebhabern aus ganz Berlin. Von Gesprächen, Videovorführungen und vor allem von den erlesenen Schwarz-Weiß-Fotos nahmen alle Anregungen mit nach Hause. Vor uns liegt der Katalog der ersten Gemeinschaftsausstellung unter dem Motto »Kindheit«. Ich blättere und lese darin: »Liebe Christine, in einer Zeit der Super-Highlights hast Du Deine schöne und von uns allen gebrauchte Ausstellung gemacht ... Ohne Spekulationen jeder Unart hast Du hier poetische, innige (ich gebrauche dieses altmodisch gewordene Wort gern) und wesentlich wirkende Bilder gesammelt. Die Ausstellung ist durch Dein Wesen, Deine Kenntnis ausdrücklich geprägt - und das macht sie besonders.« Es sind Sätze der Fotografin Brigitte Braune. Die Galeristin selbst schreibt im Vorwort: »Der wichtigste Teil der Ausrüstung (des Fotografen S. N.) ist man selbst: der bewegliche Körper, die Kreativität und die Freiheit, beides zu nutzen.« Das Wort Amateur, schreibt sie weiter, kommt von amator, Liebhaber. Insofern sollte der Fotograf Amateur sein, ein Mensch, der etwas aus Liebe zur Sache tut und »nicht aus ökonomischen Gründen und Zwängen«.
Ich blättere weiter, sehe die Bilder bekannter Fotografinnen und Fotografen wie Evelyn Richter, Helga Paris, Ursula Arnold oder Christine Radack selbst, die meisten aus der ehemaligen DDR. Alle hatten eine solide Ausbildung (waren also nicht nur Amateure im genannten Wortsinn). Die Kindheitsbilder zeugen von einem ruhigen, kritischen, poetisch-einfühlsamen Foto-Blick. Bilder, die in Augenblicken frühe Lebens-Geschichten festhalten, Bilder, die innehalten, die die Zeit für einen Moment anhalten und nun längst Vergangenes aus einem kleinen, untergegangenen Land aufbewahren. Heute wäre hinzuzufügen, dass einigen der Künstler und Künstlerinnen nun endlich die ihnen zustehende Anerkennung zuteil wird. Christine Radack hat damals in der Galerie schon auf deren Qualität gesetzt.
Brigitte Voigt nimmt mit ihren Worten Kommendes vorweg: Die »Zeit der Super-Highlights« ist zur Zeit der digitalen Bilderfluten geworden, die uns mitreißen wie ein Strom, Kahlschlag hinterlassen, Erinnerungen tilgen. Wir brauchen sie, die Menschen, die der Zeit »ohne Spekulationen jeder Unart« in den Arm fallen. »Die Technik überwindet die vergängliche Zeit und macht sie für die Nachwelt und den Betrachter sichtbar. Eine Möglichkeit der Mitteilung und Erinnerung«, sagt Christine Radack heute noch so wie vor mehr als zehn Jahren. Ihre eigene Fotografie versteht sie so. »Fotogemälde« nennt sie nun ihre Bilder. Und sie formuliert noch schlichter und einfacher ihr Anliegen ohne alle Spekulation: »Ich will immer ein Bild herstellen.« Dazu muss man wissen, dass Christine Radack auch (Kunst-)Malerin ist.

MANDALA
Bei Christine Radack ist das kein Modewort. Der Name war mit Bedacht gewählt, verkörperte Konzentration auf Wesentliches, die »Mitte des Lebens«, und zugleich dialogisches Prinzip, Hell-Dunkel (Schwarz-Weiß-Fotografie). Christine Radack verwirklichte sich in diesen Jahren noch einen zweiten Traum, eine Studienreise nach China. Mit der Ausstellung »Peking im Winter« ließ sie die Besucher der Galerie daran teilhaben. Die Fotos der Reise sind ein wertvoller Schatz. Die Fotogalerie gibt es nicht mehr. In hoffnungsvollen Nach-Wende-Zeiten gegründet, machte ihr Geldmangel nach ein paar Jahren ein Ende. Geblieben sind die drei Kataloge der Gemeinschaftsausstellungen: »Kindheit« (1991), »Emotion« (1992) und »Mensch und Tier in der Stadt« (1993) mit poetischen Bildern und Texten, geblieben sind Erinnerungen an andere Ausstellungen und Galerieveranstaltungen, die immer Tore zur Welt öffneten, bis nach Ägypten, Kasan, Lukanien oder Südostasien. Geblieben sind die vielen Bilder voller Alltagspoesie oder magischer Fremdheit, schwarz-weiß oder sepiafarben auf Papier gebannt oder ins Gedächtnis geprägt. Geblieben sind Erfahrungen und Freundschaften, auch unsere. Sie führten zu neuen Begegnungen.
