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  • Bodenreform: Vor 60 Jahren wurde in Ostdeutschland ein Traum der Bauern wahr

Fünf Mal Kyritz - ein Protokoll

Wie eine märkische Kleinstadt in die Schlagzeilen geriet - damals und heute

  • Siegfried Kuntsche
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.

In mehreren Städten, Dörfern und Gemeinden in Ostdeutschland wird an diesem Wochenende und in den folgenden Tagen auf verschiedene Weise des 60. Jahrestages der Bodenreform erinnert. Auch und gerade in Kyritz, einer Kreisstadt in der Ostprignitz, wo alles begann. Schon gestern Abend haben sich dort 1945 enteignete ehemalige Großgrund- und Rittergutsbesitzer am Bodenreform-Denkmal getroffen und erneut ihre Forderung nach Umwidmung des »Verherrlichungsdenkmals für Unrecht« zum »Mahnmal für die Opfer und Verbrechen im Zuge der Bodenreform« bekräftigt. Kein historisches Ereignis hat jüngst solch dramatische Auseinandersetzungen (mit juristischen Konsequenzen) erlebt, wie die Bodenreform. Unser Autor, Professor für Agrargeschichte, protokolliert wechselvolle Geschichte.

Kyritz 1928. Zu Jahresbeginn gerät die kleine märkische Stadt in die Schlagzeilen deutscher Tageszeitungen: Demonstranten werfen dem örtlichen Finanzamt die Fensterscheiben ein. Hatten in den Wochen zuvor schon Zehntausende Bauern in Schleswig-Holstein mit Steuerverweigerung gegen die Agrar- und Zollpolitik der Reichsregierung protestiert, so machen jetzt Bauern in Kyritz auf handfeste Weise ihrem Unmut Luft. Der von den Großagrariern dominierte Landbund hat sie zu der Aktion aufgewiegelt, lässt sie aber im Stich, als in der Folge 50 »Krawallierern« der Prozess gemacht wird. Die KPD hingegen solidarisiert sich mit den Bauern und veranstaltet im Herbst 1928 eine Protestkundgebung. Die KPD wendet sich zunehmend den Sorgen und Nöten der werktätigen Landbevölkerung zu; eine Bodenreform zu Gunsten der Klein- und Mittelbauern gehört ohnehin zu ihren programmatischen Leitsätzen.
1928 findet in Kyritz auch eine Kundgebung der NSDAP statt. Es spricht Reichspropagandaleiter Goebbels. Mit Befriedigung stellt er fest: Die Ziele der NSDAP und die Interessen der Großgrundbesitzer im Kreis Ostprignitz stimmen überein.
Kyritz 1932. Gutsbesitzer von Oppen, Dannenwald im Kreis Ostprignitz, unterzeichnen gemeinsam mit Graf von Kalkreuth, Präsident des Reichslandbundes, eine Eingabe von Großindustriellen und Großagrariern vom 19. November d.J. zur Berufung von Adolf Hitler zum Reichskanzler. Vorausgegangen war 1931 eine Veranstaltung, in der Hitler vor 15 Großagrariern einen Werbevortrag hielt.
Kyritz 1945. Wilhelm Pieck ist aus Berlin angereist. Die KPD hat Bauern und Landarbeiter, Flüchtlinge und Vertriebene nach Kyritz gerufen. Piecks Rede zu einer geplanten Bodenreform findet Beifall, in der Diskussion kommt aber auch Skepsis auf. Dennoch wird die vorbereitete Resolution einmütig verabschiedet. Darin heißt es u.a.: »Durch den Hitlerkrieg und seine Folgen ist die Ernährung des deutschen Volkes in große Gefahr geraten. Wir Bauern sind bereit, aus dem Grund und Boden herauszuholen, was nur möglich ist. Dazu brauchen wir freie Bauernwirtschaften. Auch der Gutsbesitzer soll wieder Bauer werden. Die Flüchtlinge und Kriegsvertriebenen wollen und können seßhafte Bauern werden.«
