Teatro hinter Knastmauern

Beim Festival im toskanischen Volterra agieren Häftlinge als Schauspieler

  • Wolf H. Wagner, Volterra
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
»Achtung, Ruhe am Set! - Kamera? Kamera läuft - Ton? Ton läuft - Klappe: Der Autor, die erste...Und Action!« In der weißen Leere des Raumes sitzt der »Autor«, grübelnd und doch gedanken- und ideenlos vor sich hinstarrend. Von rechts, von links, von vorn sind Filmkameras auf ihn gerichtet, ein Mikrofon schwebt am Galgen über seinem Haupt, bereit, jeden Gedanken aufzugreifen, sobald er sich um die Ecke schieben sollte. Doch es kommt keiner. Sind wir im richtigen Film? Frage an den »Autor«: »Wenn Sie ein Szenario schreiben, glauben Sie da etwa, Sie beschreiben die Wirklichkeit?« Der Mann windet sich, er weiß nicht mehr, was das ist, die Realität. Er versuche ja nur, seine Wahrnehmung der Wirklichkeit zu beschreiben. Ein untersetzter, von der Sonne dunkelgebrannter Mann neben mir ruft ihm mit heiserer Stimme zu: »Ich kann Dir sagen, was die Wirklichkeit ist. Ich bin in dieses Land gekommen, um Arbeit zu finden, nur damit ich mich und meine Familie ernähren kann. Und wo bin ich gelandet...?« Wir sitzen in einem der Innenhöfe des Festungsgefängnisses von Volterra. Rings auf den Mauern und Wachtürmen stehen Posten. Hohe Gitterzäune, obenauf noch mit Stacheldraht bewehrt, lassen jeden Fluchtgedanken Illusion werden. Im Rund vier Traversen, auf denen wir als Zuschauer und gleichzeitig Komparsen agieren. »Notizen für einen Film« heißt das neue Stück, das Armando Punzo mit der ungewöhnlichen Compagnia della Fortezza zum Theaterfestival Volterrateatro 2005 inszeniert hat. Wie in der Vergangenheit vermischt sich auch in diesem Stück Punzos Leben mit Fiktion, Gegenwart mit Vision: »Wir haben das diesjährige Festival unter den Titel "Für eine neue Welt" gestellt, wir denken, dass man in den Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen der Realität nur mit menschlichen Idealen entgegentreten kann. Wir sind überzeugt, dass es möglich ist, eine neue Welt zu schaffen, einen Ort, an dem keine Rassen- oder Religionsschranken existieren, dass es möglich ist, menschliche Ideale zu leben.« Klappe: die Realität. Ein Schauspielerhäftling tritt auf den »Autor« zu. Seine Wirklichkeit ist die einer Jugend in Neapel, Leben in Armut, chancen- und ziellos, mit dreizehn erste Diebstähle, später dann Gewaltverbrechen, nun lange Haftstrafe in Volterra. Der »Autor« ist ratlos, noch immer hat er keine Idee für einen Film, eine Antwort auf die bohrenden Fragen des Häftlings hat er schon gar nicht. Klappe: Szenenwechsel, ein Boot wird inmitten des Zuschauerkreises gestellt, sechs Männer, allesamt Nordafrikaner, versuchen, Europa zu erreichen, den Ort eines besseren Lebens. An Bord bricht ein heftiger Streit um eine Wasserflasche aus, Symbol für die Mühen, das ersehnte Ziel zu erreichen. Wirtschaftsflüchtlinge? Fuß haben sie im wirklichen Leben im Süden Italiens nicht fassen können, irgendwann wurden auch sie kriminell und landeten in Volterra. Punzo ist kein Träumer, natürlich sieht er die Realitäten des Lebens, die wirtschaftliche Krise in Europa schränkt vor allem auch den Kunstbetrieb ein, Projekte wie ein Kindertheater mussten gestrichen werden, ausländische Theatergruppen nahmen am diesjährigen Festival nicht teil. Dass dennoch großes Theater geboten wurde, ist den Aktivitäten der nationalen Gruppen zu danken. Unter anderem bot die Compagnia Caterina Sagna modernes Tanztheater, die KlezGang Rock und Jazz, das Teatro della Resistenza unter Beteiligung ehemaliger Partisanen der Garibaldi-Einheit trat mit einem Spektakel an ehemaligen Kampfplätzen in den Bergen um Volterra auf. Trotz der finanziellen Schwierigkeiten, die das diesjährige Festival begleiteten, hat Armando Punzo Träume: »In der achtzehnjährigen Arbeit mit der Compagnia della Fortezza haben wir gezeigt, dass wir mit unserer künstlerischen Arbeit eine Möglichkeit fanden, den Charakter einer Strafvollzugsanstalt zu ändern.« Das Staatsgefängnis von Volterra, eine Medici-Festung aus dem 15. Jahrhundert, zählt zu den ausbruchsichersten Italiens. Grund genug, vor allem hier Langzeithäftlinge unterzubringen. Allerdings gibt es keine Arbeitsmöglichkeiten. Doch das Theaterspielen wird nicht nur als willkommene Ablenkung angenommen, die Auseinandersetzung mit den Stücken sowie der Ruf, den die Compagnia della Fortezza genießt, wirken auf das Seelenleben der Insassen zurück. »Es ist uns gelungen, etwas mehr Menschlichkeit hinter die Festungsmauern zu bringen«, resümiert Punzo. »Theater und Gefängnis in Europa« hieß auch ein Workshop, der während des Festivals in Volterra durchgeführt wurde. Außer Carte Blanche - der Organisation von Armando Punzo - beteiligten sich das Theatre de lOpprimé (Frankreich), AufBruch (Deutschland), Escape Artists (England) RiksTeatern (Schweden) sowie Newo (Italien) an dieser ersten Diskussionsrunde, in der Projekte und Ideen vorgestellt und Probleme mit den Administrationen erörtert wurden. Szenenwechsel. Das Boot ist weggeräumt, die Insassen sind aufgegriffen worden. Schlussklappe? Wir, die Komparsen, werden gebeten, das Set zu verlassen, erst die Frauen, dann die Männer. Die Frauen nehmen im Gefängniskorridor Aufstellung, die Männer werden zu zehnt in Zellen verbracht. Mit jeweils einem echten Häftling harren wir auf zehn Quadratmetern der Neuankömmlinge. In einer für uns außen Stehende unverständlichen Häftlingssprache rufen sich die Schauspieler der Compagnia Informationen zu, schreien ihren Protest heraus. Für Momente bekommt man eine schwache Ahnung, wie sich die Insassen fühlen könnten. Sind wir alle noch im richtigen Film? Das Stück löst sich in einer stürmischen Tanzszene auf, dann verlassen die ...

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