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Von Christina Matte

  • Lesedauer: 10 Min.

Bier für alle; hab ich gesagt!« Es ist der 30. April 1999, und Flint hat es zum letzten Mal gesagt. Zum letzten Mal Heiner Müllers »Die Bauern« auf der Bühne des BE. Freundlich gemessener Schlußapplaus. Bis der erste sich erhebt. Jetzt! Gleich wird der Saal aufstehen, um eine Theaterära, die sich unwiderruflich verabschiedet, mit Standing Ovations zu ehren. Ein zweiter erhebt sich, ein dritter, ein vierter ...

Man drängt zum Ausgang, man will gehen. Die Wahrheit ist, am Ende steht nichts. Das Publikum, das hier die legendären Inszenierungen Brechts feierte, gibt es nicht mehr; es bleibt längst weg. Und dies hier kann sich nicht mal mehr' erinnern.

Das war's, der Saal beginnt sich zu leeren. Da ertönt eine muntere Stimme: »Bitte, meine Damen und Herren, bleiben Sie doch noch ein bißchen!« Das Publikum zögert, die muntere Stimme lädt zu einer Veranstaltung ein, die »Wir verkaufen unser Oma ihr klein Häuschen« heißt. Es lohne sich, wieder Platz zu nehmen, manches Schnäppchen erwarte einen, man werde jetzt das Erbe verschleudern.

Die Stimme gehört Jürgen Kuttner Warum Kuttner? Warum nicht. Jemand muß gedacht haben, der Kult-Moderator des Jugendsenders mache sich besser als Grieneisen. Den älteren Herrn, der neben mir steht, überzeugt die Wahl trotzdem nicht: »Vielleicht hätte diese Rolle auch einer von uns noch mal spielen können.«

Das »Uns« ist ihm so rausgerutscht. Es gibt kein »uns« mehr, und er weiß es. Aber wenn er es vergißt, ist es, als sei alles wie früher- als kämen die meisten morgen wieder, als hätten sie nicht bis zuletzt gezögert, am großen Kehraus teilzunehmen: »Man muß sich nicht alles antun, es reicht.« Schließlich tut man sich doch alles an, zumindest der Herr neben mir

Trotz der lauen Sommernacht trägt er einen langen Schal. Unterm Arm einen Kasten Pralinen. Er hat fast immer Pralinen bei sich, klar doch, es ist Werner Riemann: Urgestein, Faktotum des Theaters am Bertolt-Brecht-Platz, ewiger Regieassistent. Er spielte in mehr als 60 Stücken, unter anderem einen der Mönche in der Papstszene des »Galilei«, den Wekwerth und Tenschert inszenierten. Eine Szene, für die das BE während eines Gastspiels in Rom 1985 Lob vom Vatikan erhielt: Die Präzision des Rituals, vom Alltag längst abgeschliffen, überträfe die Wirklichkeit.

Erfolge, auf die Riemann stolz ist. Er war nie der Erste, nie der Größte, nun wird er berühmt als der Letzte. »Brechts letzter Mime«, schrieb »Die Welt«. Ja, er hat ihn noch gekannt. Und all die andern, die schon seit Jahren auf dem Dorotheenstädtischen liegen. Seit einiger Zeit führt er Besucher durch die Räume des BE: »Das schönste Theater in ganz Berlin.« Er führt durch die alten Korridore, die nach Linoleum und Holz riechen, durch die engen Garderoben, das Foyer mit den herrlichen Glastüren. Und immer zeigt er den Zuschauerraum: die dunkelroten Samtbezüge, die Weigel-Loge, die Drehscheibe, die BeJeuchterbrücke, den Schnürboden. Wenn dann die Prospekte teranterfahren, sagt er- »Kunst ist auch

nur Fabrik. Obwohl es bei Brecht, wie Sie ja wissen, nicht so viel Scheinwelt wie anderswo gibt.« In den letzten Wochen freilich war auf der Bühne nicht mehr viel los. Diese Stille, diese Leere. Riemann trat an die Rampe, verbeugte sich und deklamierte mit lauter Stimme in den leeren Saal hinein: »Sehr geehrte Damen und Herren, Sie sehen nichts. Denn wir haben nichts mehr inszeniert.«