Christine Radack trauert den Verlusten nicht nach, sie bewahrt und findet immer wieder Neues - manchmal kleine, unspektakuläre Dinge. Das Leben ist längst auch zum Lebenskampf geworden. Mit immer neuen Ideen macht sie in Zeiten leerer Kassen ihre »brotlose Kunst« zur Lebenskunst. Nie hat sie leere Hände, ihre Familie und Freunde beschenkt sie mit Blumen oder Geschenken. Irgendwie fällt mir im Gespräch ein besonderes Wort ein:

Fundstücke
Wie kommt ein Mensch dazu, die besonderen, kleinen Dinge zu sehen, aufzuheben, zu sammeln, zu bewahren - mit den Händen oder mit der Kamera? Vielleicht dadurch, dass Christine Radack in Prerow auf dem Darß geboren und aufgewachsen ist. Obwohl sehr früh schon selbstständig, hat sie ihre Wurzeln zu dieser Heimat nie gekappt, blieb dem kleinen Ostseebad eng verbunden. Das Meer, der Strand. Da geht der Blick in die Ferne, übers Wasser, bis in die Unendlichkeit, weckt Sehnsucht und Träume, lässt ein Kind zu einem »Bilder- Menschen« werden. Das Meer schwemmt die geheimnisvollen Dinge an, Steine, Glas, Fundstücke eben, die von fremden Ländern und Menschen erzählen.
Mit siebzehn geht Christine Radack nach Berlin, wird Fotolaborantin und Facharbeiter für Fotografie, macht ein Abendstudium Malerei an der Kunsthochschule Weißensee. Dann wird sie Lehrausbilderin für Fotografie bei der DEWAG. Sie heiratet. Drei Kinder werden geboren. Die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler der DDR ermöglicht die freischaffende Tätigkeit. Ist die Existenz auch gesichert, so ist diese Lebensform doch auch eine gute »Schule« für Späteres. Da gilt es schon damals, selbstständig zu planen, Familie und künstlerische Arbeit in Einklang zu bringen.
In den 80er Jahren erwerben Christine und Rainer Radack das alte Lehmhäuschen im Oderbruch. Es ist bescheiden, aber es steht mitten in der herrlichen Natur. Die Wolkenbilder faszinieren die Fotografin. Wenn man aus der Großstadt hierher kommt, kann man es ihr sofort nachfühlen. Mit dem Fahrrad, der Kamera und den Kindern erkundet sie jahrelang die Landschaft, die Menschen und die Tiere, findet immer wieder neue Motive für die Kamera, die sie meistens in Schwarz-Weiß-Bildern oder Sepia getönt festhält. Wir sitzen in ihrem »Glashaus«, ein ganz besonderes, das eigentlich auch so ein »Fundstück« ist, von dem Ehepaar Radack zusammengebaut aus großen Jugendstilfenstern, die bei dem »Modernisierungs«-Wahn nach der »Wende« von anderen achtlos weggestellt wurden. Diese Laube ist auch so etwas wie ein MANDALA, ein Lebenszentrum im so groß gewordenen geographischen Raum.
