Aus dem Bericht von Conrad Taler
29. Januar 1964: Zehnmal erklingt leise ein scheppernder Glockenton, dann ruft ein Wachtmeister aus dem Hintergrund: »Aufstehen, das Gericht kommt.« An jedem neuen Verhandlungstag und nach jeder Pause wiederholt sich der Vorgang. »Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.« Hinter dieser Ankündigung des Gerichtsvorsitzenden, die so banal klingt, als handle es sich um eine Wirtshausschlägerei oder ein Verkehrsdelikt, verbirgt sich eins der scheußlichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte: das Verbrechen von Auschwitz...
22 Angeklagte stehen vor dem Frankfurter Schwurgericht, angefangen von den beiden Adjutanten des Lagerkommandanten, Mulka und Höcker, über Angehörige der Lagergestapo, der Geheimen Staatspolizei, bis hin zum stupiden, deswegen aber nicht minder brutalen Arrestverwalter im Block 11, dem Todesblock. Sie alle waren Vollstrecker nazistischer Wahnideen, Rädchen in der Todesmaschinerie des Dritten Reiches. Eine furchtbare Anklage lastet auf ihnen. Sie sollen Morde begangen oder Beihilfe zum Mord an einer unbekannten Zahl unschuldiger Frauen, Männer, Kinder und Greise geleistet haben.
Die Angeklagten haben die Geduld des Gerichts von Anfang an auf eine schwere Probe gestellt. Bis auf einen - den Verantwortlichen der Aufnahmeabteilung, Hans Stark, der die aktive Beteiligung an einer Erschießung an der Schwarzen Wand und an einer Massenvergasung im kleinen Krematorium zugegeben hat - leugnen alle jegliche Schuld. Nun aber traten die Überlebenden der Hölle von Auschwitz in den Zeugenstand und entkleideten die Angeklagten ihres Biedermann-Gewandes. Vor überfüllten Presse- und Zuschauerbänken blätterten sie das Buch der Geschichte auf, in dem der Name Auschwitz in blutigen Lettern verzeichnet ist.
Da war keiner im Saal, der sich nicht zutiefst angerührt fühlte, als der ehemalige Häftling Dr. Otto Wolken auf den Angeklagten Baretzki zuging, ihn identifizierte und sagte: »Es tut mir leid für ihr persönliches Schicksal.« Über viele Stunden hinweg schilderte der schmächtige Arzt aus Wien mit ruhiger Stimme das Inferno von Auschwitz. Was er selbst durchlitten hat geht daraus hervor, dass er bei der Befreiung 1945 noch ganze 38 Kilo wog. Es sei schwer, im Einzelfall Mordanklage zu erheben, sagte er. »Die Toten können nicht mehr anklagen.« Und er fügte hinzu: »Was uns zu denken geben sollte, das ist die Tatsache, dass diese Mordmaschine nie in Gang gekommen wäre, wenn sich nicht Zehntausende zu ihrer Bedienung bereit gefunden hätten.«
Einen Höhepunkt der Hauptverhandlung bildete die Einvernahme des Zeugen Hermann Langbein aus Wien. Der ehemalige Häftlingsschreiber beim Standortarzt Dr. Wirth kam als politischer Häftling auf dem Umweg über das Konzentrationslager Dachau bei München nach Auschwitz. Um den Unterschied zwischen beiden Lagern zu verdeutlichen, sagte er: "Ich habe in Dachau täglich das Totenbuch gesehen. Wenn zehn Leute starben, war es ein schlimmer Tag. In Auschwitz wurden aber Tag und Nacht auf sieben Schreibmaschinen nur Totenmeldungen geschrieben."
Wie kaum ein anderer Hatte Langbein Einblick in das Auschwitzer Geschehen. Vom Fenster seiner Schreibstube beim Standortarzt konnte er Vergasungen im alten Krematorium beobachten. Er war in alle Geheimnisse des Papierkrieges eingeweiht und führte die Geheimkorrespondenz des Standortarztes mit Berlin. Anhand der Listen, die er zu führen hatte, konnte er genau verfolgen, in welchem Teil des Lagers wieviel Häftlinge ermordet wurden. Besonders gefährlich war es im Krankenbau. Hier erfolgten häufig sogenannte Selektionen und hier war eines der Betätigungsfelder des Angeklagten Klehr. Er suchte auf eigene Faust Häftlinge aus, die er später "abspritzte". "Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten, war eine Kleinigkeit. Die Machtfülle des einzelnen SS-Mannes war unvorstellbar", sagte der Zeuge.
Über eine Krankenschwester namens Maria Stromberger schaffte Langbein in einer ausgehöhlten Kleiderbürste umfangreiche Angaben mit Sterblichkeitszahlen aus dem Lager. Die Widerstandsorganisation in Auschwitz stand mit Widerstandsgruppen außerhalb des Lagers in Verbindung. Ein illegaler Sender in Krakau funkte die Daten nach London, wo der britische Rundfunk sie verbreitete. Schwere Vorwürfe erhob Langbein gegen den damaligen Direktor des Zweigwerkes der Hermann-Göring-Werke in Jawischowitz, Heine. Er habe immer wieder Selektionen verlangt, um kranke Häftlinge loszuwerden, die nicht genug arbeiteten. Die Aussortierten seien in der Regel ins Gas gekommen. "Es ist bezeichnend für die damalige Situation, dass von Seiten der Firmen, auch vom Bunawerk der IG Farben in Monowitz, Druck auf die SS ausgeübt wurde, mehr zu selektieren, als die SS nicht mehr so radikal war."