Inzwischen hat die Auktion begonnen. Das Erbe »aus der heroischen Phase sowie Reliquien und Unikate aus den Inszenierungen der letzten sieben Jahre« werden versteigert. Objekte von »spekulativem Wert, der wie bei Aktien steigen wird, sollte das Berliner Ensemble eines Tages die Qualität eines Mythos erlangt haben«. Kuttner läßt eine Sekunde vergehen: »Wobei das BE ja eigentlich schon immer mehr Mythos als real war«.

Was meint er? Daß man sich inszenierte und arrangierte und niemals wirklich aus der Rolle fiel? Daß der revolutionäre Gestus zunehmend Pose ward, Ästhetik? Darüber müßte man nachdenken, wenn man etwas Zeit hätte. Hat man aber nicht: Ein Kneipenglas aus den »Bauern« geht ins Rennen. Niemand scheint scharf darauf zu sein. »80 Pfennig«, lockt Kuttner, »samt Büchse. Die Büchse ist selbstverständlich voll, das Bier hier drinnen ist billiger, als unten in der Kantine.« Zwei Mark werden geboten, zwei fuffzig. Für zwanzig Mark geht das Glas weg, samt Büchse. Dann ein Koffer ohne Wände. Dann eine Fahne aus Pappmache. Eine rote, jawohl, genau die: der berühmten roten Fahne aus der »Mutter« nachgebildet. Das Mindestgebot

beträgt 20 Mark, die Gebote schleppen sich auf 50, 60, 70, 80. »Naja«, überlegt der Moderator, »man kann ja nicht besonders viel mit so einer Fahne anfangen. Aber morgen ist 1. Mai, da kann man damit schon was hermachen.« 105 Mark! Kuttner grinst: »Die Intellektuellenfraktion!« 130, 150! Zum ersten, zum zweiten und zum dritten.

»Gib mir die Fahne«, sagt die Weigel. Riemann hat sie gern kopiert. Ihre edle, herrschende Stimme. Jörg Trentow steht in der Kantine. Riemann nähert sich von hinten, tippt ihm auf die Schulter und sagt: »Du kommst nachher mal in mein Büro.« Plötzlich steht sie hinter ihm, tippt ihm ebenfalls auf die Schulter und sagt mit ihrer großen Stimme: »Und du kommst gleich mit, Riemann.«

Die Weigel: die Hohepriesterin. Die Ikone des BE. Die Alte, wie sie genannt wurde, »aber bei ihr war es ein Titel«. Eine strenge Prinzipalin, die beste, die Werner Riemann ja hatte. »Sie hat sich um alles gekümmert: um die Leute, die Wohnungen, die Lebensmittelkarten, die Kinderkleidung, um unsere Ausbildung.«

Es war die Weigel, die den jungen rothaarigen Schauspieler für die Regieassistenz interessierte. Er hat Fritz Marquardt, Peter Kupke, Manfred Wekwerth, Christoph Schroth, Carlos Medina, Karl von Appen und B.K. Tragelehn assistiert, um nur einige zu nennen. Mit den Großen kommt man nur aus, wenn man selbst bescheiden und klein bleibt. Manchmal springt der Regieassistent, der das Stück ja aus dem Effeff kennt, für einen erkrankten Schauspieler ein. Er hätte sich größere Rollen gewünscht. Doch irgend-

wie blieb er hier hängen. Weil hier mehr als ein Job war, hier war Familie: Er hat seine Kinder hier gewickelt und, nachdem er geschieden war, sogar eine Weile hier gewohnt, im sogenannten Scheidungszimmer Und manchmal sagte die Weigel mütterlich: »Riemann, ich brauch deine Feuermelder« Damit meinte sie seine Kinder, die so rothaarig wie er und inzwischen erwachsen sind...