Rede und Resolution werden durch die »Deutsche Volkszeitung«, das Organ der KPD, verbreitet. Zusammen mit den Bodenreform-Verordnungen der Länder und einer internen Richtlinie bilden sie das Handmaterial der KPD-Aktivisten bei der Mobilisierung der Dorfbevölkerung. Glaubt man Aufzeichnungen von Paul Merker, der sich damals noch in Mexiko befand, stand der Name der märkischen Kleinstadt Kyritz im Herbst 1945 auch in ausländischen Zeitungen.
Kyritz 1995. Zum 50. Jahrestag der Bodenreform haben ehemalige LPG-Vorsitzende, Vertreter der Kreisbauernverbände und PDS-Politiker zu einer Veranstaltung geladen, um sich »über den historischen Platz der Bodenreform« und die aktuelle Politik der Bundesregierung, die Abwicklung der Bodenreform und Bodenprivatisierung zu verständigen. Die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gestaltete Konferenz am 2. September kennzeichnet eine »bunte Mischung«. Veteranen berichten aus eigenem Erleben von Gutsherrschaft und nazistischer Verfolgung. Auch Bodenreform-Betroffene nehmen die Gelegenheit zur Meinungsäußerung wahr. PDS-Politiker kritisieren die regierungsamtliche Enteignung von Bodenreform-Erben sowie Bestrebungen von Alteigentümern zur Aneignung der Treuhandflächen zum Nachteil der ostdeutschen LPG-Nachfolgebetriebe. Ein Forstingenieur warnt vor Waldprivatisierung, die selbst vor erst 1990 geschaffenen Naturparks nicht Halt mache. Agrarhistoriker erhellen anhand neuer Erkenntnisse durch Öffnung von Archiven die geschichtliche Ambivalenz der Bodenreform, betonen aber auch deren »Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt«. Es kommt zu heftigen Wortgefechten. Ein Rechtsanwalt gibt »Worte des Protestes« ab: »Neokommunisten, die alten, längst auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandeten Weltanschauungen von staatlicher Allmacht und Unterdrückung der Bevölkerung... verbissen anhängen, muß das Handwerk gelegt werden: Wo bleibt das Verbot dieser Versammlung mit Volksverhetzung und Spaltung der Deutschen Einheit durch die Regierenden im Lande Brandenburg?«
Kyritz2005. In den ersten Augusttagen versendet der CDU-Bürgermeister Einladungen zu einer Konferenz, die am jetzigen Wochenende stattfinden soll. Darin wird behauptet, dass im Zuge der Bodenreform »90 000 Menschen ihr Leben verloren« hätten. Warum nicht 93 000? Oder 100 000?
Am 30. März 2003 hat der Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Klage von Bodenreform-Enteigneten abgewiesen. Anfang Juli hielt der Anwalt der enttäuschten Kläger, Dr. Gertner, einen Vortrag an der Akademie in Waren: »Urteil des Europäischen Gerichtshofes - was tun?« Er riet seinen Mandanten, sie sollten nun wegen »Verfolgungsunrecht mit der Rechtsqualität eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit« in Gestalt von »Vertreibungen, Internierungen, Hinrichtungen etc.« (mit der Folge von Vermögensentzug) klagen. Ein Schelm, der eine Interessengemeinschaft zwischen Bürgermeister, Anwalt und Bodenreform-Enteigneten vermutet?
Ungeachtet allen ideologischen Streits - es geht um riesige Vermögenswerte. Der Wert der Parzellen, die Bodenreform-Erben nach 1990 entzogen wurden, wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Welche Vermögenswerte mögen bei der anderen Partei im Spiel sein?