31. Mai 1964: Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Bogerschaukel geschildert, benannt nach einem Gestapomann dieses Namens, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastwagen 50 Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. »Ich erinnere mich an ein etwa vierjähriges Mädchen... « Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die aus Österreich gebürtige Zeugin Jenny Schaner bricht in verzweifeltes Weinen aus. Sie ist unfähig, noch ein Wort zu sagen. Lähmendes Entsetzen breitet sich aus. Niemand, der diese Szene miterlebt hat, wird die schrecklichen Minuten vergessen.
Noch weiß keiner, was die Zeugin so aufwühlt, aber jeder ahnt, dass es etwas Furchtbares sein muss. Dann gewinnt Jenny Schaner die Fassung wieder. Das kleine Mädchen habe einen Jungen an der Hand geführt und sei mit fragend erhobenen Kopf auf einen in der Nähe stehenden SS-Mann zugegangen. Ganz sicher habe es eine kindliche Frage auf den Lippen gehabt, vielleicht wollte es fragen: »Wo sind unsere Eltern geblieben?« Statt einer Antwort holte der SS-Mann nach der Schilderung der Zeugin mit seinem schweren Stiefel aus und versetzte dem Kind einen Fußtritt, das es wegflog und weinend liegen blieb. Alle Kinder des Transports begannen zu weinen. Doch die Gesichter der SS-Leute zeigten keine Rührung. Sie trieben die unschuldigen Wesen zusammen und brachten sie weg. Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Siebzehn Zeugen sind seit meinem letzten Bericht gehört worden, und jede Aussage ließ das Grauen von damals wiedererstehen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Angeklagten schwer belastet. Der Andrang hat nicht nachgelassen. Nach wie vor sind alle Plätze besetzt. Erfreulich ist, dass immer wieder ganze Schulklassen mit ihren Lehrern die Verhandlungen besuchen. Sie bekommen hier Anschauungsunterricht in jüngster Geschichte, wie er nigendwo sonst erteilt werden könnte.
Weniger erfreulich ist die Taktik der Verteidiger, die Überlebenden der Todesfabrik als unglaubwürdig hinzustellen. Viele ihrer Fragen an die Zeugen wirken verletzend und provozierend. Ein polnischer Arzt sollte zum Beispiel Auskunft darüber geben, in welchem Monat er sein Examen abgelegt hat. Besonders abstoßend sind Versuche, ausländische Zeugen einzuschüchtern und sie als Vollstrecker einer Art Verschwörung ehemaliger Auschwitzhäftlinge erscheinen zu lassen.
Wenn der Verteidiger Laternser - mit negativem Resultat übrigens - polnische Zeugen fragt, ob sie Kommunisten seien, wiegt er sich vermutlich in der Hoffnung, den Nachweis einer kommunistischen "Steuerung" erbringen zu können. Welchen Eindruck die Zeugen bekommen, wenn Verteidiger aus dem Gespräch mit einem Leidensgenossen eine "Beeinflussung" konstruieren, machte der polnische Zeuge Boratynski deutlich. Er, sagte, dies alles erinnere ihn an Auschwitz. Wenn dort zwei Häftlinge zusammengestanden hätten, habe die SS auch gleich eine Verschwörung gewittert. Nach einer Erschießung an der Schwarzen Wand musste der Zeuge sspäter die Leichen seiner ermordeten Kameraden wegtragen. Er sah, wie der Gestapomann Boger die Boger aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Als die Unglücklichen an die Wand geführt worden seien, habe Boger ihn zugerufen: Kopf hoch! Die höhnische Aufforderung sollte bwirken, dass die Opfer den Kopf hoben, damit Boger besser seine Schüsse anbringen konnte.
Der israelische Zeuge Alex Rosenstock sagte aus, er habe mindestens sechsmal gesehen, wie der jetzt angeklagte ehemalige SS-Arzt Frank auf der Rampe Männer, Frauen und Kinder für den Tod in der Gaskammer aussonderte. Es seien jeweils tauend Menschen gewesen, die mit einem Transport ankamen. Davon mussten jeweils 900 den Weg in die Gaskammer antreten. Frank hat also nach den Aussagen dieses Zeugen mehr als 5 000 Menschenleben auf dem Gewissen. Rosenstock machte seine Aussagen ruhig und bestimmt. Erst als er nach der Vereidigung aus dem Gerichtssaal ging, brach die seelische Erschütterung durch. Der Zeuge schwankte, begann lautlos zu weinen und musste aus dem Saal geführt werden. Draußen brach er zusammen
31. Oktober 1964: Am 5. Oktober trat zum ersten Mal ein Mann in den Zeugenstand, der in Auschwitz einem so genannten Todeskommando angehört hat, und zwar dem Sonderkommando im alten Krematorium des Stammlagers, das nach den Vergasungen die Leichen verbrennen musste. Die Haare des Zeugen sind grau, obwohl er erst 42 Jahre alt ist. Sein Name: Philipp Müller. Der Zeuge aus Prag berichtete beklemmende Einzelheiten von seinen Eindrücken vor und nach den Vergasungen. Noch nie hat jemand in der Hauptverhandlung von diesen Dingen erzählt. Wenn die Türen der Gaskammer geöffnet wurden, standen die Leichen nach seiner Schilderung dicht gedrängt vor den Ventilatoren. »Sie waren im Stehen gestorben. Eine Mutter hielt noch ihr Kind an der Brust. Auf dem Boden lagen grüne Kristalle. Es roch etwa nach Mandeln. Dann kam der SS-Mann Stark und trieb uns an, die Öfen zu entschlacken...«
22. September 1965: Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof nebenan lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales sind zugezogen, so, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die verbliebenen 20 Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.
Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der »schwarze Tod« von Auschwitz, Wilhelm Boger, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, dann betreten die Richter den Saal. Als erster hört Robert Mulka, dass er zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten...: sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die "kleinen Leute" vor Gericht gestanden hätten. Auch diese "kleinen Leute" seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.
Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18000 Seiten.
Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den - 1 -einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.
Die hier veröffentlichten Auszüge der Berichte von Conrad Taler erschienen in der Wiener Zeitung »Die Gemeinde«.29. Januar 1964: Zehnmal erklingt leise ein scheppernder Glockenton, dann ruft ein Wachtmeister aus dem Hintergrund: »Aufstehen, das Gericht kommt.« An jedem neuen Verhandlungstag und nach jeder Pause wiederholt sich der Vorgang. »Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.« Hinter dieser Ankündigung des Gerichtsvorsitzenden, die so banal klingt, als handle es sich um eine Wirtshausschlägerei oder ein Verkehrsdelikt, verbirgt sich eins der scheußlichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte: das Verbrechen von Auschwitz...
22 Angeklagte stehen vor dem Frankfurter Schwurgericht, angefangen von den beiden Adjutanten des Lagerkommandanten, Mulka und Höcker, über Angehörige der Lagergestapo, der Geheimen Staatspolizei, bis hin zum stupiden, deswegen aber nicht minder brutalen Arrestverwalter im Block 11, dem Todesblock. Sie alle waren Vollstrecker nazistischer Wahnideen, Rädchen in der Todesmaschinerie des Dritten Reiches. Eine furchtbare Anklage lastet auf ihnen. Sie sollen Morde begangen oder Beihilfe zum Mord an einer unbekannten Zahl unschuldiger Frauen, Männer, Kinder und Greise geleistet haben.
Die Angeklagten haben die Geduld des Gerichts von Anfang an auf eine schwere Probe gestellt. Bis auf einen - den Verantwortlichen der Aufnahmeabteilung, Hans Stark, der die aktive Beteiligung an einer Erschießung an der Schwarzen Wand und an einer Massenvergasung im kleinen Krematorium zugegeben hat - leugnen alle jegliche Schuld. Nun aber traten die Überlebenden der Hölle von Auschwitz in den Zeugenstand und entkleideten die Angeklagten ihres Biedermann-Gewandes. Vor überfüllten Presse- und Zuschauerbänken blätterten sie das Buch der Geschichte auf, in dem der Name Auschwitz in blutigen Lettern verzeichnet ist.
Da war keiner im Saal, der sich nicht zutiefst angerührt fühlte, als der ehemalige Häftling Dr. Otto Wolken auf den Angeklagten Baretzki zuging, ihn identifizierte und sagte: »Es tut mir leid für ihr persönliches Schicksal.« Über viele Stunden hinweg schilderte der schmächtige Arzt aus Wien mit ruhiger Stimme das Inferno von Auschwitz. Was er selbst durchlitten hat geht daraus hervor, dass er bei der Befreiung 1945 noch ganze 38 Kilo wog. Es sei schwer, im Einzelfall Mordanklage zu erheben, sagte er. »Die Toten können nicht mehr anklagen.« Und er fügte hinzu: »Was uns zu denken geben sollte, das ist die Tatsache, dass diese Mordmaschine nie in Gang gekommen wäre, wenn sich nicht Zehntausende zu ihrer Bedienung bereit gefunden hätten.«
Einen Höhepunkt der Hauptverhandlung bildete die Einvernahme des Zeugen Hermann Langbein aus Wien. Der ehemalige Häftlingsschreiber beim Standortarzt Dr. Wirth kam als politischer Häftling auf dem Umweg über das Konzentrationslager Dachau bei München nach Auschwitz. Um den Unterschied zwischen beiden Lagern zu verdeutlichen, sagte er: "Ich habe in Dachau täglich das Totenbuch gesehen. Wenn zehn Leute starben, war es ein schlimmer Tag. In Auschwitz wurden aber Tag und Nacht auf sieben Schreibmaschinen nur Totenmeldungen geschrieben."
Wie kaum ein anderer Hatte Langbein Einblick in das Auschwitzer Geschehen. Vom Fenster seiner Schreibstube beim Standortarzt konnte er Vergasungen im alten Krematorium beobachten. Er war in alle Geheimnisse des Papierkrieges eingeweiht und führte die Geheimkorrespondenz des Standortarztes mit Berlin. Anhand der Listen, die er zu führen hatte, konnte er genau verfolgen, in welchem Teil des Lagers wieviel Häftlinge ermordet wurden. Besonders gefährlich war es im Krankenbau. Hier erfolgten häufig sogenannte Selektionen und hier war eines der Betätigungsfelder des Angeklagten Klehr. Er suchte auf eigene Faust Häftlinge aus, die er später "abspritzte". "Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten, war eine Kleinigkeit. Die Machtfülle des einzelnen SS-Mannes war unvorstellbar", sagte der Zeuge.
Über eine Krankenschwester namens Maria Stromberger schaffte Langbein in einer ausgehöhlten Kleiderbürste umfangreiche Angaben mit Sterblichkeitszahlen aus dem Lager. Die Widerstandsorganisation in Auschwitz stand mit Widerstandsgruppen außerhalb des Lagers in Verbindung. Ein illegaler Sender in Krakau funkte die Daten nach London, wo der britische Rundfunk sie verbreitete. Schwere Vorwürfe erhob Langbein gegen den damaligen Direktor des Zweigwerkes der Hermann-Göring-Werke in Jawischowitz, Heine. Er habe immer wieder Selektionen verlangt, um kranke Häftlinge loszuwerden, die nicht genug arbeiteten. Die Aussortierten seien in der Regel ins Gas gekommen. "Es ist bezeichnend für die damalige Situation, dass von Seiten der Firmen, auch vom Bunawerk der IG Farben in Monowitz, Druck auf die SS ausgeübt wurde, mehr zu selektieren, als die SS nicht mehr so radikal war."