Jemand aus dem Publikum ruft: »Kuttner, wohin geht das Geld?« Der stöhnt. Hat er das nicht gesagt? Mann, er findet es immer so blöd, von einem guten Zweck zu reden. Kurz, das Geld geht an Unicef. Auch das Geld, das der Grenzstein aus Pappe mit der historischen Ziffer 13 und den Autogrammen der Mimen aus den »Bauern« bringen wird. Zehn Mark sind gesetzt, Leute, nun bietet! 40, 60, 80,100. Noch gibt Kutter keinen Zuschlag, »wo kriegt man für 100 Mark 'nen Grenzstein?« Zwei Herren überbieten sich. Bei 400 Mark steigt der eine aus, der andere schreibt einen Scheck aus. Ein alter Kantinenstuhl nach Entwürfen Helene Weigels bringt 520 für Unicef.

Stichwort Kantine. Riemann schlägt einen kurzen Abstecher vor Da kann er mir die Lampen zeigen, die ebenfalls die Weigel entwarf, und die Bilder an den Wänden.- Gastgeschenke von Tourneen und Fotografien, die dem Ensemble und der Weigel gewidmet sind. Leider soll daraus nichts werden. Die Kantine, letztmals geöffnet, ist verraucht und gerammelt voll - von den Bildern nichts zu sehen. Die Requisite nahm sie ab, weil sie, wenistens zum Teil, den Brecht-Erben gehören könnten, von denen sich an diesem Abend erwartungsgemäß keiner blicken läßt. Außerdem könne niemand wissen, ob Peymann, der Neue, die alten Bilder überhaupt noch haben möchte.

An einem der Tische entdeckt Riemann Nieder Gerhard Nieder, jahrzehntelang Chefbeleuchter des BE, danach Technischer Direktor Jetzt, als Rentner, beaufsichtigt er das Baugeschehen, das demnächst das alte Haus erschüttern wird:

Peymann braucht unter anderem eine größere Probebühne.

Auch Nieder ist nicht in Jubellaune. Beerdigungen feiert man nicht. Lieber ein bißchen zusammensitzen und von den alten Zeiten reden. Wie skeptisch die Weigel damals geguckt hat, als er vom Metropol zum BE kam! Wieviel leichter es war, eine schöne, bunte Operettendekoration ins richtige Licht zu setzen, als einen kargen Bühnenraum ruhig-gleichmäßig auszuleuchten. Wie einmal, auf der Bühne vorn rechts, ein kleiner dunkler Fleck geisterte, so daß Schalls Gesicht nicht zu sehen war Wie Horst Sagert für den »Urfaust« ein Licht »zwischen Hieronymus Bosch und Diderot« von ihm verlangte. Wie das Theater fast abgebrannt wäre, hätte Nieder, der gewöhnlich »aus dem Ärmel arbeitete«, nicht vor der Vorstellung noch einmal aus dem Zuschauerraum das Ergebnis geprüft und gemerkt, daß der Horizont glühte.

Trotz oder gerade wegen all dieser Erinnerungen ist Gerd Nieder fast froh, daß jetzt Schluß ist. »Die Weigel-Zeit war die größte«, sagt er »Die Zeit mit der Berghaus war auch noch mal groß. Wekwerth war noch gutes Theater, aber schon zu akademisch. Doch was hier zuletzt gezeigt wurde, war dem alten BE kaum noch angemessen.«

Riemann nickt. Zu Wekwerths Arbeit hat er eine andere Meinung, aber sonst sieht er es ähnlich. Vielleicht hat alles seine Zeit. Vor der Wende hätten sie ja selbst schon zu überlegen begonnen, ob manche Stücke noch spielbar seien. Dann, als die Mauer offen war, spielten sie die »Courage«, und das Haus war voll! »Wir hätten weiter Brecht spielen können, wenn wir die Rechte gehabt hätten. Dann wären wir eben Museum gewesen. Irgendwie sind ja alle Theater Museen. Hier wollen die Leute Brecht sehen, und das wird auch so bleiben«, glaubt er

