Der tiefe Sturz des Garry Glitter
Michael Jackson ist nicht allein: Wie die Öffentlichkeit gefallene Stars behandelt
Michael Jackson wurde vom Missbrauch freigesprochen. Aber in den Augen der Öffentlichkeit hat er seine Unschuld verloren. Die Lehre aus dem »Fall Jackson« ist bitter, schrieb »Die Zeit«, solche prominenten Prozesse gleichen sublimierten Kriegen. Hier wie dort stirbt die Wahrheit zuerst. Einer, der sich seit Jahren ebenfalls im Fadenkreuz wieder findet, ist Paul Francis Gadd. Die meisten kennen ihn unter dem Pseudonym Gary Glitter.
Der britische Sänger verkörperte in den 70ern das Bild, das man sich gemeinhin vom glamourösen Leben eines Popstars macht. Seine Single »Rock n Roll Part 1 & 2« mit ihrer stampfenden Rhythmik und den lauten Gitarrenriffs löste 1972 auf der ganzen Welt das Glamrock-Fieber aus. Schon bald schlüpften auch Bands wie T.Rex, The Sweet und Slade in hautenge Lurex-Anzüge und Plateaustiefel. Doch Glitter blieb einzigartig. Die toupierte Presley-Tolle, das offene Rüschenhemd mit reichlich Brusthaar und der Glitzeranzug, unter dem sich deutlich ein Bierbauch abzeichnete, ließen den Glamstar als eine Art Liberace des Rock erscheinen. Bis Ende des Jahrzehnts gelangen dem bekennenden Bier- und Eisbeinliebhaber 14 Tophits und noch heute gehört er neben den Beatles, Elton John, Cliff Richard und Oasis zu den erfolgreichsten Singles-Künstlern der britischen Insel.
Im Zuge der Punk-Revolution wurde der großmäulige Bubblegum-Rocker in seiner Heimat von den Punks kurzzeitig zur Vaterfigur hochstilisiert, bis es in den 80ern ruhiger um ihn wurde. 1986 berichteten die britischen Zeitungen von einem »versehentlichen Selbstmordversuch«, als der Mann in Goldlamee mit einer Überdosis Schlaftabletten ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Nichtsdestotrotz schloss er 1990 einen hoch dotierten Sechs-Alben-Vertrag bei Virgin Records ab, ohne dass zunächst etwas veröffentlicht wurde. Bis dato hat der Glam-Veteran nicht weniger als 13 Mal sein Comeback ausgerufen. Doch ist es im Wesentlichen bei den Ankündigungen geblieben.
Im Zuge der Retrowelle des neuen Millenniums wagte der Hauruck-Rocker 2002 mit dem Album »On« seinen bisher letzten Frontalangriff auf pubertäre Ohren. Dass von dieser CD letztendlich nur wenige Tausend Exemplare verkauft wurden, hatte Gary Glitter vor allem einer weltweiten Negativkampagne zu verdanken. Was war geschehen? Ein Angestellter der Computerkette PC World hatte Ende 1997 auf der Festplatte des Rockidols rund 4000 kinderpornografische Fotos entdeckt und die Sache zur Anzeige gebracht. Zwei Jahre später wurde der gefallene Star vom Königlichen Gerichtshof in seiner Heimatstadt Bristol zu vier Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.
Es waren vor allem die obszönen Darstellungen von Kleinkindern, die den vorsitzenden Richter dazu verleiten ließen, Glitters enorme Sammlung als schmutzig, abstoßend und »das Schlimmste überhaupt« zu bezeichnen. Der Appetit des (geständigen) Angeklagten auf Kinderpornografie sei regelrecht gefräßig. Der Prozess spülte zudem frühere Anschuldigungen wieder nach oben. Anfang der 80er soll sich der Sänger mit einem 14-jährigen weiblichen Fan eingelassen haben. Verdächtig war, dass sich Glitter Jahre später für 10000 Pfund dessen Schweigen erkaufte. Aber nicht etwa aus Furcht vor dem Bekanntwerden einer Straftat, sondern der eitle Entertainer wollte schlicht und einfach verhindern, als Perückenträger entlarvt zu werden.
Doch damit war die Sache nicht ausgestanden. 1997, während des Pornografieprozesses, gelang es einer Boulevardzeitung, die mittlerweile 34 Jahre alte Mutter von zwei Kindern ausfindig zu machen. Damit waren auch die alten Anschuldigungen wieder da. Sollte Glitter auf Grund ihrer Aussagen verurteilt werden, versprach das Blatt der Frau eine Belohnung von 25000 Pfund. Zumindest in diesem Punkt konnte dem Angeklagten jedoch nichts nachgewiesen werden. Nichtsdestotrotz stilisierte die Yellow Press den Liebling von einst zum Staatsfeind Nummer 1. Ein Image, mit dem Gary Glitter auch Jahre nach seiner Entlassung noch zu kämpfen hat.
Als sein Album »On« erschien, forderten einige Politiker, es zu verbieten. Ein Sprecher der britischen Musikindustrie konterte: »Das wird nicht passieren. Gary hat seine Strafe abgesessen und ist nun ein freier Mann!« Im Gefängnis, so Beobachter, machte der Popstar einen jämmerlichen Eindruck: verängstigt, verletzlich und depressiv. Während der vier Monate galt er als selbstmordgefährdet. Nach seiner Entlassung igelte sich der zweifache Vater vollkommen ein und nahm sogar seine Homepage aus dem Netz. Glitters Flucht aus England war nur konsequent. Sie sollte zu einer Odyssee über die Staaten Kuba, Spanien, Südafrika, Kolumbien, Venezuela und Thailand werden.
Der Interpret von Rock-Hymnen wie »Im The Leader Of The Gang (I Am)« war weltweit zur persona non grata geworden. Nachdem er im Dezember 2002 von einer britischen Boulevardzeitung in einer Mietwohnung in Phnom Penh aufgespürt wurde, ließ ihn die kambodschanische Frauenministerin in einer Panikaktion vorübergehend in Gewahrsam nehmen. Ohne Erlaubnis der Polizei durfte er die Stadt jetzt nicht mehr verlassen. Ein verurteilter Pornograf ist eben kein Schmuck für ein Land, das unter dem Image als Paradies der Pädophilenszene leidet. Auch der Nachbar Vietnam ließ alsbald verlauten, der Herr solle sich bei ihm ja nicht blicken lassen. Wohl gemerkt: Der Geschmähte hatte sich während der Zeit im Exil nichts zu Schulden kommen lassen.
In der britischen Presse kursieren alldieweil neue Gerüchte: Glitter wolle noch in diesem Jahr nach Hause kommen. Er sei jetzt 65 und habe genug vom Leben in Phnom Penh, diesem Freiluftgefängnis am Ende der Welt. Gary Glitter weiß, was man in der Heimat von ihm denkt. Aber er will es trotzdem noch einmal versuchen.
Wie bei Michael Jackson stellt sich auch hier die Frage: Wird das Publikum dem Sänger jene Taten ...
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