Was ist sozialistisch an den Grünen?

Lob und andere Wahrheiten über eine Partei, die es seit fünfundzwanzig Jahren gibt

Alle Probleme alternativer Politik, die in den Konflikten zwischen Bewegungen und Parteien, Revolutionen und Reformen, Opposition und Regieren, Klasse und Individualität, aufscheinen, haben es nicht verdient, leblos in prinzipiellen Ecken zu verstauben. Mit der Geschichte der Grünen erlebten sie eine praktische Dynamik, eine erneute Chance zum produktiven Widerspruch. Menschen, die den Gründungsprozess der Grünen beeinflussten, initiierten und geprägt haben, standen schon vor der Frage: Wie sozialistisch sind die Grünen? Sie haben sie selbst gestellt oder sie waren mit ihr konfrontiert. Der 11. April 1968, Salazar und Franco, der kalte Krieg und die Ermordung Allendes waren 1979, als Rudi Dutschke in Arhus starb, nicht vergessen. Die konsequente Thematisierung visionärer politischer Projekte - formuliert als ökologischer Umbau - stärkte die Suche nach Alternativen, gab Gesellschaftsentwürfen jenseits kapitalistischer Verwertungslogik in der Geschichte der Grünen einen großen Raum. Dem kulturellen Selbstverständnis der Grünen entspricht eine fortgesetzte Identitätsfindung durch sozialistische Ideen inzwischen kaum noch. Doch »die Grünen« gab und gibt es sicherlich genauso wenig, wie »die Politiker« oder »die Parteien«. Das möchte ich bei den folgenden Überlegungen doch voranstellen. Warum erscheint die Frage, wie sozialistisch die Grünen im Jahre 2005 seien, so absurd? Die Grünen erklären postum für sozialistisch, was vor allem nach 1989 mit dem historisch gescheiterten Versuch des Realsozialismus in dominierenden gesellschaftlichen Öffentlichkeiten verbunden wird: empfindliche Demokratiemängel in allen materiellen und geistigen Produktionsorten, Verbrechen im Namen der Idee des Sozialismus, mangelnde innere Problemlösung, Scheitern als gesellschaftliches System. Diese Seiten sind alle nicht zu bestreiten. Doch nicht nur und nicht allein die historische Erfahrung ist Kern der sozialistischen Idee, sondern auch die in ihr durchaus im Hegelschen Sinne aufgehobene Utopie ist um einiges reicher und zugleich bodenständiger geworden. Hier gibt es eine enorme Differenz im Sozialismusverständnis zwischen der PDS und den Grünen. »Es besteht kein Grund«, schrieb Wolf Lepenies in jener Zeitenwende 1989/90 in der ZEIT, »die zutiefst moralischen Antriebe bei der Entstehung sozialistischer Ideen heute bereits für befriedigt zu halten. Der entscheidende Irrtum von Marx und Engels war es, den Weg des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft für einen Fortschritt zu halten. Nunmehr ist ein Rückschritt erforderlich. Der Sozialismus ist keine Wissenschaft. Er bleibt eine notwendige Utopie, die nur um den Preis realitätsblinder Selbstgerechtigkeit aus dem öffentlichen Diskurs vertrieben werden kann. Auch in Zukunft wird die sozialistische Utopie zum geistigen Kanon einer europäischen Kultur gehören, die sich über ihre inneren Widersprüche nicht hinweg täuschen will.« Dies schließt marxistische analytische Methoden, ihre Weiterentwicklung mitgedacht, nicht aus, um soziale Akteure und die Metamorphosen des Profits der Vermögensvermehrer unter die Lupe zu nehmen, um moderne Individualität und Globalisierung neu zu denken. Wir brauchen nur außerhalb Deutschlands zu schauen, in Regionen mit anderer Geschichte und Geschichten, um Sozialismus als Bewegung, als ideengeschichtlichen Fundus, als lebendigen Kanon sozialer Praxis deutlich zu erkennen oder die im Kommunistischen Manifest festgeschriebene Idee, dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit Aller sei, als Politik praktizieren und den Verstoß gegen sie, als einen der elementaren Grundfehler des Realsozialismus begreifen. Im Fremd- und Selbstbild der Regierungspartei Bündnis 90/Die Grünen brodelt noch leise die grüne Ursuppe aus alternativen, radikaldemokratischen und gesellschaftsveränderndem Impulsen. Sichtbar wird der eigene Ideenfundus wieder, seit Schröder das Misstrauen als Vertrauensbeweis eingeführt hat und sich auch die Grünen 2005 plötzlich in einem existenziellen Wahlkampf wiedererfinden müssen. Ökologische Nachhaltigkeit, qualitatives Wachstum in sich verändernden Wirtschafts- und Lebensweisen prägte das Denken in den Politikentwürfen in Ost und West vor allem für politisch Engagierte in den Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind. Dass diese Debatte ein ernstzunehmender Fokus perspektivischen Denkens überhaupt ist, daran haben Grüne in der kurzen 25-jährigen Geschichte einen schätzbaren Anteil. Die Gründungsinitiativen der Grünen kann man