Entwickelte Zuschaukunst

Hans-Otto-Theater Potsdam: Kinder- und Jugendtheater als Modell

Die meisten Stadttheater kümmern sich einmal im Jahr zu Weihnachten um ihre jüngsten Zuschauer; wenns hoch kommt, gibts irgendwann noch ein zweites Kinderstück. Dass es auch anders geht, dafür tritt das Hans-Otto-Theater Potsdam seit einem Jahrzehnt den gelungenen Beweis an. Hier bildet das Kindertheater - als fester Bestandteil des gesamten Theaterbetriebs - eine eigene Sparte. Es verfügt über eigene Leitung (Philippe Besson) und eigene Dramaturgie (Andreas Steudtner), über eigene Darsteller und bald - wenn der Neubau die Wanderbewegungen der Ensembles beenden wird - wohl auch über ein eigenes Haus. Es gibt etwa sechs bis sieben Neuinszenierungen pro Spielzeit; Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen werden mit Stücken der unterschiedlichsten Genres bedacht; das Repertoire ist - wie sich das für einen guten Theaterspielplan gehört - komplex und differenziert zugleich. Der Vorstellungsbesuch muss selbst an Hartz IV nicht unbedingt scheitern (drei Vorstellungen für insgesamt 9 bzw. 12 Euro, nach Alter gestaffelt, ABC-Ticket für Berlin und Brandenburg inklusive). Zur Unterstützung des Vorstellungsbesuchs liegt für die jugendlichen Besucher ausführliches Begleitmaterial bereit, das von der Analyse bis zum Spielvorschlag mancherlei enthält; Dramaturg und Theaterpädagogin stehen natürlich für persönliche Begegnungen zur Verfügung. Mit einer solchen »Basisarbeit« hat das Hans-Otto-Theater die Chance, seine Zuschauer von klein auf, also langfristig an sich binden. Was bekommt wer zu sehen? »Robinson« (Uraufführung - Regie Ted Kejser, Ausstattung Laura de Josselin de Jong), ist die jüngste Produktion, beginnt mit einem schrecklichen Unwetter: Ein Boot kurvt verwegen übern Ozean, ein erschöpfter Mensch landet auf einer wüsten Insel - der Ozean ein blaues Bodentuch, das Boot ein Skateboard, Donner und Sturm die Bühnenmusik(Andreas Dziuk) hoch oben über der Szene. Auf der Insel türmt sich Wohlstandsmüll, daraus baut sich die Schiffbrüchige(Marie-Luise Lukas) ihr Reich. Noch ein Flüchtling trifft ein - Robinson kehrt schnell den Herrn heraus, irgendwann erträgt Freitag (Niels Heuser) die Tyrannei nicht länger, nach dem Krach sind beide einsamer als zuvor... Der Untertitel »Kreation für die Bühne« verweist auf die Entstehung des Stücks im Probenprozess. Wenn auch bei dieser Methode Fabellogik und Psychologie ein wenig zu kurz kommen, so wirken doch die Vorgänge ganz frisch, wie im Augenblick erfunden; die schöpferische Fantasie der Darsteller erscheint der von Kindern ähnlich. Und genau das bringt das Publikum im reifen Kindergartenalter zum Jauchzen: Es sieht sich mit der eigenen Erfahrung konfrontiert, aus nichts und einem Haufen Krempel alles zu machen - eine eigene Welt. Für die Jüngsten gab es in der Spielzeit 2004/05 außerdem noch »Urknall«, eine Koproduktion mit dem Theater Kasoka (und Horst Hawemann): Drei muntere Clowninnen suchen immer aufs Neue den Anfang vor dem Anfang - ein Spiel wie das von Kindern, das am besten nie aufhört. Die Darstellerinnen bieten nicht nur Schauspielkunst, sondern hantieren aufs Entzückendste mit bunten Riesenbällen und aufregenden Tieren: fröhliche Vorschule zum Erlernen der Theater-Zuschaukunst. »Helfen! Helfen!« formiert sich ein Sprechchor kleiner Stimmen, als eine Clownin unterm großen Sack fest klemmt und die anderen zu blöd sind, sie zu befreien; fehlt nicht viel, und die Winzlinge rennen selber auf die Bühne. Was beim »Urknall« auf Grund der Opulenz der theatralischen Bilder funktioniert, erscheint in »Hau ab! Komm her!« (von Börje Lindström) allerdings als problematisch: das Fehlen einer Story. Ein Mädchen und zwei Jungen - die nicht zufällig keine Namen tragen - begegnen einander; Verhaltensmuster wie Eifersucht, Aggression, Versöhnung werden dargeboten. Die Regie (Carlos Manuel) hat die sehr allgemeinen Vorgänge in die Konkretheit eines Neubaugebietes zu holen versucht und kindliche Verhaltensweisen sorgsam beobachtet. Trotzdem bleibt alles ziemlich abstrakt: Beckett für Kinder funktioniert kaum. Denn die müssen die Fülle des Lebens erst einmal kennen lernen, ehe sie zu Abstraktionen gelangen und Absurdes begreifen können. Ein Grund für die Aufnahme des problematischen Textes in den Spielplan war sicher die Thematisierung des Tabus Geschlecht, im Volksmund Doktorspiele: Wechselseitig werden die