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Achtung, DDR-Bürger!

Amtshilfe zwischen sozialistischen Brüdern - im Herbst 1989 ging nichts mehr

  • Lesedauer: 7 Min.

Von Dr. Emil Hruska, Plzen

Es war für uns schon fast unheimlich: Die Flut schien nicht verebben zu wollen. Jeden Tag kamen Hunderte DDR-Bürger in unser Land - nicht, um Urlaub zu machen. Ihr Ziel war die Botschaft der BRD in Prag. Die tschechischen Polizisten gaben es schließlich auf, die DDR-Flüchtlinge vom Übersteigen des BRD-Botschaftszauns abzuhalten. Verwundert sahen sie zu. So etwas haben sie noch nicht erlebt.

Dabei ist es in all den Jahren und Jahrzehnten zuvor immer wieder vorgekommen, dass DDR-Bürger versuchten, über die »grüne Grenze« unseres Landes in den Westen zu gelangen. Ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre waren die so genannten militärisch-technischen Sicherungsanlagen an der tschechoslowakisch-ostdeutschen Grenze beseitigt worden. Mit dem Visa-freien Verkehr zwischen der CSSR und DDR belebte sich der Besucherstrom beiderseits, wuchsen aber auch die Ängste der DDR-Führung vor Zunahme von »Republikflucht«. Tschechoslowakische Grenzsoldaten, die an der Staatsgrenze zu Westdeutschland, aber auch an der österreichischen Grenze ihren Dienst

versahen, hatten dementsprechende Anweisungen. Es reichte, dass in irgendeinem Grenzdorf ein Auto oder ein Motorrad mit DDR-Kennzeichen auftauchte, oder Touristen aus der DDR per Zug oder Bus in Richtung Grenze reisten, und die Grenzer wurden aktiv. Die militärischtechnische Sicherung der tschechoslowakisch-westdeutschen und tschechoslowakisch-österreichischen Grenze war »sanfter« und viel einfacher zu überwinden als die zwischen beiden deutschen Staaten.

Ein typischer Fall an der tschechoslowakischen Westgrenze zur Zeit des »Eisernen Vorhanges«: Aus einer Grenzstadt fährt ein Trabi mit zwei jungen DDR-Bürgern ab. Sie haben ein Zelt und Schlafsäcke, suchen einen Platz zum Übernachten. Die Umgebung ist ihnen fremd, und sie wissen vielleicht nicht, dass sie sich der so genannten Grenzzone, dem Sperrgebiet nähern, das man nur mit besonderen Passierscheinen betreten darf. Sie finden endlich einen Platz zum Nächtigen, etwa einen Kilometer von der Grenzzone entfernt. Natürlich entgehen die beiden nicht der immer wachsamen Aufmerksamkeit der zivilen »Helfer der Grenzwache«. Diese rufen sofort die zuständige Grenzeinheit an: Achtung, im Wald sind DDR-Bürger! Sofort kommen ein paar bewaffnete

Grenzer angefahren. Das aufgeschreckte Pärchen muss seine sieben Sachen packen, wird zum Verhör geführt und danach - als sich herausstellt, dass es nicht in den Westen flüchten wollte - aus dem Gebiet, das eigentlich frei betreten werden darf, hinausgewiesen. Das ist zwar rechtswidrig, aber ein Bruderdienst an der DDR. Und, wo könnten sich die beiden jungen Leute auch schon beklagen?

Solche Fälle hat es gegeben. Aber auch die anderen: Anfang der 70er Jahre waren etwa 90 Prozent der Personen, die an der tschechoslowakischen Westgrenze beim Fluchtversuch festgenommen wurden, DDR-Bürger. CSSR-Bürgern stand für eine eventuelle Flucht in den Westen die viel bequemere Möglichkeit über legale touristische Reisen - vor allem nach Jugoslawien - offen. Diese Tatsache hatte den oben beschriebenen Effekt bei den tschechoslowakischen Grenzern zur Folge. Man kann es sich vorstellen, dass die angemahnte Wachsamkeit vor verdächtigen DDR-Bürgern in Grenznähe nicht gerade große Begeisterung auslöste. Dabei hat zweifellos auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass jeder gelungene Fluchtversuch von DDR-Bürgern harte Strafen für die Grenzer zur Folge hatte. Auf »frischer Tat« ertappte DDR-Bürger wurden am Grenzübergang Vojtanov/Schönberg den