durchaus als Generation der Brüche bezeichnen. Eine neue Anti-Parteien-Partei, die geschichtliche Mythen der Bundesrepublik West infragestellte, die konsequente Demokratisierung, feministische Weltsichten, friedlichen Protest und Antirassismus lebte, war überfällig und anspruchsvoll. Heute - mit über einem Drittel Mitgliedern, die erst in den letzten sieben Jahren zu den Grünen kamen - sind Bündnis90/Die Grünen zuerst fortgesetzte Regierungspartei und bewegen sich machtvoll im etablierten Parteienspektrum und jenseits des Ditfurthschen Anti-Parteien-Parteiverständnisses. Ist die Dynamik widerstreitender ökoreformerischer und gesellschaftsverändernder Ansprüche in der Etablierung erstarrt? Enden gesellschaftsverändernde und ökologische Gründungsmythen in moderner Wahlkampfrhetorik? Zum einen könnte man fraglos behaupten, ohne Anspruch auf Mitregieren bräuchte man keine Partei gründen. Nimmt man die politische Funktionsweise der Republik ernst, so gerät der Gestaltungshorizont als muntere Opposition, die parlamentarische Oppositionsrolle als lebendiges Informations- oder Transparenzscharnier zu Initiativen und Bewegungen schnell an Grenzen des politisch Bewegbaren. Wenn eine Partei alle dramatischen Wendungen des Konflikts zwischen systemüberschreitender Bewegungspartei neuen Typs (Ströbele) - Spielbein im parlamentarischen Raum und Standbein in den Friedens-, Frauen- und sozialen Bewegungen - und den realpolitischen Reformansprüchen und Gestaltungsideen, verbunden mit Macht im parlamentarischen Raum und ihren Folgen, gelebt hat, dann war es die der Grünen. So gelangen wir zu der Frage, ob es Parteien von ihrer radikalen Aufbruchsidentität rasch zur sie selbst dominierenden Anpassung an eine mehr oder weniger funktionierende Parteienlandschaft führt oder ob es die gern zitierten Umstände erneut und immer wieder sind, die das »an die Wurzeln gehen«, das Radikale, um der Macht willen schleifen und einebnen. Auch in der PDS habe ich, schneller als mir lieb war, eine Ahnung davon erhalten, wie es sein kann, wenn Fraktionen ansatzweise die Parteien zu regieren drohen, wenn Mitgliedschaft und disparate Sympathisantenmilieus im Schatten eines nach vielen Untergangsbeschwörungen plötzlich medial gefeierten Erfolgsmodells stehen. Überhaupt wirft die Mediokratie (wie ich in Anlehnung an wissenschaftliche Arbeiten von Thomas Meyer jenen Zustand nennen will, in dem tendenziell die Regeln der Medien die Regeln des Politischen bestimmen und nicht - wie einst - umgekehrt) neue Fragen auf. Manche dieser Diskussionen sind mir alles andere als fremd, nur führen wir sie in der PDS nicht zuerst aus einer Geschichte als Bewegungspartei, sondern aus einem Bruch mit dem Stalinismus und einer extremen Symbiose des Neuansatzes auch gemeinsam mit einigen von den Grünen, deren politischer Stil vor allem zur und kurz nach der Wende deutlich auf uns abgefärbt hat. Auch ist der inhaltliche Fokus, die soziale Frage mit dem ökologischen Umbau zusammenzudenken und sie mit friedlicher Konfliktlösung und politischer Selbstermächtigung weiterzuentwickeln, ein anderer als bei den Programmatiken der Grünen. Jüngere soziale Bewegungen und eine qualifizierte Minderheit von Parteimitgliedern lehnen die parlamentarische Perspektive ab - und auch dies ist historisch nicht neu - ohne dabei den Konflikt auflösen zu können, von politischer Selbstermächtigung zu »Mehrheiten« zu gelangen, um Politik wirksam neu zu entwickeln - außerparlamentarisch und parlamentarisch. Fazit für mich: Fraglos kann man diesem Problemkreis nicht begegnen, auch nicht dem Mitregieren. Die Widersprüche bleiben, wenn auch in veränderter Gestalt. Und so kann es nicht Partei oder Bewegung, politische Dekonstruktion als Antiparteienpartei oder konstruktive politische Ansätze ohne tatsächliche machtvolle Bewegung heißen. Das ODER ist auch immer ein UND, ein Austausch, für den man wirklich etwas tun muss, ein Vulkan der Konfliktlösung, oft nur sichtbar in kleinen neuen praktischen Projekten und utopischen intellektuellen Ansätzen, in neuen Lebensstilen und neuen Bewegungen. Das ließe sich bündeln in solch frechen Ideen wie dem Mandat für Nichtwählerinnen und Wähler, damit Parteien auf das Maß ihres politischen Aktionsradius schrumpfen, den Bürgerinnen und Bürger ihnen wirklich zubilligen. Den Rest sollten Kommunen beanspruchen, für Kindertagesstätten, Jugendprojekte und Migrations- und Friedensinitiativen. Bleiben wir beim ODER, so bleibt der verlustreiche Weg alter und neuer sozialer Bewegungen ohne Lerneffekt. Lösungen liegen in einer Demokratisierung der Demokratie, für Parteien und Bewegungen. Die Fragen stehen angesichts