Der schlesische Bauernjunge

Flucht vor der Front und Neuanfang

  • Hans Rehfeldt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Was der elfjährige Bauernsohn Hans-Joachim Liste aus dem Dorf Töschwitz, Kreis Lüben in Niederschlesien, ab dem 26. Januar 1945 erlebte und bis 1946 in seinem Tagebuch festhielt, ergänzte er mit dem Wissen von heute. Das große Flüchten vor und auf der verbrannten Erde im Osten hat 15 Millionen Deutschen Heimat und Besitz und drei Millionen das Leben gekostet. Dennoch: Dieser anschauliche Tatsachenbericht ergänzt keineswegs die Liste jener Literatur, die Deutsche als alleinige Opfer des Krieges sieht. Es ist eine Mahnung, ja eine Anklage gegen jeglichen Krieg. »Wir Flüchtlinge standen ganz vorn, als die Rechnung für den bis dahin schlimmsten aller Kriege zu bezahlen war«, schreibt der Autor und schlussfolgert: »Angesichts der weiteren Zunahme von Waffengewalt und Menschenjagd zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind unsere Erlebnisse und Erfahrungen von beklemmender Aktualität. Immer mehr gehören Massenflucht und Massenvertreibung zum Erscheinungsbild moderner Kriege. Während sich Militärstrategen alle Mühe geben, ihre kostbaren High-Tech-Kräfte so verlustarm wie möglich einzusetzen, nehmen sie in Kauf, dass die Bevölkerung der Konfliktregionen zwischen Superwaffen, Terror, Hunger und Seuchen hin und her getrieben wird.« Deshalb legt Liste Zeugnis ab. Als das Donnern der Front in seinem Dorf nicht mehr zu überhören ist, kommen dem Jungvolkpimpfen erste Zweifel am heldenhaften Endsieg gegen die »Bolschewiken«. Auch sein älterer Bruder Heinz, Soldat an der Ostfront, schildert den Krieg ganz anders als die »Deutsche Wochenschau« und die »Niederschlesische Tageszeitung«. Dann kommen keine Feldpostbriefe mehr. Heinz wird vermisst. Im bitterkalten Januar 1945 ziehen unzählige Fluchtgespanne auf vereisten Straßen bei Schneegestöber durch das Dorf. Auch Familie Liste muss sich in die flüchtenden Menschenknäuel einreihen. Wagen und Tiere rutschen auf dem Glatteis aus, zerbrochene Fahrzeuge und erfrorene Menschen bleiben im Schneetreiben zurück. Es ist die Hölle. Die vor der Front Flüchtenden werden von ihr immer wieder eingeholt. Neben Panzerkolonnen, die die Russen aufhalten sollen, erscheinen jetzt auch noch »Kettenhunde«, um aus den Flüchtlingskolonnen Deserteure oder Jugendliche und Alte herauszuholen, die auf Befehl des »Führers« noch in Volksturmbataillone sollen. Da fasst Vater Liste, der mit seinem Holzbein aus dem Ersten Weltkrieg nicht mehr kriegstauglich ist, den Entschluss, abseits des Trecks allein den Weg nach Westen zu suchen. Am Abend des 13. Februar 45 erleben sie, zwei Tagesmärsche von Dresden entfernt, das bisher schlimmste Luftmassaker der Westalliierten. Die Alleinfahrt ist ein großes Risiko, Plünderer und bewaffnete Banden treiben sich zwischen den Fronten im Niemandsland herum. Englische Spitfire und Lightnings tauchen aus dem Nichts auf und schießen auf alles was sich bewegt. Mit großen Glück und dank der Umsicht des Vaters entgeht die Bauernfamilie dem Tod. In der letzten Aprilwoche sind sie in Hausdorf in Sachsen angelangt und bemerken gar nicht, dass sie von Amerikanern »erobert« worden sind. Erst als der Junge in einem Bäckerladen nach Brot fragt und das übliche »Heil Hitler« von sich gibt, drehen sich einige gelbgrün uniformierte Schlackse nach ihm um: »Hitler out! Clear or not?« Weitere Folgen hat der Vorfall glücklicherweise nicht. Die Familie versteckt sich in einer Scheune. Dann aber holt der Krieg sie wieder ein. Granaten schlagen in Hausdorf ein, eine SS-Einheit liefert den Amerikanern letzte heftige Kämpfe. Anfang Juni werden die Amis durch »Russen« abgelöst. Die ersten Bekanntschaften sind zwiespältig. Sie kommen ins Haus, und finden eine Flasche Schnaps, die sofort die Runde macht. Es wird gesungen, Mutter muss mit ihnen tanzen, aber der Tanz wird immer wilder. Eine Offizierspatrouille beendet die »Feier«. Fahrräder und Uhren wechseln die Besitzer. Zu Kindern sind die »Iwans« jedoch gutmütig. Sie dürfen und kriegen alles was sie wollen und werden aus der Feldküche beköstigt. Schließlich heißt es, die Flüchtlinge dürfen wieder in ihre Heimat zurück. Aber an der Neiße ist Schluss, dahinter beginnt jetzt Polen. Die ruhelose Fahrt geht weiter, denn in Sachsen können nicht alle Fluchtbauern von der Bodenreform etwas abbekommen. Sie ziehen weiter, es muss gefragt, gebeten, gedankt werden. In einem Bördedorf werden sie endlich sesshaft. Der Neuanfang ist sehr schwer, aber sie schaffen es, werden Neubauern mit eigenem Stückchen Land. Und dazu kommt die Freude über die erste Post des kriegsgefangenen Bruders Heinz. Er hat den geplanten Heldentod überlebt, wurde von den Russen anständig behandelt und kommt Ende 1949 gesund wieder zurück in das neue zu Hause. So hatte die Flucht ein gutes Ende. Der Hof von Liste glich bald wieder dem, den die Familie verloren hatte. Eine fesselnde, sehr einfühlsame Geschichte. Man hätte gern mehr erfahren - wie der Junge, der die Fluchtstationen in seinem Tagebuch notierte, in der DDR die Schulbildung nachgeholt hat, in Halle Agrarwissenschaften studiert, dort viele Jahre als Hochschullehrer gewirkt und später an internationalen Umweltprojekten mitgearbeitet hat. Ist ein Fortsetzungsband zu erwarten? Die ganze Geschichte wird mit zahlreichen sehr interessanten Hintergrundinformationen über Ereignisse der damaligen Zeit ergänzt, d...

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