31. Mai 1964: Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Bogerschaukel geschildert, benannt nach einem Gestapomann dieses Namens, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastwagen 50 Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. »Ich erinnere mich an ein etwa vierjähriges Mädchen... « Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die aus Österreich gebürtige Zeugin Jenny Schaner bricht in verzweifeltes Weinen aus. Sie ist unfähig, noch ein Wort zu sagen. Lähmendes Entsetzen breitet sich aus. Niemand, der diese Szene miterlebt hat, wird die schrecklichen Minuten vergessen.
Noch weiß keiner, was die Zeugin so aufwühlt, aber jeder ahnt, dass es etwas Furchtbares sein muss. Dann gewinnt Jenny Schaner die Fassung wieder. Das kleine Mädchen habe einen Jungen an der Hand geführt und sei mit fragend erhobenen Kopf auf einen in der Nähe stehenden SS-Mann zugegangen. Ganz sicher habe es eine kindliche Frage auf den Lippen gehabt, vielleicht wollte es fragen: »Wo sind unsere Eltern geblieben?« Statt einer Antwort holte der SS-Mann nach der Schilderung der Zeugin mit seinem schweren Stiefel aus und versetzte dem Kind einen Fußtritt, das es wegflog und weinend liegen blieb. Alle Kinder des Transports begannen zu weinen. Doch die Gesichter der SS-Leute zeigten keine Rührung. Sie trieben die unschuldigen Wesen zusammen und brachten sie weg. Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Siebzehn Zeugen sind seit meinem letzten Bericht gehört worden, und jede Aussage ließ das Grauen von damals wiedererstehen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Angeklagten schwer belastet. Der Andrang hat nicht nachgelassen. Nach wie vor sind alle Plätze besetzt. Erfreulich ist, dass immer wieder ganze Schulklassen mit ihren Lehrern die Verhandlungen besuchen. Sie bekommen hier Anschauungsunterricht in jüngster Geschichte, wie er nigendwo sonst erteilt werden könnte.
Weniger erfreulich ist die Taktik der Verteidiger, die Überlebenden der Todesfabrik als unglaubwürdig hinzustellen. Viele ihrer Fragen an die Zeugen wirken verletzend und provozierend. Ein polnischer Arzt sollte zum Beispiel Auskunft darüber geben, in welchem Monat er sein Examen abgelegt hat. Besonders abstoßend sind Versuche, ausländische Zeugen einzuschüchtern und sie als Vollstrecker einer Art Verschwörung ehemaliger Auschwitzhäftlinge erscheinen zu lassen.
Wenn der Verteidiger Laternser - mit negativem Resultat übrigens - polnische Zeugen fragt, ob sie Kommunisten seien, wiegt er sich vermutlich in der Hoffnung, den Nachweis einer kommunistischen "Steuerung" erbringen zu können. Welchen Eindruck die Zeugen bekommen, wenn Verteidiger aus dem Gespräch mit einem Leidensgenossen eine "Beeinflussung" konstruieren, machte der polnische Zeuge Boratynski deutlich. Er, sagte, dies alles erinnere ihn an Auschwitz. Wenn dort zwei Häftlinge zusammengestanden hätten, habe die SS auch gleich eine Verschwörung gewittert. Nach einer Erschießung an der Schwarzen Wand musste der Zeuge sspäter die Leichen seiner ermordeten Kameraden wegtragen. Er sah, wie der Gestapomann Boger die Boger aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Als die Unglücklichen an die Wand geführt worden seien, habe Boger ihn zugerufen: Kopf hoch! Die höhnische Aufforderung sollte bwirken, dass die Opfer den Kopf hoben, damit Boger besser seine Schüsse anbringen konnte.
Der israelische Zeuge Alex Rosenstock sagte aus, er habe mindestens sechsmal gesehen, wie der jetzt angeklagte ehemalige SS-Arzt Frank auf der Rampe Männer, Frauen und Kinder für den Tod in der Gaskammer aussonderte. Es seien jeweils tauend Menschen gewesen, die mit einem Transport ankamen. Davon mussten jeweils 900 den Weg in die Gaskammer antreten. Frank hat also nach den Aussagen dieses Zeugen mehr als 5 000 Menschenleben auf dem Gewissen. Rosenstock machte seine Aussagen ruhig und bestimmt. Erst als er nach der Vereidigung aus dem Gerichtssaal ging, brach die seelische Erschütterung durch. Der Zeuge schwankte, begann lautlos zu weinen und musste aus dem Saal geführt werden. Draußen brach er zusammen
31. Oktober 1964: Am 5. Oktober trat zum ersten Mal ein Mann in den Zeugenstand, der in Auschwitz einem so genannten Todeskommando angehört hat, und zwar dem Sonderkommando im alten Krematorium des Stammlagers, das nach den Vergasungen die Leichen verbrennen musste. Die Haare des Zeugen sind grau, obwohl er erst 42 Jahre alt ist. Sein Name: Philipp Müller. Der Zeuge aus Prag berichtete beklemmende Einzelheiten von seinen Eindrücken vor und nach den Vergasungen. Noch nie hat jemand in der Hauptverhandlung von diesen Dingen erzählt. Wenn die Türen der Gaskammer geöffnet wurden, standen die Leichen nach seiner Schilderung dicht gedrängt vor den Ventilatoren. »Sie waren im Stehen gestorben. Eine Mutter hielt noch ihr Kind an der Brust. Auf dem Boden lagen grüne Kristalle. Es roch etwa nach Mandeln. Dann kam der SS-Mann Stark und trieb uns an, die Öfen zu entschlacken...«
22. September 1965: Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof nebenan lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales sind zugezogen, so, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die verbliebenen 20 Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.
Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der »schwarze Tod« von Auschwitz, Wilhelm Boger, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, dann betreten die Richter den Saal. Als erster hört Robert Mulka, dass er zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten...: sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die "kleinen Leute" vor Gericht gestanden hätten. Auch diese "kleinen Leute" seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.
Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18000 Seiten.
Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den - 1 -einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.
Die hier veröffentlichten Auszüge der Berichte von Conrad Taler erschienen in der Wiener Zeitung »Die Gemeinde«.
22 Angeklagte stehen vor dem Frankfurter Schwurgericht, angefangen von den beiden Adjutanten des Lagerkommandanten, Mulka und Höcker, über Angehörige der Lagergestapo, der Geheimen Staatspolizei, bis hin zum stupiden, deswegen aber nicht minder brutalen Arrestverwalter im Block 11, dem Todesblock. Sie alle waren Vollstrecker nazistischer Wahnideen, Rädchen in der Todesmaschinerie des Dritten Reiches. Eine furchtbare Anklage lastet auf ihnen. Sie sollen Morde begangen oder Beihilfe zum Mord an einer unbekannten Zahl unschuldiger Frauen, Männer, Kinder und Greise geleistet haben.
Die Angeklagten haben die Geduld des Gerichts von Anfang an auf eine schwere Probe gestellt. Bis auf einen - den Verantwortlichen der Aufnahmeabteilung, Hans Stark, der die aktive Beteiligung an einer Erschießung an der Schwarzen Wand und an einer Massenvergasung im kleinen Krematorium zugegeben hat - leugnen alle jegliche Schuld. Nun aber traten die Überlebenden der Hölle von Auschwitz in den Zeugenstand und entkleideten die Angeklagten ihres Biedermann-Gewandes. Vor überfüllten Presse- und Zuschauerbänken blätterten sie das Buch der Geschichte auf, in dem der Name Auschwitz in blutigen Lettern verzeichnet ist.
Da war keiner im Saal, der sich nicht zutiefst angerührt fühlte, als der ehemalige Häftling Dr. Otto Wolken auf den Angeklagten Baretzki zuging, ihn identifizierte und sagte: »Es tut mir leid für ihr persönliches Schicksal.« Über viele Stunden hinweg schilderte der schmächtige Arzt aus Wien mit ruhiger Stimme das Inferno von Auschwitz. Was er selbst durchlitten hat geht daraus hervor, dass er bei der Befreiung 1945 noch ganze 38 Kilo wog. Es sei schwer, im Einzelfall Mordanklage zu erheben, sagte er. »Die Toten können nicht mehr anklagen.« Und er fügte hinzu: »Was uns zu denken geben sollte, das ist die Tatsache, dass diese Mordmaschine nie in Gang gekommen wäre, wenn sich nicht Zehntausende zu ihrer Bedienung bereit gefunden hätten.«
Einen Höhepunkt der Hauptverhandlung bildete die Einvernahme des Zeugen Hermann Langbein aus Wien. Der ehemalige Häftlingsschreiber beim Standortarzt Dr. Wirth kam als politischer Häftling auf dem Umweg über das Konzentrationslager Dachau bei München nach Auschwitz. Um den Unterschied zwischen beiden Lagern zu verdeutlichen, sagte er: "Ich habe in Dachau täglich das Totenbuch gesehen. Wenn zehn Leute starben, war es ein schlimmer Tag. In Auschwitz wurden aber Tag und Nacht auf sieben Schreibmaschinen nur Totenmeldungen geschrieben."
Wie kaum ein anderer Hatte Langbein Einblick in das Auschwitzer Geschehen. Vom Fenster seiner Schreibstube beim Standortarzt konnte er Vergasungen im alten Krematorium beobachten. Er war in alle Geheimnisse des Papierkrieges eingeweiht und führte die Geheimkorrespondenz des Standortarztes mit Berlin. Anhand der Listen, die er zu führen hatte, konnte er genau verfolgen, in welchem Teil des Lagers wieviel Häftlinge ermordet wurden. Besonders gefährlich war es im Krankenbau. Hier erfolgten häufig sogenannte Selektionen und hier war eines der Betätigungsfelder des Angeklagten Klehr. Er suchte auf eigene Faust Häftlinge aus, die er später "abspritzte". "Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten, war eine Kleinigkeit. Die Machtfülle des einzelnen SS-Mannes war unvorstellbar", sagte der Zeuge.
Über eine Krankenschwester namens Maria Stromberger schaffte Langbein in einer ausgehöhlten Kleiderbürste umfangreiche Angaben mit Sterblichkeitszahlen aus dem Lager. Die Widerstandsorganisation in Auschwitz stand mit Widerstandsgruppen außerhalb des Lagers in Verbindung. Ein illegaler Sender in Krakau funkte die Daten nach London, wo der britische Rundfunk sie verbreitete. Schwere Vorwürfe erhob Langbein gegen den damaligen Direktor des Zweigwerkes der Hermann-Göring-Werke in Jawischowitz, Heine. Er habe immer wieder Selektionen verlangt, um kranke Häftlinge loszuwerden, die nicht genug arbeiteten. Die Aussortierten seien in der Regel ins Gas gekommen. "Es ist bezeichnend für die damalige Situation, dass von Seiten der Firmen, auch vom Bunawerk der IG Farben in Monowitz, Druck auf die SS ausgeübt wurde, mehr zu selektieren, als die SS nicht mehr so radikal war."
31. Mai 1964: Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Bogerschaukel geschildert, benannt nach einem Gestapomann dieses Namens, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastwagen 50 Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. »Ich erinnere mich an ein etwa vierjähriges Mädchen... « Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die aus Österreich gebürtige Zeugin Jenny Schaner bricht in verzweifeltes Weinen aus. Sie ist unfähig, noch ein Wort zu sagen. Lähmendes Entsetzen breitet sich aus. Niemand, der diese Szene miterlebt hat, wird die schrecklichen Minuten vergessen.
