Canettis Liebe
Erstmals deutsch: Roman von Anna Sebastian alias Friedl Benedikt
Elias Canetti nannte sie »überaus begabt«. Von ihrem natürlichen Charme war er betört. Friedl Benedikt, die später unter dem Namen Anna Sebastian veröffentlichte, war die weit jüngere Freundin des Dichters und folgte ihm Anfang 1939 ins Exil nach London. 1916 in der jüdischen Verlegerfamilie Benedikt in Wien geboren, vielseitig gebildet und von der Künstlerszene angezogen, war Canettis literarische Welt von ungeheurer Faszination für sie. Wie Susanne Ovadia im Nachwort über ihre Schwester Friedl schreibt, hielt Canetti sie, oft mit väterlicher Strenge, zur täglichen Arbeit am Schreibtisch an. Er wurde ihr »Meister«, ihr »Orion« - und zugleich die Liebe ihres Lebens. So führte sie in den Londoner Jahren für Canetti Tagebücher, die sie ihm dann zur Verfügung stellte. Vor allem aber entstanden hier drei Romane der Friedl Benedikt, die alle Canetti gewidmet sind.
Warum müssen erst sechzig Jahre vergehen, ehe auf dem deutschen Buchmarkt ein so erstaunliches Buch erscheint! Noch dazu, wenn es bereits in französischer und schwedischer Übersetzung präsent ist! Nun liegt der 1944 in London auf Englisch publizierte Roman »Das Monster« erstmals deutsch vor. Es ist dem engagierten Verleger Thomas B. Schumann zu danken, dass in seiner Edition Memoria in Hürth bei Köln immer wieder zu Unrecht vergessene Autorinnen und Autoren der Exilzeit eine Stimme erhalten. Vor drei Jahren etwa gab er aus dem Nachlass der Tänzerin und Schriftstellerin Jo Mihaly, anlässlich ihres 100. Geburtstages, den Exilroman »Auch wenn es Nacht ist« heraus.
Friedl Benedikts erstes großes literarisches Erlebnis war Fjodor Dostojewski, und seine Art der Wirklichkeitsüberhöhung beeinflusste schließlich ihr eigenes Schreiben. Dieses Buch von der Umtriebigkeit des Staubsaugervertreters Mr. Jonathan Crisp nämlich ist solch eine Mischung aus ganz realen, ja banalen Alltagsszenen und einer ins Surreale hinüberschwenkenden Handlung. Genau dort, wo der Mann im praktisch normalen Leben nichts mehr erreichen kann, wo ihm die nackte Realität ganz trostlos und ohne Aussicht auf eine Zukunft Barrieren vor die Nase setzt, wird er zum Monster.
Vielleicht steht das Atmosphärische dieses Romans ja im Gegensatz zum Wesen der Autorin selbst, denn Elias Canetti schrieb über sie in »Party im Blitz«, dem vierten Band seiner Lebenserinnerungen: »Friedl war ein helles und heiteres Geschöpf. Ihr Sinn für alles Komische war sehr ausgeprägt. Es gab immer etwas zu lachen, wenn man mit ihr zusammen war ...« Und ihr Vater hatte sie gar »ein Mensch gewordenes Scherzo von Mozart« genannt. Auf jeden Fall aber zeugt es vom feinen erzählerischen Gespür der Autorin, wie sie die bedrückende Ausweglosigkeit und Gefährdung des friedlichen Lebens literarisch ins Bild setzt. »Ich finde es sehr schwer, über die Schönheiten des Lebens zu schreiben, jetzt, wo die ganze Welt nur aus Schmerz besteht«, schreibt sie in einem Brief. Es war die Zeit der barbarischen deutschen Bombenangriffe auf England, denen auch Friedl Benedikt in ihrer ganzen Wucht ausgesetzt war. Die verzweifelte Ansprache des Jonathan Crisp an Gott, in einer leeren Kirche von der Kanzel herabgeschleudert, ist ein Meisterstück der menschlichen Anklage an die Gewalt, der man wehrlos gegenübersteht. Nichts wert, so denkt er, ist ein Leben ohne Ziel und Sinn. Mit Gottes Unterstützung will er sich über all die anderen »verderbten, halsstarrigen Sünder« erheben und sie beherrschen: »Aber ich sage euch, bevor ihr zu Gott kommt, müsst ihr zu mir kommen!« Die Figur ist eine Art kleiner, mieser »Alltags-Hitler«. Aber Gott erscheint nicht. Die Faszination des Bösen setzt sich durch. Die Leere bleibt allgegenwärtig.
Viel zu früh, im 37. Lebensjahr, starb Friedl Benedikt 1953 in Paris, nachdem 1950 noch ihr dritt...
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