Eine rote Strähne im Haar
Was die Malerin Gabriele Meyer-Dennewitz und Jesus Christus gemein haben
Carwitz, im Juni 2005. Erst vor wenigen Tagen hat Prof. Gabriele Meyer-Dennewitz ihren 83. Geburtstag gefeiert. Das schöne alte Fachwerkhaus drohte auseinanderzubrechen, so viele Gratulanten fanden sich ein - ihr Sohn, die Schwiegertochter, die Enkel, Freunde, Kollegen und Bekannte. Jetzt, da wir sie besuchen wollen, sieht das Haus verlassen aus. Die Tür und die Fenster sind fest verschlossen, kein Hauch bewegt die Gardinen dahinter. Doch sie öffnet, bevor wir klingeln können. Sie hat uns erwartet, sie freut sich immer, wenn jemand das Gespräch mit ihr sucht. Auch der kleine schwarze Hund, der mit ihr zur Tür getollt kam, scheint vor Freude aus dem Häuschen - er zerfetzt gleich das Seidenpapier, das um den Strauß gewickelt ist, den wir ihr überreichen möchten.
Der Hund heißt Theo und ist erst drei Monate alt, ein Geburtstagsgeschenk von Freunden. Er macht Gabriele Meyer-Dennewitz ganz wuschig: »Eine Katastrophe«, klagt sie, »eine alte Frau soll ein Baby betreuen.« Die Malerin ist klein und zierlich. Früher einmal war sie 1,52 Meter groß, jetzt misst sie nur noch 1,48. Das kurz geschnittene schlohweiße Haar ist ihrem Alter angemessen, aber die Augen, die blauen Augen glänzen noch unglaublich lebendig, wie polierte Edelsteine. Als seien sie sich ihres Wertes bewusst. Als wüssten sie, dass sie es sind, mit denen die Künstlerin die Welt sieht, und dass sie noch gebraucht werden.
Aber so stimmt das ja nicht ganz. Gabriele Meyer-Dennewitz hat die Welt immer auch mit dem Herzen gesehen. Als sie eine junge Frau war, nahm der Krieg ihr den ersten Mann: Erich Dennewitz konnte die Geburt des Sohnes Ekkehard nicht mehr erleben. Sie selbst war zusammen mit ihrer Mutter verschüttet. Nach Kriegsende hat sie sich der Gewerkschaft und der KPD angeschlossen. Das große Herz, mit dem sie sieht, schlägt für das »Wahre und Gute«, wie sie sagt, für Ideale wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Frieden. Sie gab sie an ihre Studenten weiter. Sie, die in Leipzig an der Staatlichen Akademie der Graphischen Künste studiert hatte, unterrichtete dort später selbst (da war aus jener Akademie schon die Hochschule für Graphik und Buchkunst geworden), später dann an der Karl-Marx-Universität. Und natürlich pulsiert ihr Herz in allen ihren Arbeiten: In den Illustrationen zu Bertolt Brechts »Der Kaukasische Kreidekreis«, in den Grafiken, zu denen sie Tschingis Aitmatows Romane »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« und »Die Richtstatt« inspirierten. Noch in scheinbar alltäglichen Themen, die sie gestaltet, erspürt man es. Ich denke an ihr Bild »Unkraut vergeht nicht«, das 1987 entstand: Grüntöne dominieren es, im Hintergrund eine Gartentür, die wohl zigmal am Tag geöffnet und wieder geschlossen wird, und doch behauptet sich in ihrem Schrammwinkel ein kräftiges Büschel Schafgarbe, ja es blüht sogar ganz prächtig. Die weißen Blüten leuchten von innen und erhellen das ganze Bild: Wie viel Kraft doch im scheinbar Wertlosen, gering Geschätzten, Verschmähten wohnt! Der Blick der Malerin auf die Benachteiligten ist immer achtungsvoll, von Sympathie geprägt.
Auch ihr Bild »Der Tod ist groß«, 1983 gemalt, ist sehr berührend. Rainer Maria Rilke schrieb: »Der Tod ist groß/ Wir sind die Seinen,/Lachenden Munds./ Wenn wir uns mitten im Leben meinen/ Wagt er zu weinen/ Mitten in uns.« Der Tod weint in ihr seit dem Verlust ihrer ersten großen Liebe. Verlust immer wieder: der Vater, die Mutter. Auf ihrem Bild sitzt, an einen Baum gelehnt, eine lichthelle Gestalt. Hinter dem Baum der dunkle Tod, eine Blume in der Hand - es war ein sanfter, gütiger Tod, den sich die Malerin für ihre Mutter wünschte. Wünscht sie sich auch selbst einen Tod, der eine Blume in der Hand hält? Sie sagt, wenn es einmal so weit sei, dann möchte sie umfallen - neben ihrer Staffelei.
