Mit der Marktfrau zum Dukatenscheißer
Celle ist mit seinem Reichtum an Fachwerkbauten eine der schönsten Städte Deutschlands
Manchmal sieht Celle ziemlich alt aus. Manchmal, das ist von April bis Oktober jeden ersten Sonnabend im Monat. Dann nämlich zieht Hannes der Trommler mit seinem Instrument durch die Altstadt, neben sich die 1. Marktfrau bei Hofe mit dem Einkaufskorb am Arm und der Kammerdiener. Und wie zufällig flanieren auch die Herrschaften in der Residenzstadt.
In einer Gasse springen die Schaulustigen erschrocken zur Seite, wenn die Zofe den Nachttopf aus dem Fenster entleert. Mit Charme und Witz erklärt die Marktfrau die Geschichte der Stadt, die sich in den Fachwerkhäusern verewigt hat. Wie am alten Bürgermeisterhaus in der Kalandgasse, wo sich der Nutzen der vorkragenden Etagen, nämlich die üppigen Schnitzereien vor Regen zu schützen, deutlich zeigt. Vor allem aber waren die Steuern geringer, wenn das Haus unten schmaler als oben ist. In der Rabengasse Nr. 2 wurde so viel gelogen, dass sich - wie man sehen kann - die Balken bogen. Am Haus Neue Straße 11, erbaut 1534, ist in den Symbolen des einfachen Schnitzwerkes die Stadtgeschichte lesbar. Nicht für jedermann, doch die Marktfrau deutet den Bilderfries, in dem zum Beispiel in unveränderter Aktualität nur mit einem Esel als Dukatenscheißer den Forderungen des Fiskus nachzukommen ist. Noch zwei Jahre älter ist das wohl prächtigste unter den vielen schönen Fachwerkbauten zu bewundernde Hoppenerhaus in der Post-/Ecke Rundestraße.
»Die stinkfeine Gesellschaft gibt sich die Ehre« - wie die Zeitreise sich nennt - beginnt natürlich im barocken Ambiente des Schlosses, der einstigen Residenz der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg. Mit dem ältesten Barocktheater Deutschlands und dem einzigen Residenzmuseum ist es der kulturelle Mittelpunkt von Celle. Der Herzog ist abwesend, so bleibt den Höflingen nebst Bediensteten Muße, sich der Gäste anzunehmen. Es sind zwölf Celler Bürger und Bürgerinnen, die sich in zeitgemäße Kostüme geworfen haben, um ihre Stadt dem historischen Anspruch gemäß den Besuchern nahe zu bringen. Denn: Celle ist mit seiner Fachwerk-Altstadt einmalig in Deutschland. Hier stehen mehr als 500 Häuser unter Denkmalschutz. Im Wettbewerb »Entente Florale« wurde Celle zur schönsten Stadt Deutschlands gekürt. Dem außergewöhnlichen Ensemble von aufwändig restaurierten Fachwerkhäusern entspricht die ungewöhnliche Stadtführung. Die sie in Szene setzen, haben sich mit Geschichte und Lebensweise bis ins Detail vertraut gemacht. Die muntere und redselige Marktfrau heißt Ingeborg Reuter. Sie ist als Kunsthistorikerin arbeitslos und als Schlossführerin tätig. »Das Talent, die Stadtgeschichte in historischem Stil zu erklären, habe ich erst bei den Führungen entdeckt«, sagt sie. Alle zwölf sind Gästeführer, etliche, wie Uwe Winnaker, der näselnd und hochmütig einen adligen Hugenotten am Hofe des Herzogs Georg Wilhelm gibt, sind Lehrer von Beruf.
Celle ist vor allem Stätte gepflegter Vergangenheit; das ist der Charme der Stadt. Doch ihren Reiz bezieht sie auch aus der Verknüpfung von Gegensätzlichkeit. Die alten Häuser beherbergen Mode-Boutiquen und Trend-Lokale, dem Alten Rathaus steht das Neue entgegen, das dem Berliner Roten Rathaus ähnelt, es in seinen Ausmaßen sogar noch übertrifft, Museen zeigen Kulturgeschichte und moderne Kunst, und der Wechselwirkung von Stadt und Land kann sich der Besucher kaum entziehen. Er würde Erlebnisse besonderer Art versäumen.
Da ist die Lüneburger Heide; Celle liegt an ihrem Südrand. Zum beschaulichen Ort Müden ist es nicht weit. Und wer einmal hier ist, sollte eine Planwagenfahrt in die Heide nicht versäumen. »Kuddel« Marquardt kutschiert nicht nur, er erklärt Wald und Flur, flunkert wohl auch dabei, unterhält mit Gesang zu Akkordeonspiel und bewirtet obendrein seine Gäste mit deftiger Hausmannskost aus der Küche von Frau Roselore. Auch der Luftkurort Winsen ist einen Besuch wert. »Nicht snacken - to packen« ist das Motto des Heimatvereins, der mit dem Heidehof ein für Niedersachsen typisches Gehöft in ursprünglichem Stil aufgebaut und eingerichtet hat. Und das Leben voller Entbehrungen zum Beispiel an den Klönabenden im Flett, dem Küchenraum, nacherleben lässt. Leben ohne jeglichen Komfort, Mensch und Vieh ohne räumliche Trennung, Feuer ohne Rauchabzug.
Und wenn wir schon bei Ausflügen sind: Wienhausen mit dem berühmten Kloster darf nicht fehlen.. Es dient heute als Damenstift und natürlich als museale Einrichtung. Mittelpunkt ist die fast 1000 Jahre alte St. Marien-Kirche mit ihrer außergewöhnlich vielfältigen Malerei. Zurück in Celle kann man den Abend in einer der zahlreichen Lokalitäten, vielleicht in der Bierakademie, wo es sogar ein Bierdiplom zu erwerben gibt, genießen. Spätestens dann lässt sich vor der einzigartigen Fachwerkkulisse schon erahnen, dass hier und nur hier der Weihnachtsmarkt seine Heimstatt haben muss. Auch dies eine Celler Besonderheit: Der Weihnachtsmarkt ist selbst am 2. Feiertag geöffnet, dann für verfehlt...
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