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Kurs halten statt Neoliberalismus

SPD-Bundestagsabgeordnete: Soziale Gerechtigkeit bleibt unsere Aufgabe

  • Lesedauer: 6 Min.

Viele unserer Wählerinnen, Wähler und Mitglieder in den Wahlkreisen fragen zweifelnd, welchen Weg die Sozialdemokratie denn nun einzuschlagen gedenkt. Immer mehr von ihnen stellen sich und uns die Frage, warum sie sich für den Wahlsieg eingesetzt haben und befürchten, dass der von ihnen gewollte Politikwechsel nicht stattfindet. Das Schröder/Blair-Papier hat diese Besorgnis noch verstärkt. Deshalb ist es an der Zeit, dass wir zusammen in der Partei und SPD-Bundestagsfraktion wieder für mehr Klarheit und Sicherheit sorgen, dass wir auf der Grundlage unseres Berliner Grundsatzprogramms, des Wahlprogramms der SPD und der Koalitionsvereinbarung eine berechenbare und verlässliche, mit einem klaren sozialdemokratischen Profil ausgestaltete Politik machen.

Fast überall in Europa konnten die Sozialdemokratischen Parteien die Begierungsverantwortung zurückerobern. Sie wurden gewählt, weil die Angebotspolitik der konservativ-liberalen Regierungen an der Bewältigung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme gescheitert ist. Diese Politik führte im Ergebnis zu großer sozialer Ungleichheit und einer Umverteilung von unten nach oben.

Dagegen sollten Arbeit, Innovation, Gerechtigkeit vom Inhalt und Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit und Veriässlichkeit vom Stil her wieder zur Richtschnur der Regierungspolitik werden. So haben wir es im Wahlprogramm 1998 versprochen. Ein Politikwechsel statt nur ein Regierungswechsel - das war und ist unsere Botschaft. Die Wählerinnen und Wähler erwarten jetzt zu Recht von der Sozialdemokratie eine andere Politik und die Vision einer neuen Gesellschaft.

Unmittelbar nach der Übernahme der Regierungsverantwortung haben wir gemeinsam vieles erreicht. Wir waren auf dem richtigen Weg. Mit der Wiederherstellung des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung haben wir einige der ungerechtesten Maßnahmen der Kohl-Regierung revidiert und Arbeitnehmerrechte wiederhergestellt. Mit der Ökosteuer haben wir die Grundlage für die Entlastung der Arbeit von Lohnnebenkos-

ten gelegt und die Rentenfinanzierung sicherer gemacht. Mit dem gesteigerten Bildungsetat und dem 100 000-Dächer-Programm haben wir sofort wirksame Maßnahmen zur Förderung dringend benötigter Innovationen getroffen. Mit dem Programm »100 000 Arbeitsplätze für arbeitslose Jugendliche« und einer sozialeren Familienpolitik haben wir die Tatenlosigkeit der alten Regierung auf diesen Gebieten beendet. Mit den ersten Maßnahmen zur Steuerreform haben wir die Umverteilung von unten nach oben gestoppt und wieder durch mehr Verteilungsgerechtigkeit ersetzt. Mit all diesen Maßnahmen haben wir begonnen, dem Wählerauftrag nachzukommen und unsere Wahlversprechen zu halten. Allerdings haben wir dabei teilweise kleinmütig reagiert, als die ersten und zu erwartenden Protestkampagnen der Nutznießer der Kohl'schen Politik gegen uns anfingen. Und wir mussten feststellen, dass gerade in der Spitze von Partei und Regierung teilweise der Eindruck erweckt wurde, als sei diese sozialdemokratische Reformpolitik nur eine lästige Pflichtübung und die eigentliche neue und ganz andere Politik werde erst nach einer Richtungsänderung wirklich beginnen.

Widersprüchlichkeit und mangelnde Unterstützung für die eigene Politik der ersten Regierungsmonate, der Rücktritt von Oskar Lafontaine, bis hin zu ebenso inhaltlich wie strategisch zweifelhaften Kernsätzen von der Führung der Fraktion haben Verwirrung gestiftet statt dafür zu sorgen, dass Kurs gehalten wird. Insbesondere das Papier von Tony Blair und Gerhard Schröder hat bei vielen den Eindruck hinterlassen, nach den ersten Regierungsmaßnahmen werde nun alles wieder auf den Kopf gestellt und es gebe eine Rückkehr zu den Grundsätzen der Politik von Helmut Kohl.