Noch weiß keiner, was die Zeugin so aufwühlt, aber jeder ahnt, dass es etwas Furchtbares sein muss. Dann gewinnt Jenny Schaner die Fassung wieder. Das kleine Mädchen habe einen Jungen an der Hand geführt und sei mit fragend erhobenen Kopf auf einen in der Nähe stehenden SS-Mann zugegangen. Ganz sicher habe es eine kindliche Frage auf den Lippen gehabt, vielleicht wollte es fragen: »Wo sind unsere Eltern geblieben?« Statt einer Antwort holte der SS-Mann nach der Schilderung der Zeugin mit seinem schweren Stiefel aus und versetzte dem Kind einen Fußtritt, das es wegflog und weinend liegen blieb. Alle Kinder des Transports begannen zu weinen. Doch die Gesichter der SS-Leute zeigten keine Rührung. Sie trieben die unschuldigen Wesen zusammen und brachten sie weg. Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Siebzehn Zeugen sind seit meinem letzten Bericht gehört worden, und jede Aussage ließ das Grauen von damals wiedererstehen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Angeklagten schwer belastet. Der Andrang hat nicht nachgelassen. Nach wie vor sind alle Plätze besetzt. Erfreulich ist, dass immer wieder ganze Schulklassen mit ihren Lehrern die Verhandlungen besuchen. Sie bekommen hier Anschauungsunterricht in jüngster Geschichte, wie er nigendwo sonst erteilt werden könnte.
Weniger erfreulich ist die Taktik der Verteidiger, die Überlebenden der Todesfabrik als unglaubwürdig hinzustellen. Viele ihrer Fragen an die Zeugen wirken verletzend und provozierend. Ein polnischer Arzt sollte zum Beispiel Auskunft darüber geben, in welchem Monat er sein Examen abgelegt hat. Besonders abstoßend sind Versuche, ausländische Zeugen einzuschüchtern und sie als Vollstrecker einer Art Verschwörung ehemaliger Auschwitzhäftlinge erscheinen zu lassen.
Wenn der Verteidiger Laternser - mit negativem Resultat übrigens - polnische Zeugen fragt, ob sie Kommunisten seien, wiegt er sich vermutlich in der Hoffnung, den Nachweis einer kommunistischen "Steuerung" erbringen zu können. Welchen Eindruck die Zeugen bekommen, wenn Verteidiger aus dem Gespräch mit einem Leidensgenossen eine "Beeinflussung" konstruieren, machte der polnische Zeuge Boratynski deutlich. Er, sagte, dies alles erinnere ihn an Auschwitz. Wenn dort zwei Häftlinge zusammengestanden hätten, habe die SS auch gleich eine Verschwörung gewittert. Nach einer Erschießung an der Schwarzen Wand musste der Zeuge sspäter die Leichen seiner ermordeten Kameraden wegtragen. Er sah, wie der Gestapomann Boger die Boger aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Als die Unglücklichen an die Wand geführt worden seien, habe Boger ihn zugerufen: Kopf hoch! Die höhnische Aufforderung sollte bwirken, dass die Opfer den Kopf hoben, damit Boger besser seine Schüsse anbringen konnte.
Der israelische Zeuge Alex Rosenstock sagte aus, er habe mindestens sechsmal gesehen, wie der jetzt angeklagte ehemalige SS-Arzt Frank auf der Rampe Männer, Frauen und Kinder für den Tod in der Gaskammer aussonderte. Es seien jeweils tauend Menschen gewesen, die mit einem Transport ankamen. Davon mussten jeweils 900 den Weg in die Gaskammer antreten. Frank hat also nach den Aussagen dieses Zeugen mehr als 5 000 Menschenleben auf dem Gewissen. Rosenstock machte seine Aussagen ruhig und bestimmt. Erst als er nach der Vereidigung aus dem Gerichtssaal ging, brach die seelische Erschütterung durch. Der Zeuge schwankte, begann lautlos zu weinen und musste aus dem Saal geführt werden. Draußen brach er zusammen
31. Oktober 1964: Am 5. Oktober trat zum ersten Mal ein Mann in den Zeugenstand, der in Auschwitz einem so genannten Todeskommando angehört hat, und zwar dem Sonderkommando im alten Krematorium des Stammlagers, das nach den Vergasungen die Leichen verbrennen musste. Die Haare des Zeugen sind grau, obwohl er erst 42 Jahre alt ist. Sein Name: Philipp Müller. Der Zeuge aus Prag berichtete beklemmende Einzelheiten von seinen Eindrücken vor und nach den Vergasungen. Noch nie hat jemand in der Hauptverhandlung von diesen Dingen erzählt. Wenn die Türen der Gaskammer geöffnet wurden, standen die Leichen nach seiner Schilderung dicht gedrängt vor den Ventilatoren. »Sie waren im Stehen gestorben. Eine Mutter hielt noch ihr Kind an der Brust. Auf dem Boden lagen grüne Kristalle. Es roch etwa nach Mandeln. Dann kam der SS-Mann Stark und trieb uns an, die Öfen zu entschlacken...«
22. September 1965: Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof nebenan lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales sind zugezogen, so, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die verbliebenen 20 Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.
Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der »schwarze Tod« von Auschwitz, Wilhelm Boger, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, dann betreten die Richter den Saal. Als erster hört Robert Mulka, dass er zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten...: sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die "kleinen Leute" vor Gericht gestanden hätten. Auch diese "kleinen Leute" seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.
Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18000 Seiten.
Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den - 1 -einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.