Als die Galerie geschlossen werden musste, bedeutete das schon Ernüchterung und Enttäuschung. Aber Christine Radack gab nicht auf, arbeitete an verschiedenen freien Projekten. Zusammen mit der Fotografin Sabine Voerster leitet sie in den nächsten Jahren einen Fotozirkel für Jugendliche im »Kiezladen« in der Berliner Dunckerstraße 14. »Jugendstil« nennen sie ihr Projekt, bei dem sie ihre Erfahrungen weitergeben, junge Menschen behutsam anleiten. Da wird Spontanität nicht beschnitten, sondern gerade gefördert, werden Träume in ganz individuelle Bilder verwandelt, Träume vom Reisen, Träume vom Fliegen, Träume von Nähe und Ferne. Ich habe einige der Ausstellungen gesehen, manches war fast »professionell«. Eine Schule fürs Leben waren diese Kurse, von denen die damaligen Schüler heute noch schwärmen. Einige schafften es dadurch zu einer Hochschulausbildung. Manchmal gab es eine Exkursion ins Oderbruch. Für Christine Radack wurde diese Gegend mehr und mehr zur eigentlichen Heimat. Im Jahr 2000 gab sie mit ihrer Familie die Berliner Wohnung auf und zog endgültig dorthin.

Fester Grund
Als man Christine Radack vom Arbeitsamt einen »Existenz-Gründer-Kurs« anbietet, hat sie eigentlich schon mehrmals eine Existenz gegründet. Sie nimmt es fröhlich-gelassen und sieht es als Bereicherung an. Aber eigentlich kann man als Künstlerin ja nur eine Existenz gründen, wenn man einen festen »Grund« im doppelten Wortsinn hat. Den hat sie, nicht zuletzt in sich selbst. 2002 bereitet sie im Seelower Kulturhaus eine Ausstellung zur 750-Jahr-Feier der Stadt vor, sie beteiligt sich an verschiedenen regionalen Ausstellungen. Die Oderregion ist Lebensraum, aber der Bezugsraum ist wesentlich größer. In den Letschiner Heimatstuben zeigt sie in einer Personalausstellung mit dem Titel »Erinnerungen« farbige Bilder vom Leben in der Region und Schwarz-Weiß-Fotos von Berliner Friedhöfen, dazu Erinnerungsfotos von der China-Reise, ganz Alltägliches für ungewöhnliche Entdeckungen wie den alten Chinesen mit dem Vogel auf der Hand. »Erinnerungen sind Schätze«, sagt der Laudator und meint damit viel mehr als nur eine Reise in die Vergangenheit.
Christine Radack indessen hat ganz neue Pläne. Von Ausstellungen, kleinen Gelegenheitsarbeiten oder (allerdings sehr begehrten) Katzenbildern kann man nicht leben. Dem zunehmenden Verlust der Individualität vieler Menschen und der modischen, kurzlebigen Bilderflut möchte sie Bleibendes, Zeitloses entgegenstellen. So wird eine neue Idee geboren, das »Photogemälde«, ein »poesievolles, ganz persönliches Kunstwerk« für Menschen, die sich auf einem bleibenden, künstlerisch gestalteten Bild wieder finden möchten, sich selbst, ihre Kinder oder ihre Familie. Die Fotografin geht zu den Menschen, spricht mit ihnen in ihren ganz persönlichen Lebensräumen und ergründet Wünsche und Vorlieben. Indem sie ihr Gegenüber direkt mit in den künstlerischen Schaffensprozess einbezieht, entsteht ein Bild, ein Arrangement. Vielleicht denkt da mancher an frühere Fotografien, wo Menschen und Räume stilisiert, ja inszeniert wurden und an denen wir uns deshalb gerade heute noch freuen. Sie erzählen uns etwas über die Menschen und die Zeit. Christine Radacks Photogemälde haben fast etwas Magisches, sie vermitteln Atmosphäre, sind für die Gegenwart und spätere Generationen bestimmt. Mancher Auftraggeber bevorzugt Passepartout und Rahmen, ein anderer das Fotogemälde auf Leinen. »Den Augenblick für andere lesbar zu machen, ist der Sinn meiner Arbeit. Es ist eine Möglichkeit der Mitteilung und Erinnerung.« So lese ich im Katalog »Kindheit«. Christine Radack ist dem treu geblieben. »Einen Bogen durch das Leben schlagen« möchte sie nun. In geschickter Synthese verschiedener Kunsthandwerke schafft sie Besonderes. Wir suchen nach festem Grund, möchten Augenblicke festhalten, nicht nur in einem Schnappschuss. Wir möchten etwas in der Hand halten, ein Fundstück, ein Erinnerungsstück, das Glück eines Augenblicks. Das gibt sie mit dem Geheimnis ihrer Bilder. Während ich Freunden von ihrer Arbeit erzähle,...

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