Am heutigen Sonnabend lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer Konferenz in Kyritz (10-13 Uhr) ins Gymnasium »Friedrich Ludwig Jahn«, Perleberger Str. 6
Kyritz 1928. Zu Jahresbeginn gerät die kleine märkische Stadt in die Schlagzeilen deutscher Tageszeitungen: Demonstranten werfen dem örtlichen Finanzamt die Fensterscheiben ein. Hatten in den Wochen zuvor schon Zehntausende Bauern in Schleswig-Holstein mit Steuerverweigerung gegen die Agrar- und Zollpolitik der Reichsregierung protestiert, so machen jetzt Bauern in Kyritz auf handfeste Weise ihrem Unmut Luft. Der von den Großagrariern dominierte Landbund hat sie zu der Aktion aufgewiegelt, lässt sie aber im Stich, als in der Folge 50 »Krawallierern« der Prozess gemacht wird. Die KPD hingegen solidarisiert sich mit den Bauern und veranstaltet im Herbst 1928 eine Protestkundgebung. Die KPD wendet sich zunehmend den Sorgen und Nöten der werktätigen Landbevölkerung zu; eine Bodenreform zu Gunsten der Klein- und Mittelbauern gehört ohnehin zu ihren programmatischen Leitsätzen.
1928 findet in Kyritz auch eine Kundgebung der NSDAP statt. Es spricht Reichspropagandaleiter Goebbels. Mit Befriedigung stellt er fest: Die Ziele der NSDAP und die Interessen der Großgrundbesitzer im Kreis Ostprignitz stimmen überein.
Kyritz 1932. Gutsbesitzer von Oppen, Dannenwald im Kreis Ostprignitz, unterzeichnen gemeinsam mit Graf von Kalkreuth, Präsident des Reichslandbundes, eine Eingabe von Großindustriellen und Großagrariern vom 19. November d.J. zur Berufung von Adolf Hitler zum Reichskanzler. Vorausgegangen war 1931 eine Veranstaltung, in der Hitler vor 15 Großagrariern einen Werbevortrag hielt.
Kyritz 1945. Wilhelm Pieck ist aus Berlin angereist. Die KPD hat Bauern und Landarbeiter, Flüchtlinge und Vertriebene nach Kyritz gerufen. Piecks Rede zu einer geplanten Bodenreform findet Beifall, in der Diskussion kommt aber auch Skepsis auf. Dennoch wird die vorbereitete Resolution einmütig verabschiedet. Darin heißt es u.a.: »Durch den Hitlerkrieg und seine Folgen ist die Ernährung des deutschen Volkes in große Gefahr geraten. Wir Bauern sind bereit, aus dem Grund und Boden herauszuholen, was nur möglich ist. Dazu brauchen wir freie Bauernwirtschaften. Auch der Gutsbesitzer soll wieder Bauer werden. Die Flüchtlinge und Kriegsvertriebenen wollen und können seßhafte Bauern werden.«
Rede und Resolution werden durch die »Deutsche Volkszeitung«, das Organ der KPD, verbreitet. Zusammen mit den Bodenreform-Verordnungen der Länder und einer internen Richtlinie bilden sie das Handmaterial der KPD-Aktivisten bei der Mobilisierung der Dorfbevölkerung. Glaubt man Aufzeichnungen von Paul Merker, der sich damals noch in Mexiko befand, stand der Name der märkischen Kleinstadt Kyritz im Herbst 1945 auch in ausländischen Zeitungen.
Kyritz 1995. Zum 50. Jahrestag der Bodenreform haben ehemalige LPG-Vorsitzende, Vertreter der Kreisbauernverbände und PDS-Politiker zu einer Veranstaltung geladen, um sich »über den historischen Platz der Bodenreform« und die aktuelle Politik der Bundesregierung, die Abwicklung der Bodenreform und Bodenprivatisierung zu verständigen. Die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gestaltete Konferenz am 2. September kennzeichnet eine »bunte Mischung«. Veteranen berichten aus eigenem Erleben von Gutsherrschaft und nazistischer Verfolgung. Auch Bodenreform-Betroffene nehmen die Gelegenheit zur Meinungsäußerung wahr. PDS-Politiker kritisieren die regierungsamtliche Enteignung von Bodenreform-Erben sowie Bestrebungen von Alteigentümern zur Aneignung der Treuhandflächen zum Nachteil der ostdeutschen LPG-Nachfolgebetriebe. Ein Forstingenieur warnt vor Waldprivatisierung, die selbst vor erst 1990 geschaffenen Naturparks nicht Halt mache. Agrarhistoriker erhellen anhand neuer Erkenntnisse durch Öffnung von Archiven die geschichtliche Ambivalenz der Bodenreform, betonen aber auch deren »Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt«. Es kommt zu heftigen Wortgefechten. Ein Rechtsanwalt gibt »Worte des Protestes« ab: »Neokommunisten, die alten, längst auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandeten Weltanschauungen von staatlicher Allmacht und Unterdrückung der Bevölkerung... verbissen anhängen, muß das Handwerk gelegt werden: Wo bleibt das Verbot dieser Versammlung mit Volksverhetzung und Spaltung der Deutschen Einheit durch die Regierenden im Lande Brandenburg?«
Kyritz2005. In den ersten Augusttagen versendet der CDU-Bürgermeister Einladungen zu einer Konferenz, die am jetzigen Wochenende stattfinden soll. Darin wird behauptet, dass im Zuge der Bodenreform »90 000 Menschen ihr Leben verloren« hätten. Warum nicht 93 000? Oder 100 000?
Am 30. März 2003 hat der Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Klage von Bodenreform-Enteigneten abgewiesen. Anfang Juli hielt der Anwalt der enttäuschten Kläger, Dr. Gertner, einen Vortrag an der Akademie in Waren: »Urteil des Europäischen Gerichtshofes - was tun?« Er riet seinen Mandanten, sie sollten nun wegen »Verfolgungsunrecht mit der Rechtsqualität eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit« in Gestalt von »Vertreibungen, Internierungen, Hinrichtungen etc.« (mit der Folge von Vermögensentzug) klagen. Ein Schelm, der eine Interessengemeinschaft zwischen Bürgermeister, Anwalt und Bodenreform-Enteigneten vermutet?
Ungeachtet allen ideologischen Streits - es geht um riesige Vermögenswerte. Der Wert der Parzellen, die Bodenreform-Erben nach 1990 entzogen wurden, wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Welche Vermögenswerte mögen bei der anderen Partei im Spiel sein?

Am heutigen Sonnabend lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer Konferenz in Kyritz (10-13 Uhr) ins Gymnasium »Friedrich Ludwig Jahn«, Perleberger Str. 6

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