Die hier veröffentlichten Auszüge der Berichte von Conrad Taler erschienen in der Wiener Zeitung »Die Gemeinde«.29. Januar 1964: Zehnmal erklingt leise ein scheppernder Glockenton, dann ruft ein Wachtmeister aus dem Hintergrund: »Aufstehen, das Gericht kommt.« An jedem neuen Verhandlungstag und nach jeder Pause wiederholt sich der Vorgang. »Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.« Hinter dieser Ankündigung des Gerichtsvorsitzenden, die so banal klingt, als handle es sich um eine Wirtshausschlägerei oder ein Verkehrsdelikt, verbirgt sich eins der scheußlichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte: das Verbrechen von Auschwitz...
22 Angeklagte stehen vor dem Frankfurter Schwurgericht, angefangen von den beiden Adjutanten des Lagerkommandanten, Mulka und Höcker, über Angehörige der Lagergestapo, der Geheimen Staatspolizei, bis hin zum stupiden, deswegen aber nicht minder brutalen Arrestverwalter im Block 11, dem Todesblock. Sie alle waren Vollstrecker nazistischer Wahnideen, Rädchen in der Todesmaschinerie des Dritten Reiches. Eine furchtbare Anklage lastet auf ihnen. Sie sollen Morde begangen oder Beihilfe zum Mord an einer unbekannten Zahl unschuldiger Frauen, Männer, Kinder und Greise geleistet haben.
Die Angeklagten haben die Geduld des Gerichts von Anfang an auf eine schwere Probe gestellt. Bis auf einen - den Verantwortlichen der Aufnahmeabteilung, Hans Stark, der die aktive Beteiligung an einer Erschießung an der Schwarzen Wand und an einer Massenvergasung im kleinen Krematorium zugegeben hat - leugnen alle jegliche Schuld. Nun aber traten die Überlebenden der Hölle von Auschwitz in den Zeugenstand und entkleideten die Angeklagten ihres Biedermann-Gewandes. Vor überfüllten Presse- und Zuschauerbänken blätterten sie das Buch der Geschichte auf, in dem der Name Auschwitz in blutigen Lettern verzeichnet ist.
Da war keiner im Saal, der sich nicht zutiefst angerührt fühlte, als der ehemalige Häftling Dr. Otto Wolken auf den Angeklagten Baretzki zuging, ihn identifizierte und sagte: »Es tut mir leid für ihr persönliches Schicksal.« Über viele Stunden hinweg schilderte der schmächtige Arzt aus Wien mit ruhiger Stimme das Inferno von Auschwitz. Was er selbst durchlitten hat geht daraus hervor, dass er bei der Befreiung 1945 noch ganze 38 Kilo wog. Es sei schwer, im Einzelfall Mordanklage zu erheben, sagte er. »Die Toten können nicht mehr anklagen.« Und er fügte hinzu: »Was uns zu denken geben sollte, das ist die Tatsache, dass diese Mordmaschine nie in Gang gekommen wäre, wenn sich nicht Zehntausende zu ihrer Bedienung bereit gefunden hätten.«
Einen Höhepunkt der Hauptverhandlung bildete die Einvernahme des Zeugen Hermann Langbein aus Wien. Der ehemalige Häftlingsschreiber beim Standortarzt Dr. Wirth kam als politischer Häftling auf dem Umweg über das Konzentrationslager Dachau bei München nach Auschwitz. Um den Unterschied zwischen beiden Lagern zu verdeutlichen, sagte er: "Ich habe in Dachau täglich das Totenbuch gesehen. Wenn zehn Leute starben, war es ein schlimmer Tag. In Auschwitz wurden aber Tag und Nacht auf sieben Schreibmaschinen nur Totenmeldungen geschrieben."
Wie kaum ein anderer Hatte Langbein Einblick in das Auschwitzer Geschehen. Vom Fenster seiner Schreibstube beim Standortarzt konnte er Vergasungen im alten Krematorium beobachten. Er war in alle Geheimnisse des Papierkrieges eingeweiht und führte die Geheimkorrespondenz des Standortarztes mit Berlin. Anhand der Listen, die er zu führen hatte, konnte er genau verfolgen, in welchem Teil des Lagers wieviel Häftlinge ermordet wurden. Besonders gefährlich war es im Krankenbau. Hier erfolgten häufig sogenannte Selektionen und hier war eines der Betätigungsfelder des Angeklagten Klehr. Er suchte auf eigene Faust Häftlinge aus, die er später "abspritzte". "Das Menschenleben galt nichts. Einen Menschen zu töten, war eine Kleinigkeit. Die Machtfülle des einzelnen SS-Mannes war unvorstellbar", sagte der Zeuge.
Über eine Krankenschwester namens Maria Stromberger schaffte Langbein in einer ausgehöhlten Kleiderbürste umfangreiche Angaben mit Sterblichkeitszahlen aus dem Lager. Die Widerstandsorganisation in Auschwitz stand mit Widerstandsgruppen außerhalb des Lagers in Verbindung. Ein illegaler Sender in Krakau funkte die Daten nach London, wo der britische Rundfunk sie verbreitete. Schwere Vorwürfe erhob Langbein gegen den damaligen Direktor des Zweigwerkes der Hermann-Göring-Werke in Jawischowitz, Heine. Er habe immer wieder Selektionen verlangt, um kranke Häftlinge loszuwerden, die nicht genug arbeiteten. Die Aussortierten seien in der Regel ins Gas gekommen. "Es ist bezeichnend für die damalige Situation, dass von Seiten der Firmen, auch vom Bunawerk der IG Farben in Monowitz, Druck auf die SS ausgeübt wurde, mehr zu selektieren, als die SS nicht mehr so radikal war."
31. Mai 1964: Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Bogerschaukel geschildert, benannt nach einem Gestapomann dieses Namens, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastwagen 50 Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. »Ich erinnere mich an ein etwa vierjähriges Mädchen... « Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die aus Österreich gebürtige Zeugin Jenny Schaner bricht in verzweifeltes Weinen aus. Sie ist unfähig, noch ein Wort zu sagen. Lähmendes Entsetzen breitet sich aus. Niemand, der diese Szene miterlebt hat, wird die schrecklichen Minuten vergessen.
