Das dagestanische Pulverfass
Im Nordkaukasus droht Russland ein zweites Tschetschenien
In der nordkaukasischen Republik Dagestan vergeht derzeit kaum ein Tag ohne Bombenexplosion. Nicht nur »Experten« fürchten, dass in der Nachbarschaft Tschetscheniens ein weiterer Bürgerkrieg ausbricht.
Am 23. Juli verfügte der tschetschenische Präsident Alu Alchanow die Festnahme von Personen, die sich an Gewalttaten gegen ethnische Awaren im Dorf Borosdinowskaja beteiligt hatten. Wer die Täter waren, verriet Alchanow nicht. Seit dem 4. Juni werden elf Bewohner Borosdinowskajas vermisst. Eine Gruppe Uniformierter hatte das Dorf angeblich »von Terroristen gesäubert« und vier Häuser abgebrannt. Die Bewohner vermuteten einen Akt der Blutrache: Der Vater eines der »Rächer« war kurz zuvor in Borosdinowskaja getötet worden. Ungeklärt blieb, ob es sich bei der »Säuberungsgruppe« um russisches Militär, eine örtliche Polizeigruppe oder sogar um tschetschenische Rebellen handelte. Jedenfalls flohen 400 Awaren aus Borosdinowskaja über die nahe Grenze ins benachbarte Dagestan. Dort befürchtet man nun einen ethnischen Konflikt zwischen Tschetschenen und Awaren. Der könnte die Situation nicht nur in Dagestan, sondern im gesamten Nordkaukasus destabilisieren. In Dagestan leben 2,5 Millionen Menschen, die über 30 verschiedenen Volksgruppen angehören. Die Awaren sind die größte Gruppe. Die Mehrheit der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, es gibt aber auch schiitische, christliche und jüdische Minderheiten. Die Widersprüche zwischen diesen ethnisch-religiösen Gruppen sind erheblich. Am 15. Juli besuchte der russische Präsident Wladimir Putin überraschend auch Dagestan. Der bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten im Südbezirk der Russischen Föderation, Dmitri Kosak, hatte die Situation in der Republik in einem offiziellen Bericht als sehr gespannt geschildert. Dagestan sei durch separatistische Bewegungen gefährdet, die nach einer Trennung von Russland streben. Ursachen seien der enorme Einflussgewinn radikaler Islamisten und der Kampf zwischen zahlreichen politischen Klans. Wachsende Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen machten die Situation zusätzlich gefährlich. Seinen Einfluss in Dagestan verlor Russland schon Mitte der 90er Jahre. Schon damals gab es separatistische Tendenzen. Nur die wirtschaftlichen Interessen der einflussreichen Klans verhinderten damals die Loslösung von Russland. Dagestan wird von Moskau finanziell unterstützt, doch das Geld wird häufig von korrupten Beamten unterschlagen und erreicht die Not leidenden Dagestaner nicht. Ungeachtet dessen sind auch große Teile der Bevölkerung an der Anbindung an Russland interessiert, weil sie davon leben: Viele dagestanische Bürger arbeiten in Zentralrussland oder machen dort ihre Geschäfte durch legalen, aber auch durch illegalen Handel und durch Schmuggel von Drogen und Waffen. Das alles bedeutet viel legales und illegales Geld, das jedoch nur bei enger Anlehnung an Russland zu erwirtschaften ist. Nach zahlreichen Terroranschlägen in Russland ist allerdings das Verhältnis der Russen zu allen Kaukasiern stark belastet. Dagestaner leben ebenso wie Tschetschenen und andere Nordkaukasier in Russland unter starkem Druck. Sie werden Opfer von Misshandlungen, bisweilen auch von Morden, und müssen eine Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten hinnehmen. Für einfache Dagestaner ist es nicht mehr so leicht, in Russland gutes Geld zu verdienen. Wahrscheinlich ist auch deswegen der Einfluss extremer islamischer Glaubensgemeinschaften jüngst wieder gestiegen. Die so genannten Wahhabiten führten jedoch bisher keinen organisierten religiösen Kampf gegen die etablierte Macht, obwohl es ihnen in einzelnen Dörfern schon mehrfach gelang, Polizei und Verwaltung davonzujagen und Wahhabiten-Enklaven mit islamischem Recht zu gründen. In wachsendem Maße fallen die Interessen der regierenden moskautreuen Klans und der übrigen Bevölkerung auseinander. Das könnte eine der Ursachen für die Terroranschläge sein, von denen Dagestan in den letzten Monaten heimgesucht wird. Allerdings sind für die Anschläge nicht immer radikale Islamisten verantwortlich. Der Kampf um die Aneignung ehemaligen Staatseigentums, Privatisierung genannt, ist in Dagestan besonders blutig verlaufen. Wer sich und seinem Klan ein wichtiges Wirtschaftsobjekt sichern will, schreckt bisweilen vor Auftragsmord nicht zurück. Andererseits wird auch der Kampf der Polizeitruppen gegen Islamisten und Separatisten oft mit äußerster Härte geführt. Unter den paramilitärischen Operationen leiden Frauen, Kinder und Alte. So werden Polizisten und Beamte wiederum Opfer der Rache von Bergbewohnern. Gezielt verübt eine neue radikale Gruppierung namens »Islamische Jamaat Scharia« Anschläge gegen Polizisten. Die Situation in Dagestan bereitet Moskau große Sorge. Die einen machen gerne »westliche Imperialisten« und die islamischen Staaten für den Terrorismus und die damit verbundene Destabilisierung Russlands verantwortlich. Andere sehen eine Lösung in der Unterstützung des stärksten Klans, wie in anderen Republiken Russlands praktiziert. Vorerst aber wird die militärische und politische Präsenz Russlands in der Republik verstärkt. Putin stellte bei seinem Besuch fest, dass es in Dagestan »zu viele Probleme sozialökonomischen Charakters« gebe, darunter das der Arbeitslosigkeit. Die zunehmende Verfolgung von Kaukasiern im gesamten russischen Staatsg...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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