Gabriele Meyer-Dennewitz malt immer noch, fast jeden Tag. »Was soll ich denn sonst tun«, meint sie, »ich kann ja nichts anderes.« Sie erzählt von Einsamkeit. Die kennt sie, seit vor einigen Jahren ihr zweiter Ehemann, der Grafiker Wolfgang Meyer, starb. Mit Wolfgang Meyer teilte sie 42 Jahre. Sicher, große, berühmte Maler haben ihr Schaffen mitgeprägt - sie hatte das Glück, unter anderem bei Max Schwimmer, Max Lingner und Hans Grundig zu lernen -, doch »wir beide, Wolfgang Meyer und ich, haben uns gegenseitig künstlerisch wohl am allermeisten beeinflusst«. Alleinsein, das kannte sie vorher nie. Ihre Leipziger Wohnung besaß sieben Zimmer und sage und schreibe drei Ateliers - eins mit über 60 Quadratmetern. In der Wohnung wohnten auch ihr Sohn Ekke und seine Familie. Heute ist der Sohn weit weg, Intendant am Theater in Marburg. Einsamkeit. Vor allem im Winter. Seit 1964 erholte sich die Familie hier, seit 13 Jahren ist Carwitz ihr Hauptwohnsitz. Sie ist mit dem halben Dorf per du, hat gute Freunde, die ihr helfen, Kollegen, mit denen sie telefoniert, »doch am Telefon kann man nichts zeigen, der andere kann ja nichts sehen«. Und wenn es um vier Uhr dunkel wird, ist es ihr oft unheimlich.
Heute wird Gabriele Meyer-Dennewitz nicht malen können: Theo hat ihre Brille verschleppt, sie kann die Brille nicht wiederfinden. Außerdem muss sie sich bei der Arbeit konzentrieren, und das klappt nicht, wenn sie gleichzeitig auf den Hund aufpassen muss. Immerhin kann sie Theo schon so lange allein lassen, dass sie mit uns auf den Dachboden steigen und uns ihr Atelier zeigen kann.
Ein großer, lichtdurchfluteter Raum. Neben einem Renaissance-Schrank ein ans Kreuz geschlagener Christus. Diese Darstellung mag sie sehr, weil dieser Christus »ein klein wenig traurig aussieht«. Zu Jesus Christus hatte sie schon immer eine tiefe Beziehung. »Eine tiefe emotionale Beziehung zu einem Menschen, der nicht widerrufen hat und dafür gestorben ist«, hat sie einmal gesagt. Seit der Wende trägt Gabriele Meyer-Dennewitz ebenfalls eine Traurigkeit in sich. »Weil es nicht geklappt hat.« Und weil sie nicht genug dafür getan hat, dass es klappt. Nicht, dass sie in der DDR-nicht gesagt hätte, was sie denkt. »Aber vieles ist mir nicht in seiner Konsequenz bewusst geworden. Ich habe zu wenig meine Möglichkeiten genutzt, Einfluss zu nehmen. Ich habe manches nicht gesehen. Oder nicht sehen wollen, aus Disziplin. Es war falsch, sich den Auseinandersetzungen um die Vielfalt der Kunst nicht zu stellen.« Hätte sie etwas ändern können? Wenn ja - hätte das etwas geändert?
Jesus Christus und Gabriele Meyer-Dennewitz haben etwas gemeinsam: Die Treue zu ihren Idealen. Starrsinn? Realitätsferne? Ideale haben immer nur so viel mit Realität zu tun, als sie ihr entspringen - als Wunsch, diese zu verändern. Sie weiß nicht, wie es heute gelingen könnte, Arbeit für alle Menschen zu schaffen, sie weiß nicht, wie die Welt gerechter oder sogar friedlich wird. Als Künstlerin muss sie das auch nicht, es ist nicht ihre Aufgabe. Aber den Glauben, dass es möglich sei, das große Unrecht zu beenden, »dass der eine verhungert und der andere nicht weiß, wohin mit seinem Geld«, den will sie nicht aufgeben. Sie ist immer noch PDS-Mitglied, und dass die PDS jetzt »Die Linkspartei« heißt, scheint ihr eine Hoffnung zu sein. Gerade arbeitet sie an einem Bild, das sie »Die rote Wolke« nennt. »Die Zeit«, sagt sie, »trägt keinen roten Stern mehr im Haar, aber eine rote Strähne.« Dabei fließt ihr ein Lächeln übers Gesicht. Das Bild hat sie schon in die Galerie, in ihre ständige Ausstellung in Thomsdorf gegeben, will es aber noch einmal zurückholen. Es ist zu dunkel, es gefällt ihr noch nicht. Hans Grundigs Worte hat sie verinnerlicht: »Das Thema kann noch so schwer sein, es muss trotzdem ein schönes Bild werden.«
