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  • Politik
  • Der Architekt Wolfram Popp baute in Berlin ein Haus zum Wohnen

Himmel als Grenze

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Grob vereinfacht gesagt, läuft es beim Wohnungsbau so ab: Der Architekt verwirklicht sich im Entwurf, gegebenenfalls im Rahmen einer schillernden Theorie von Schlichtheit und Enthaltsamkeit; der Bauherr finanziert gewinnorientiert und der Generalunternehmer versucht die Kosten zu drücken, um auch noch etwas vom Kuchen abzubekommen. Ergebnis ist meist die gesichtslose Stapelung von möglichst viel Mieteinheiten pro Fläche. In Berlin ist das Ganze noch eingebunden in den willkürlich historisierenden Dreisatz von Blockbebauung, Traufhöhe und gründerzeitkompatibler Außenhaut. Der potentielle Nutzer, der Mieter, hat nichts davon. Er muß sich mit dem zufrieden geben, was der Markt bietet. Architekt, Bauherr oder GU hingegen bewohnen die Produkte ihrer Tätigkeit recht selten.

Das weiß man, das kennt man, daran hat man sich gewöhnt. Man horcht auf, wenn zuweilen an diesem Normativ des Faktischen gerüttelt wird. Im letzten Jahr geisterte so eine Art eierlegendes Wollmilchschaf besorgter Stadtplaner durch die Feuilletons: der Bourgeois, der in öf-

fentliche Lebensqualität investiert, also sich sein innovatives, individuell zugeschnittenes Stadthaus bauen und gleichzeitig etwas gemäßigten Luxus für ein paar andere Mietparteien zu annehmbaren Preisen abfallen läßt. Die Suche verlief ergebnislos; schon gar nicht trat dies Fabelwesen massenhaft auf.

Doch es erscholl auch schon mal ein Ruf aus der Wüste. Der Architekt Hans Kollhoff, der sich bisher eher durch kleinkalibrige Stapelware auszeichnete (siehe u. a. die Planungen zum Alexanderplatz), zog im »Spiegel« (12/99) über seine Kollegen her. Er warf ihnen völliges Versagen vor und zieh sie des Wasser-Predigens und Wein-Trinkens. Sie bauten »plumpe, abstrakte Kisten« und verschrieben sich selbst dem »Nesting« im opulenten Gründerzeitambiente. Sein Ausweg: Weg vom massenhaften Bau der Idealwohnung für die Durchschnittsfamilie. Das klingt rein demografisch aktuell. Außerdem: Ermittlung der Sehnsüchte der Suchenden. Wenn das über eine karge Fragebogenaktion hinausginge - gut. Der letzte Tip, der allerdings eher weltfremd ist, zumindest im Osten: .Förderung von Wohneigentum, denn mit Eigentum ginge man sorgsamer um. Mal sehen, ob Kollhoff in Berlin'den Worten Taten folgen läßt.

Ohne großes Getöse durchbrach hingegen im letzten Jahr der Architekt Wolfram Popp den Teufelskreis von abstraktem, theoriegeleitet spartanischem Entwurf und dessen weiterer Nivellierung aus Kostengründen. Er agierte selbst als Bauherr, suchte und fand einen etwas risikofreudigeren Finanzier, plante und baute in Berlin, im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, das Haus Choriner Straße 56 und zog obendrein sowohl privat als auch mit seinem Büro dort ein. Natürlich steckt auch hier eine Theorie dahinter. Aber Popp verkauft sie nicht als Nonplusultra des Bauens, sondern als alternatives Angebot. Er geht von der Idee der Schichtung aus. Ein Haus muß nicht mehr ein hermetisch abgeschlossener Quader mit senkrechten Schutzwällen sein. Popp macht die Horizontale stark, verschiedene Schichten, die ins Unendliche auslaufen können. Von außen kann man durch das Haus hindurchsehen und das Wachsen der Apfelbäume im Innenhof beobachten. Die Wohnungen nehmen diesen freien Blick auf. Sie gehen von den Front- bis Rückfenstern durch, ohne von Wänden unterbrochen zu werden. Sie überschreiten sogar den Grundriß des Hauses. An eine erhöhte Estrade schließt sich der Balkon an und daran die Außenwelt. Bei guter Laune gilt dann »the sky is the limit« (Der Himmel ist die Grenze) in buchstäblicher Bedeutung. Im Falle des Sich-zurückziehen-Wollens vermitteln die Glasfronten und das feinmaschige Stahlnetz der Balkonummantelung wiederum schützende Grenzen. Popp hat hier einem ganz alltäglichen Paradoxon - Kuschelnwollen und Freiheitsdrang - den architektonischen Möglich-

keitsrahmen gegeben. Weder Höhle des Stadtmenschen, noch Protzbau des Machtmenschen für den Herrscherblick ins Unendliche.

Innen bleibt Popp der Idee der Schichtung treu. Blauschwarzer Fußboden und Betondecke heben sich voneinander ab. Funktionseinheiten wie Küche, Bad, WC ziehen sich entlang der Mittelwand. Sie können hinter beweglichen Lamellen, die als Wand oder Türen funktionieren, verborgen oder in den einen großen Raum, aus dem die Wohnung besteht, integriert werden. Popp bot seinen Mietern auch eine ganze Palette flexibler rechteckiger und geschwungener Raumteiler an, auf die sie jedoch verzichteten. Jedenfalls ist das Prinzip - experimentiert wurde damit übrigens auch von der Bauakademie der DDR - so einfach wie formschön wie grandios: Man kann sich die eigene Wohnung zuschneiden.

An Einzelheiten wird sichtbar, wie durchdacht das Projekt ist. Die durchgängigen Fensterfronten sind aus speziellem, wärmeundurchlässigem Glas. Das Spiel von Sonne und Wind erzeugt visuelle Effekte auf dem Edelstahlnetz. Da es Balkone an Vorder- und Rückseite gibt, verfügt man tagsüber immer über einen Sonnenbalkon. Weil Popp selbst die Kostenkontrolle übernahm, fallen die Mieten für einen Neubau mit 14 Mark Kaltmiete pro Quadratmeter noch recht moderat aus. »Bauen für alle« ist es leider nicht geworden, aber immerhin ein hoffnungsvoller Akzent. Es ist dem Architekten - und dieser Stadt - nur zu wünschen, daß der Prototyp Nachfolger findet.

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