der ökologischen Oberflächlichkeit unserer Gesellschaften, der weltweit sozialen Schieflagen hinterm neoliberalen Zeitgeist und der kriegerischen Eskalationen immer schärfer. Die Lösungen hat niemand in der Tasche. Vielleicht fällt es den Deutschen besonders schwer - und dies ist sicherlich historisch begründbar - parlamentarische Minderheitendemokratie - Tolerierungen - ernsthafter zu probieren und dies mit den einstmals auch von den Grünen favorisierten basisdemokratischen Elementen gesellschaftlicher Entscheidungsfindung zu verbinden. Manche Sachfragen ließen sich besser aushandeln, wenn sie nicht dem parlamentarischen Spektakel der großen Koalitionen zum Opfer fielen. Inzwischen sind die deutschen Grünen den Weg mit Rot-Grün gegangen. Rot-Grün - ein unvollendetes Projekt? fragte Oskar Negt schon vor 2002 und legte behutsam politische Projekte einer Bürgergesellschaft frei, nicht um sie in ihren scheiternden Gestalten zu rechtfertigen und die politische Kompromisslösung heilig sprechen zu lassen, sondern um sie wieder kenntlich zu machen und ihre Uneingelöstheit zu markieren. Kritische Analyse kann man das nennen, auch einen Beginn für Lerneffekte. Profil und politische Identität der Grünen im Jahre 2005 mit der Eingangsfrage - Wie sozialistisch sind die Grünen? - zu verbinden, scheint inzwischen fast aussichtslos. Die Grünen: eine moderne Bürgerrechtspartei? Ja, aber wie beim Polisbürger der Antike müssen diese politischen Subjekte schon aus Aufstiegsmilieus mit hohen Bildungserfahrungen kommen und im mindesten das Selbstverständnis besitzen, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Ob das wirklich modern ist? Ich möchte diese Verdunkelung der sozialen Frage als sehr modernistisch kennzeichnen, als lebensstilbildende Lobpreisung des Individualismus statt der Individualität. Das halte ich im mindesten für politisch einseitig und sozial-kulturell bedenklich. Dies ist einer der Punkte, bei denen es markante Unterschiede gibt, zwischen einer Partei der Grünen und einer Partei demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten, wie der PDS, die Erfahrungen der sozialistischen und linken Bewegungen auf demokratischem Wege neu entfalten will, tatsächlich durch eine andere Historie bewegt und mit ihren größeren ostdeutschen Wurzeln und ihrem internationalistischem Anspruch in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft medial nicht gerade gestreichelt wird. Wir nehmen das längerfristige Projekt einer Linkspartei ernst. Sozialisten in offenen Parteiprojekten sind in anderen europäischen Ländern Normalität. Die Partei der Europäischen Linken hat sich 2004 in Rom gegründet. Hier ist Bewegung, Strategiebildung, gemeinsame politische Aktion in hoffnungsvollen Projekten gebündelt. Es ist kein Jahr her, da saß ich mit Hans-Christian Ströbele in einer Gesprächsrunde nach den Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg. Wir alle hatten mehr Fragen als Antworten wegen der Ausbreitung rechtsextremer Szenen und Parteien, saßen gemeinsam vor Fehlern im Umgang mit der DVU im Parlament oder vor den Folgen der Kürzungen, die antirassistischen Netzwerken ihre Arbeitsmöglichkeiten empfindlich amputierten. Ich wäre nicht unglücklich, wenn die Frage, was sozialistisch an den Grünen sei, nicht abwegig erschiene. Einfacher noch, wie die Situation der Gesprächsrunde zeigte, denke ich, ist danach zu fragen, wo man unbedingt gemeinsam politisch etwas erreichen kann. Die Geschichte dieser 25-jährigen Partei macht das Fragen möglich. Politische Wege, die die Grünen in der Friedensfrage gegangen sind (der Rüstungsexport der Bundesrepublik wächst unaufhörlich), hingegen erschweren das Interesse, nach konstruktiven Antworten zu suchen. Daher kommt gleichermaßen auch ein Unverständnis, warum der Ratifizierungsprozess der europäischen Verfassung in Deutschland ohne Volksabstimmung geblieben ist. Und keinerlei Begeisterung ernten Grüne bei mir für die bundesrepublikanischen Versionen des Sozialabbaus und die Unternehmenssteuerreformen für Umverteilung von unten nach oben, trotz ihrer eigenen Debatten um Grundsicherung oder Erbschaftssteuer. Sie haben diesen politischen Weg rot-grüner staatlicher Reichtumspflege maßgeblich mitgetragen. Zum Lernen gehört aber, den Widersprüchen nicht auszuweichen, sondern an ihrer Lebendigkeit festzuhalten. Ungewöhnliche Fragen können dabei durchaus hilfreich sein, dann schauen Kritikerinnen, politische Gegner, Parteibasen und Aktivistinnen wieder auf Machbares und vor allem auch Mögliches inmitten der realen Kräfteverhältnisse. Das ist nicht nur ang...

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