Aus unserer Sicht bis heute unverändert richtig, wurde noch im SPD-Wahlprogramm 1998 angekündigt, »mit einer klugen und pragmatischen Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik für mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze zu sorgen« Dagegen trägt das zentrale Kapitel des Schröder/Blair-Papiers jetzt den bezeichnenden Titel »Eine neue angebotsorientierte Agenda für die Linke«

Es ist für uns kein Zufall, dass Worte wie Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität im Papier entweder nur am Rande vorkommen oder einen veränderten Sinn erhalten. Wir halten diesen Ansatz einer programmatischen Wende nicht für die Erneuerung, sondern für die Anlehnung an die gescheiterten Rezepte der Neoliberalen und in seiner Zuspitzung letztlich für eine Zerstörung der Identität der Sozialdemokratie.

Ob die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Erneuerung der Wirtschaft, ob Innovation in Bildung und Qualifikation, ob Sicherung von Rente und Krankenversicherung, ob Nachhaltigkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen und der Umwelt, ob Abbau der Staatsverschuldung und die weitere Integration in Europa: eine gestaltende Politik greift über die nächsten Wahltermine hinaus und muss sich an Handlungsperspektiven für mindestens 10 Jahre orientieren, wenn sie Überzeugungskraft und anhaltende Wirkung entfalten will.

Damit wir nicht falsch verstanden werden: Auch wir halten es für nötig, dass Staat, Wirtschaft, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rechtzeitig auf Entwicklungen in der globalen Wirtschaft und Strukturveränderungen auf den Binnenmärkten reagieren und sich ihre Zukunftsfähigkeit erhalten. Wenn die Verantwortung dafür aber allein auf Arbeitnehmermnen und Arbeitnehmer, sozial Schwache und den Staat abgewälzt werden soll und die soziale Verantwortung der Unternehmer mit keinem Wort mehr erwähnt wird, wenn wieder nur die so genannte Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitskräfte im Vordergrund steht, während von Produkt- und Prozessinnovationen kaum die Rede ist, ist das für uns weder modern noch entspricht es unseren Vorstellungen von sozialdemokratischer Politik.

Von sozialdemokratischer Politik kann unsere Wählerschaft zu Recht verlangen, dass eine Besteuerung der im Privatbesitz realisierten Kursgewinne bei Wertpapieren und der darauf basierenden Derivate - gegebenenfalls nach Haltefristen herabgestaffelt - bundesweit eingeführt wird und generell Spekulationsgewinne einschließlich solcher aus der Bodenspekulation wie alle anderen Einkommen behandelt und besteuert werden. Zur Finanzierung einer weiteren Entlastung der Arbeit von Lohnnebenkosten muss auch über die mögliche Einführung einer Wertschöp-TUngsäb'gaßeMfifensW diskutiert WeVae7i! , lU ?, 1 ;

.Auch wenn der'Kassensturz nach dem Regierungswecnsel eine umfassende und nachhaltige Haushaltskonsolidierung als unumgänglich erscheinen lässt, muss sich sozialdemokratische Politik daran messen lassen, wo sie einspart, wo sie Steuern senkt und wie gerecht die Lasten verteilt werden. Das 30-Milliarden-Sparpa.ket ist ausschließlich eine der möglichen Reaktionen auf haushaltspolitische Notwendigkeiten, aber mit Sicherheit kein »Zukunftsprogramm« Der verkündete Anspruch, das Sparpaket ziele auf Arbeit und Gerechtigkeit, weil es jeden betreffe und jeder seinen Beitrag leisten müsse, darf deswegen bezweifelt werden. Wenn die Unternehmen netto erneut um 8 Mrd. DM entlastet werden und gleichzeitig Kürzungen bei Rentnern, Arbeitslosen und öffentlichen Investitionen in Höhe von 30 Mrd. DM erfolgen, wird die gescheiterte Umverteilungspolitik der Kohl-Regierung fortgesetzt.

Die Debatte um eine moderne Politik, die den Namen »sozialdemokratisch« verdient und den enttäuschten Wählerinnen und Wählern die Überzeugung zurückgibt, tatsächlich eine wirkliche Alternative zu Helmut Kohl gewählt zu haben,

ist jetzt unumgänglich. (ND dokumentierte Auszüge)

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