einschlägigen Organe beguckt. Vielleicht sind die Zuschauer (ab acht) aber aus dem Alter schon raus und/oder längst durch die Medien immunisiert, jedenfalls gibts keine Aufregung im Saal. In »Paulas Paul« stand das Thema Geschlecht ungleich differenzierter auf der Tagesordnung (ND vom 23.10.2004). »Fluchtwege« von Nick Wood stellt hohe Forderungen an die Zuschauer ab neun Jahre: Schwester und Bruder entrinnen gerade noch dem Krieg - der Vater vor ihren Augen erschlagen, die Mutter unter Schock, sie selbst traumatisiert; jetzt müssen sie sich mit einer neuen, fremden Umgebung vertraut machen. Die existenziellen Themen Krieg, Flucht, Rassismus werden über die Geschichte zweier Kinder erzählt, die dem jungen Publikum ganz nah sind. Diese Nähe, die den Zuschauern Respekt und Mitgefühl ermöglicht, ist nicht zuletzt das Verdienst zweier hinreißender junger Schauspieler (Nina El Karsheh, Sebastian Wirnitzer). Gemeinsam mit dem Regisseur Yüksel Yolcu verfolgen sie die psychischen Vorgänge in den Figuren genau und liebevoll und finden kräftige Bilder für deren Entwicklung - aus gehetzten Flüchtlingen werden zunehmend selbstbewusste Persönlichkeiten, die sich der neuen Umgebung stellen. Der Text ist oft episch; Szenen werden eingeblendet; der Rhythmus jagt atemlos, Spielorte wechseln jäh. Oft haben die Darsteller blitzschnell aus einer Figur in eine andere zu springen: neuer Hut - neue Figur. Letzteres bedeutet für die jungen Zuschauer zusätzliches intellektuelles Vergnügen - nämlich voller Stolz vielerlei Entdeckungen zu machen... Zwei Zehnjährige bringen einen dritten zur Ruhe, der mit Bonbonpapieren raschelt, sie wollen keinen Moment des aufregenden Geschehens verlieren; leuchtende Augen zeigen an, dass ihre Besitzer sich mit den Helden auf der Bühne fühlen.»Fluchtwege« steht schon seit drei Jahren auf dem Spielplan. Möge es dort noch eine Weile bleiben. Das Stück »Port« des Engländers Simon Stephens erzählt die Geschichte des Mädchens Racheal vom elften bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr, in fünf Stationen: Längst ist die Hafenstadt Port dank Frau Thatchers neoliberalem Wirken von jeglicher sozialer Entwicklungsdynamik abgekoppelt, längst haben die Heranwachsenden keine Lebensperspektive mehr. Vorgeführt werden verschiedene Alternativen, die keine sind: Kleinkriminalität, trübsinnige Ehe, Flucht; am Schluss bricht Racheal auf, um ihrem Leben einen Sinn zu geben. Der schonungslose Umgang mit der Realität, den der Text schon vorgibt, ist das Pfund, mit dem die Inszenierung (Philippe Besson) wuchert. Auffallend sind Mut und Körpersprache bei der Darstellung von sozial bedingter Spracharmut: Die Leute zappeln sich ab bis zur physischen Erschöpfung, um sich mitzuteilen - und vermögen es nicht. Alexandra Röhner schafft es auf erstaunliche Weise, für jede Lebensetappe der Heldin konkrete, genau beobachtete Haltungen zu finden.Eigentlich ist »Port« gar kein Jugendstück. Die Zuschauer aber von vierzehn aufwärts ziehen sichs rein wie einen Abenteuerfilm: Die Darstellung der Schritte ins erwachsene Leben - das ist ihr Thema. Und die soziale Misere, in der die Helden stecken, kennen sie, wohnhaft in Potsdam und Umgebung, selber ganz gut. Ich habe nie Zuschauer dieser Altersgruppe erlebt, die so aufmerksam - und so wenig zu Störungen aller Art bereit! - den Vorgängen auf der Bühne folgten: Ihre Sache wird dort verhandelt - und sie sind theater-zuschau-erfahren genug, um das zu verstehen. Eben da liegt die Chance für das Publikum: in der langfristigen Entwicklung des anderen Teils, der neben der Darstellungskunst das Theater ausmacht - in der Entwicklung der Zuschaukunst. Wieder einmal und auf ganz neue Art wächst dem Theater in Zeiten medialer Verblödung, vorgegaukelter Realitäten und programmierter Kommunikationsunfähigkeit eine soziale Verantwortung zu: den Zuschauern im unmittelbaren, gemeinsamen Erlebnis durch die Verfremdung der Szene die eigene Situation kenntlich zu machen - Zuschaukunst als Teil der Kunst zu leben... In dem Maße, wie Theater diese Verantwortung wahrnehmen, werden sie überleben. Das Kinder- und Jugendtheater im Hans-Otto-Theater Potsdam nimmt sie wahr. Für die Spielzeit 2005/2006 sind u.a. die Uraufführung eines neuen Stückes des »Fluchtwege«-Autors Nick Wood und eine »Odyssee«-Version für Kinder geplant. Die nächste Premiere: »Die Kuh Rosemarie« von Andr...

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