»in einen schönen rausch versetzt«

Zum Tode des Dichters Thomas Brasch

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.
Es ist eine literarische Kostbarkeit, ein kulturpolitisches Dokument: das »Poesiealbum 89« des Verlages Neues Leben, Berlin 1975. Der Herausgeber ist Bernd Jentzsch, der Autor Thomas Brasch, der Illustrator Einar Schleef. Das Titelblatt: ein gesichtslos bleibender oder gemachter junger Mann in Jeans (nur die Bartstoppeln treiben weiter, wie eine Graswurzelrevolution), die Hände hat er in den Hosentaschen, unter den Jeans gleich die Anatomie, offene Brust, offenes Herz, die Angriffsflächen also klar. Rundum ein verwirrender Schilderwald: lauter Verbote, kleine NVA-Signalposten mit ihren gelb-roten Flaggen eingestreut. Auf den weißen Balken in einem Schild für gesperrten Durchgangsverkehr ist »Bezug« aufgedruckt: Hinweis auf ein Berlin-Verbot? Überhaupt liest sich die Grafik wie eine surreale Verschlüsselung des Autoren-Lebens, und in klug gezirkelter Sklavensprache spricht Eckart Krumbholz einleitend davon, Brasch habe einen gewissen Hang zur Maßlosigkeit, »hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen«, und es gehe ihm um die »Lauterkeit der Revolution«. Die beigefügte Biografie Braschs: eine unverfrorene Radierung, eine zynische Verachtung des Tatsächlichen, das einem Leben aus Gründen politischer Züchtigung beigefügt wurde. Als sei es zum Beispiel das DDR-Normalste, ein Jahr zu studieren und dann: »Arbeit in mehreren Berufen«.
Das 32-seitige Heftchen endet mit den Zeilen: »Welchen Namen hat dieses Loch,/ in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.« Bald darauf werden Jentzsch, Brasch, Schleef das Loch verlassen. Wir haben damals, aus den Schützen-Löchern, keinen Verlust gemeldet ...
Ein deutscher Autor, ein Autor auch, der in Deutschland beheimatet war? Kollegenfreund Klaus Pohl beschreibt in einer Reportage von 1999 die Berliner Wohnung Braschs, eines notorischen Umziehers: Vorderteil Bürgertum, der hintere Teil »Osteuropa«: Aufgewühltheit, Aufbruchs- und Zusammenbruchs-Atem inmitten der Sesshaftigkeit; das Bett als Schreibtisch. Statt einer Poesie der Sammlung eine Poesie des überfüllten Arsenals. Pohl schreibt: »Das Marmeladebrot auf dem Transistorradio gehört seit Tagen einer Truppe schwarzer Fliegen. "Haut es weg!", ruft er den geflügelten Vierbeinern zu. Die Bücher auf der leeren Coladose vollführen eine astreine Balance-Nummer!«
Das Notat ist mehr als ein anekdotisch schmückender Voyeurismus, mehr als das dem Reporter willkommene obligate Boheme-Indiz. Dieser Brasch ist offenbar ein Mensch des gekühlten, trotzdem gierigen Einverständnisses mit dem Chaos, den Zwischen-Räumen, den Provisorien. Was denn anderes blieb ihm? Er musste mählich, aber unausweichlich mit dem unsicheren Kredit des Wechsels einverstanden werden: geboren 1945 im britischen Exil der jüdischen Eltern; später dann die DDR, wo er als Kind mehrfach die Klasse wechselte. Immer ist er der Fremde; Blicken ausgesetzt, die Prüfung sind, und die Biografie wühlt sich in den Widerspruch: Kadettenschule der NVA, Journalistikstudium und Schlagzeuger der »Jackets« - Exmatrikulation wegen »Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR« und »existentialistischer Anschauungen«. Packer, Kellner, Straßenbauarbeiter, Filmhochschule Potsdam-Babelsberg - dann, beim Prager Einmarsch 1968, Gefängnis wegen »staatsfeindlicher Hetze«, Bewährung in der Produktion, als Schlosser und Fräser. Ein Eisenfresser bleibt er auch als Dichter.
Dem Lyriker, Erzähler und dem Theatermann (auch als Dramatiker ein anarchisch-sinnlicher Lyriker) wird der Westen ebenfalls keine Heimat - trotz großer Bühnenerfolge und umfänglicher Preisvergaben. Ende der Siebziger nämlich war Brasch mit Katharina Thalbach und deren Tochter Anna ausgereist, nachdem Honecker eine Veröffentlichung der Erzählungen »Vor den Vätern sterben die Söhne« abgelehnt hatte. Honecker und Braschs Vater Horst: eine FDJ- und DDR-Funktionärsfreundschaft. Katja Lange-Müller, Monika Maron, Thomas Brasch - die höhere politische Weihe des Elternhauses als Ausbildungsplatz für ein erstarktes Denken der Treulosigkeit, für Traditionsbruch und freiwillige Ächtung des ererbten Schutzraums. »In der Quelle sieh den Fluß/ der dir die Lunge sprengt«. Aus der Erfahrung des erniedrigten Ziels erwächst das hohe Ideal des Verrats. (Aber die Verräter waren andere!). Und Braschs Grunderlebnis wird das, was bleibt: vom Hunger die Fressgier, von der Liebe der Hass, und wer einmal friert, so schreibt er, wird die Kälte nicht los.