Noch weiß keiner, was die Zeugin so aufwühlt, aber jeder ahnt, dass es etwas Furchtbares sein muss. Dann gewinnt Jenny Schaner die Fassung wieder. Das kleine Mädchen habe einen Jungen an der Hand geführt und sei mit fragend erhobenen Kopf auf einen in der Nähe stehenden SS-Mann zugegangen. Ganz sicher habe es eine kindliche Frage auf den Lippen gehabt, vielleicht wollte es fragen: »Wo sind unsere Eltern geblieben?« Statt einer Antwort holte der SS-Mann nach der Schilderung der Zeugin mit seinem schweren Stiefel aus und versetzte dem Kind einen Fußtritt, das es wegflog und weinend liegen blieb. Alle Kinder des Transports begannen zu weinen. Doch die Gesichter der SS-Leute zeigten keine Rührung. Sie trieben die unschuldigen Wesen zusammen und brachten sie weg. Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Siebzehn Zeugen sind seit meinem letzten Bericht gehört worden, und jede Aussage ließ das Grauen von damals wiedererstehen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Angeklagten schwer belastet. Der Andrang hat nicht nachgelassen. Nach wie vor sind alle Plätze besetzt. Erfreulich ist, dass immer wieder ganze Schulklassen mit ihren Lehrern die Verhandlungen besuchen. Sie bekommen hier Anschauungsunterricht in jüngster Geschichte, wie er nigendwo sonst erteilt werden könnte.
Weniger erfreulich ist die Taktik der Verteidiger, die Überlebenden der Todesfabrik als unglaubwürdig hinzustellen. Viele ihrer Fragen an die Zeugen wirken verletzend und provozierend. Ein polnischer Arzt sollte zum Beispiel Auskunft darüber geben, in welchem Monat er sein Examen abgelegt hat. Besonders abstoßend sind Versuche, ausländische Zeugen einzuschüchtern und sie als Vollstrecker einer Art Verschwörung ehemaliger Auschwitzhäftlinge erscheinen zu lassen.
Wenn der Verteidiger Laternser - mit negativem Resultat übrigens - polnische Zeugen fragt, ob sie Kommunisten seien, wiegt er sich vermutlich in der Hoffnung, den Nachweis einer kommunistischen "Steuerung" erbringen zu können. Welchen Eindruck die Zeugen bekommen, wenn Verteidiger aus dem Gespräch mit einem Leidensgenossen eine "Beeinflussung" konstruieren, machte der polnische Zeuge Boratynski deutlich. Er, sagte, dies alles erinnere ihn an Auschwitz. Wenn dort zwei Häftlinge zusammengestanden hätten, habe die SS auch gleich eine Verschwörung gewittert. Nach einer Erschießung an der Schwarzen Wand musste der Zeuge sspäter die Leichen seiner ermordeten Kameraden wegtragen. Er sah, wie der Gestapomann Boger die Boger aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Als die Unglücklichen an die Wand geführt worden seien, habe Boger ihn zugerufen: Kopf hoch! Die höhnische Aufforderung sollte bwirken, dass die Opfer den Kopf hoben, damit Boger besser seine Schüsse anbringen konnte.
Der israelische Zeuge Alex Rosenstock sagte aus, er habe mindestens sechsmal gesehen, wie der jetzt angeklagte ehemalige SS-Arzt Frank auf der Rampe Männer, Frauen und Kinder für den Tod in der Gaskammer aussonderte. Es seien jeweils tauend Menschen gewesen, die mit einem Transport ankamen. Davon mussten jeweils 900 den Weg in die Gaskammer antreten. Frank hat also nach den Aussagen dieses Zeugen mehr als 5 000 Menschenleben auf dem Gewissen. Rosenstock machte seine Aussagen ruhig und bestimmt. Erst als er nach der Vereidigung aus dem Gerichtssaal ging, brach die seelische Erschütterung durch. Der Zeuge schwankte, begann lautlos zu weinen und musste aus dem Saal geführt werden. Draußen brach er zusammen
31. Oktober 1964: Am 5. Oktober trat zum ersten Mal ein Mann in den Zeugenstand, der in Auschwitz einem so genannten Todeskommando angehört hat, und zwar dem Sonderkommando im alten Krematorium des Stammlagers, das nach den Vergasungen die Leichen verbrennen musste. Die Haare des Zeugen sind grau, obwohl er erst 42 Jahre alt ist. Sein Name: Philipp Müller. Der Zeuge aus Prag berichtete beklemmende Einzelheiten von seinen Eindrücken vor und nach den Vergasungen. Noch nie hat jemand in der Hauptverhandlung von diesen Dingen erzählt. Wenn die Türen der Gaskammer geöffnet wurden, standen die Leichen nach seiner Schilderung dicht gedrängt vor den Ventilatoren. »Sie waren im Stehen gestorben. Eine Mutter hielt noch ihr Kind an der Brust. Auf dem Boden lagen grüne Kristalle. Es roch etwa nach Mandeln. Dann kam der SS-Mann Stark und trieb uns an, die Öfen zu entschlacken...«
22. September 1965: Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof nebenan lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales sind zugezogen, so, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die verbliebenen 20 Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.
Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der »schwarze Tod« von Auschwitz, Wilhelm Boger, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, dann betreten die Richter den Saal. Als erster hört Robert Mulka, dass er zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten...: sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die "kleinen Leute" vor Gericht gestanden hätten. Auch diese "kleinen Leute" seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.
Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18000 Seiten.
Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den - 1 -einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.
Die hier veröffentlichten Auszüge der Berichte von Conrad Taler erschienen in der Wiener Zeitung »Die Gemeinde«.
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