In den Thomsdorfer »Kunstkaten«, wo u.a. ihr Bild »Macht-Los« zu sehen ist In den letzten Jahren hat Gabriele Meyer-Dennewitz viele Bilder zu »schweren Themen« gemalt. Wenn sie die Zeitung liest oder etwas im Fernsehen sieht, »dann muss das raus, sonst würde ich dran ersticken«. Sie muss das, was sie berührt, aufwühlt, verstört, dann »abarbeiten«, und sie ist dankbar für die Gabe, »auf diese Art mit anderen kommunizieren zu können«. Sie sei eine schnelle »Arbeiterin«, erzählt sie. Wenn sie beispielsweise jemanden porträtiere, was sie stets als Herausforderung empfinde, brauche derjenige ihr nicht länger als zwei Stunden Modell zu sitzen. Dann habe sie die Persönlichkeit erfasst, dann könne sie zu gestalten beginnen. Im Fallada-Haus in Carwitz hängt ihr warmherziges Porträt von Anna Ditzen. Sie hat Falladas Frau noch kennen gelernt, doch ihr Porträt erst nach deren Tod gemalt - aus dem Gedächtnis. Erleichterung und großes Lob, als Annas Söhne staunten: »Sie ist es!«
Gabriele Meyer-Dennewitz ist unentschlossen. Sie möchte mit uns in die Galerie nach Thomsdorf fahren, die auch ihr Archiv verwaltet, hat aber Angst, Theo so lange allein zu lassen. Wenn Theo allein ist, zerkratzt er die Möbel, und wer weiß, was er sonst noch anrichtet. Der kleine wilde Kerl hat schon ihre Katze Anna vertrieben, die seit dem Geburtstag im Schuppen schläft, weil sie sich nicht mehr ins Haus traut. Dann fahren wir trotzdem, denn es ist wichtig. Wir laden sie ein, bei uns mitzufahren, obwohl sie selbst noch Auto fährt. Auto fahren hat sie erst nach dem Tode Wolfgang Meyers gelernt, da war sie schon 74. Eines Tages, als sie sich wieder einmal sehr einsam fühlte, erzählt sie, habe der Sohn ihres Arztes, Thomas Vogtländer, der ihr in Haus und Hof zur Hand ging, das Auto aus der Garage gefahren und gesagt: »So, jetzt setzt du dich rein und fährst!« Nach einigen illegalen Fahrstunden habe er sie dann bei der Fahrschule angemeldet. Und wirklich, sie bestand die Prüfung! Aber weit fahre sie alleine nie. Nicht, weil sie ihren Fähigkeiten misstraue, sondern ihren Zuständen: »Ich habe Angst davor, dass mir mal schlecht wird. Oder mein Körper auf andere Weise versagt. Die Jüngste bin ich ja nun nicht mehr.«
Im Thomsdorfer »Kunstkaten« wird sie schon von Hubert Ilchmann erwartet. Er und seine Frau verkaufen Keramik und Bilder von Künstlern, die sich Geld damit verdienen, für die Wohnzimmer zu malen, »aber Gabriele Meyer-Dennewitz ist unser Zugpferd: Die Leute kommen wegen ihr, ich mache hier auch Führungen.« Im Obergeschoss des »Kunstkatens« finden wir dann ausgestellt, was sie in den letzten Jahren aus sich »herausarbeitete«: »Die Geldfresser«, »Marionetten«, »Die Spieluhr«, »Die Eiferer«, »Gefährliches Spiel«, um nur einige zu nennen. Für ungeübte Augen ist es nicht leicht, ihre Bilder zu entziffern. Dabei kann man sie wie ein Buch lesen: »Die Eiferer« (1998) zum Beispiel, die sie erbost nach einer Talkshow von Sabine Christiansen gemalt hat, sind hohl schwätzende Leute mit langen Schnäbeln, die aufeinander einhacken. »Die Spieluhr« (1999) zeigt einen Halbstarken, einen König, eine Malerin, eine Mutter, ein Kind - die Uhr dreht sich. Will heißen, alles wiederholt sich, und oben der mit dem Stundenglas, vor dem letztlich alle gleich sind. In »Gefährliches Spiel« (2001) beschäftigt sie sich mit der Gentechnik: Da ist der Apfel der Erkenntnis und Wissenschaft mit zwei Gesichtern - wer ist das, der aus der Retorte steigt? Es wird davon abhängen, wofür die Wissenschaft sich entscheidet. Folgt sie dem Geld oder der Ethik? Oder »Macht-Los«, gemalt nach dem 11. September 2001: Christus, nicht ans Kreuz genagelt, sondern an den Menschen, der schlecht ist. Doch so düster die Themen auch sind, wir sehen wunderbare Bilder.
Die Malerin nennt jene, die sie seit 1989 schuf, ihre »wesentlichen«. Sie seien kraftvoller als alle früheren. Hubert Ilchmann stellt sie gern in die Tradition von George Grosz, Otto Dix, Lea und Hans Grundig, Käthe Kollwitz und Franz Masereel. Doch so schmeichelhaft dies ist: Vorsicht, er ist ihr Galerist. Und in Traditionen gestellt zu werden, schmälert auch immer Eigenes. Gabriele Meyer-Dennewitz ist das im Augenblick ziemlich egal. Sie will nach Hause, sie ist müde. Und sie macht sich Sorgen um Theo. Und wo nur ihre Brille steckt? Ilchmann sagt: »Hast du richtig gesucht? Warte, ich komme nachher mal rüber.«
Zurück in Carwitz, verabschieden wir uns. Noch ist sie nicht ins Haus gegangen, als sich eine Gardine bewegt - Theo! Sie verharrt kurz, um uns zu nachzuwinken. Eine zierliche Person, die mit einem Hund üb...
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