Er greift in die Pralinenschachtel. Sicher, jetzt sei es zu spät. Von »Ensemble« könne man ja nicht mehr reden. Ein ewiges Kommen und Gehen. Weil jeder Neue wie ein Chefarzt seine weiße Wolke mitbringt und, wenn er geht, auch wieder mitnimmt. Wie oft sie hier früher zusammensaßen! Nieder schüttelt zweifelnd den Kopf: »Das hat schon früher angefangen, daß wir auseinanderfielen. Als die Leute mehr Geld verdienten.«

Während die beiden das Thema vertiefen, gehe ich zurück in den Saal. Kuttner versteigert den Rock der »Courage« aus der Inszenierung mit Gisela May Er geht für 140 Mark weg. Das Kostüm, in dem Bernhard Minetti zum letzten Mal aufgetreten ist, nimmt jemand für 200 mit. Happy birthday! Das Plakat von Robert Wilson startet mit 150. Kuttner wird um Auskunft gebeten, ob der Meister die Arbeit selbst ausführte. Er zögert einen Augenblick. »Wir sollten mal davon ausgehen. Wir sollten doch optimistisch sein und uns durch den Charakter des Abends nicht in Verzweiflung stürzen lassen. Das Leben geht weiter, 290! Zum ersten, zum zweiten und zum dritten.

Von diesen bewegenden Szenen wird es keine Fotos geben. Ute Eichel, die Hausfotografin, ist lieber zu Hause geblieben: Wen sollten die Fotos noch interessieren? Sie ist »todtraurig«, doch wie Gerhard Nieder »eigentlich froh, daß es vorbei ist«. Ihre Zeit hier ist vorbei. Die beste für sie war die Zeit mit Zadek. Morgens, zu Beginn der Proben, ließ er sich ihre Bilder zeigen und sagte: »Die sind warm, die leben.« Ute Eichel, die nicht den Ehrgeiz hatte, »auf die Kunst des Regisseurs noch eins draufzusetzen mit meinen Bildern«, glaubte ihm und fotografierte fortan hingebungsvoll wie nie. Seit Zadek ging, sei nichts mehr passiert. Seitdem schlichen die Tage dahin. Deshalb scheidet sie »freundlich von hier«.- Weil sie möchte, daß der Vorplatz mal wieder voll ist, und nicht meistens leer Weil man nicht die Frösche fragen darf, wenn man einen Sumpf trockenlegen will. Weil ihr so die Hoffnung bleibt, hier wieder mal gutes Theater zu sehen. Und weil Peymann der richtige sei: kein Rumprobieren mehr, gute Stücke!

Zu den letzten guten Stücken, die Kuttner unter den Hammer bringt, gehören ein Frack, das Pinguinkleid und ein Tüllkleid aus »Puntila« nach Entwürfen von Einar Schleef. Teuer, teuer, doch irgendwie war alles an diesem Abend zu billig. Dann packt der Kult-Moderator ein, dann leert der Saal sich endgültig.

Im Kassenraum tanzt man in den Mai. Bier für alle, Bier und Wein. Riemann nimmt eine letzte Praline und schwatzt ein letztes Mal mit der »Familie«. Wenn er hier die nächste Führung hat, wird er kaum noch jemanden kennen. Doch quirligen, zappligen Schulklassen wird er weiter die Hofkatze zeigen. Die Katze, wird er ihnen einreden, habe schon auf Brechts Schoß gesessen. Und er wird weiterhin beschwören, daß die Kinder die Katze dann ansehen, als sei sie aus purem Gold, und ihre Augen zu leuchten beginnen.

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