»Wo ich wohne ist meine Verkleidung«. Die wechselnden Betten im Westen: eine Notliege; die Feier der Freiheit: eine Notlüge. Auch Erfolg wird dem Dichter nicht zur Wohnung, der Koffer schon eher. Aber suchte er früher nach einem Ort, zu dem hin man fliehen könnte, so festigt sich mehr und mehr das Bewusstsein dafür, dass es überall nur darum gehen kann, schnellstmöglich wieder abzuhauen. Ein an Abwechslung bescheidenes Vergnügen freilich im geschlossenen Raum namens Welt. Das wird beim Epochensturz 1989 nicht besser. Im Jahr, in dem der Vater stirbt. »... vereinigt wer die Welt: geteilt war sie mein Maß/ jetzt ist sie hin WOHIN o Schreck und lächerlich.«
So einer, alles Letzte wissend und in seinem Werk gern einen fairen Anteil an aller blutigen, blöden Lächerlichkeit der geschichtlichen Hysterien übernehmend, so einer wird sich nicht aufspulen an einem aufgeregt wiedervereinigten Deutschland, das seine Temperaturanstiege als Welt-Erwärmung hochrechnen möchte. »Wer hat das Volk gemalt auf die zerfallnen Mauern/ daß die Gesichter wurden zu Gespenstern./ Wie heißen diese Zeiten und wie lange solln sie dauern/ die Stimmen abgegeben kauern wir jetzt in den Fenstern.« So einer möchte auch nicht als Opfer herumgepriesen werden, und so einer geht natürlich jeder Wortmeldungspflicht, die jeweilige Lage der Nation betreffend, mit angemessenem Ekel aus dem Weg; so einer verlängert nicht jede eigene Meinung zum Buch, nein, so ein Radikalist des Empfindens bittet auch nicht um Öffentlichkeit, er kann warten, bis die auf sein Niveau kommt. So einer arbeitet über sieben Jahre an einem einzigen Roman (über den Mädchenmörder Brunke), vor allem übersetzt so einer Shakespeare für Claus Peymanns Berliner Ensemble. Kontinuität einer Zusammenarbeit schon zu Zeiten des Wiener Burgtheaters: »aneignung einer aneignung, die mich in einen schönen rausch versetzt.« Denn ganz tief in Shakespeare ist er, »einer der sich selbst nicht kennt«, ganz tief in der Wahrhaftigkeit. Diese Übersetzungen sind witzig, abgründig, die Dialoge von schräger Aasigkeit - die alte kalte Zeit: ein Gruß von morgen.
Brasch, der inzwischen mächtiger gewordene Mann mit dem recht mächtigen Schädel, früher eher von melancholisch-trauriger Intellektuellen-Schmalheit (nur die tiefdunklen Augen sind geblieben) - er ist ein Mensch, der gewiss Raub an sich betreibt: So einer nimmt sich das Leben, indem er es sich hernimmt, es rücksichtslos auf sein Laken zieht und in seine Fantasien. Das Programm steht auf Verschleiß. (Braschs Bruder Klaus, Schauspieler, starb übrigens 1980, sein Bruder Peter, Schriftsteller, vor wenigen Monaten). Des Dichters Geschichte ist eine der leidenschaftlich offenen Verquickung des Jüdischen mit dem Deutschen, von Erdentritt und Höhenflug, von beseelter Unruhe und schwerer Verharrung, von menschenfressendem Liebesfieber und großer Einsamkeit vor dem Papierblatt. Wahrscheinlich besteht für diesen zarthautenen Wuchtling das Dasein genau in jener unaufhebbaren Polarität, die er anlässlich seiner »Richard II.«-Übertragung in einem Brief an Claus Peymann so benennt: »Die Krone und der Eimer/ das Gold und das Wasser/ der Morast und die Moral/ ... / das Spiel und das Gesetz.« Von allem alles, und jedes Extrem gleichzeitig und genießerisch.
Brasch, den einst Helene Weigel schützend ans Brecht-Archiv holte, arbeitet also in den letzten Jahren fürs und wohnt am BE, und er freut sich - so beschreibt es Klaus Pohl -, dass nachts sein vorhangloses Zimmer überm exklusiven »Ganymed« noch beleuchtet ist und ihm vom Brecht-Platz gegenüber jeder in die Bude schauen kann. Ob er nun schreibt oder aus der Wohnung heraus Filme dreht oder ob er im Bett liegt. Ob Letzteres nun allein oder nicht, ob mannsruhig oder frauenbewegt (»spiel du den wahn ich spiele seinen sinn/ und wahnsinn heiße was uns zwei vereint«). Er wohne, sagt Brasch grinsend, öffentlich privat.
Das Chaos sei inzwischen »ausgezogen«, beobachtet Pohl in erwähnter Reportage »Das Deutschlandgefühl«, aber nicht ganz, es findet sich noch in jenem Lichthof hinten, in den Brasch oft und gern per Holzleiter hinuntersteigt. Glücklich darüber, dass er endlich an einem Platz Berlins lebt, der weder Ost- noch Westberlin sei, sondern »Owe-Berlin«. Sagt: »In Ostberlin hätte ich nicht begraben sein wollen, in Westberlin hätte ich nicht sterben wollen.« Lange vorher hatte er gedichtet: »Wo ich sterbe, da will ich nicht hin: bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«
Am vergangenen Sonnabend ist der...

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