Kollegen vom MfS der DDR übergeben. Die »Jagd« auf potentielle »DDR- Flüchtlinge« beschränkte sich nicht nur auf die »grüne Grenze«. In Karlovy Vary war eine MfS-Residenz, die sich nicht nur mit Kontraspionage befasste. Die tschechischen Polizeibeamten an den Grenzübergängen zwischen CSSR und DDR waren angewiesen, Acht zu geben, ob unter den einreisenden DDR-Bürgern Leute sein könnten, die eventuell sich in den Westen absetzen wollten. Der Nachrichtendienst der tschechoslowakischen Grenzwache verfügte im Grenzgebiet über ein umfangreiches Netz von Verbindungsmännern in Hotels, Camps, Bahnhöfen und überall dort, wo DDR-Bürger anzutreffen waren. V-Männer sollten jede »verdächtige Person« melden. Im Auftrag des MfS der DDR haben die tschechischen Grenzer auch Kontakte zwischen DDR- und BRD-Bürgern registriert. Für die entsprechende Berichterstattung gab es besondere Formulare, die über Prag nach Berlin geschickt wurden.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre, als die Anzahl der Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die CSSR nach Westen stieg, verstärkt sich der Unmut der tschechischen Grenzer über die von ihnen abverlangten Praktiken. Vor allem junge Grenzoffiziere forderten eine politische Lösung des Problems. Die jedoch ließ sogar noch im September 1989 auf sich warten, als tausende DDR-Bürger die BRD-Botschaft in Prag besetzt hielten. Trotz krampfhafter Versuche, nach wie vor die »Unantastbarkeit der Grenze« zu bewahren, bekam aber nun der »Eiserne Vorhang« Löcher.

18. September 1989: In einer Resolution, die in der Folge 3000 DDR-Künstler, vornehmlich aus der Rock-, Pop- und Liedermacherszene, unterzeichnen, heißt es: »Wir sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Staats- und Parteiführung ...« 25. September: Georg Sterzinsky, katholischer Bischof von Ost-Berlin, nimmt in einer Predigt zur Ausreisewelle Stellung: »Gott hat uns hierher gestellt. Und wem es möglich ist, der soll hier bleiben, denn wir dürfen die Verantwortung nicht abwälzen.« Erst wenn einer zu Handlungen gegen sein Gewissen genötigt sei, »ist er gehalten, seinen Lebensraum zu verlassen und einen neuen zu suchen«. 28. September: DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel kann in Warschau 50 von insgesamt 600 DDR-Flüchtlingen in der BRD-Botschaft zur Rückkehr in die DDR mit dem Versprechen bewegen, von dort in die BRD ausreisen zu dürfen. Die Situation in der Prager Botschaft, wo sich mehr als 2000 Menschen aufhalten, spitzt sich zu. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, die für die Verpflegung von 1000 Personen eingerichtete Großküche reicht nicht mehr aus. 29.September: DDR-Außenminister Oskar Fischer sagt vor der UNO-Vollversammlung in New York, wer sich »eine sogenannte Obhutspflicht« für Bürger anderer Staaten anmaße, untergrabe die Zusammenarbeit im Herzen Europas.

Genschers größter historischer Auftritt in Prag

30. September: Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) fliegt in Begleitung von Känzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU) nach Prag und teilt den Flüchtlingen in der Botschaft mit, dass sie noch am selben Abend in die BRD ausreisen können. Diese Entscheidung, die auch für DDR-Flüchtlinge in Warschau gilt, geht nach Angaben von Genscher und Seiters auf DDR-Staats- un*d Parteichef Erich Honecker persönlich zurück. Mit Sonderzügen fahren von Warschau aus rund 800 Flüchtlinge durch die DDR nach Helmstedt, von Prag rund 5500 über Dresden nach Hof.

1. Oktober: In einem ADN-Kommentar heißt es über die DDR-Flüchtlinge: »Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.«

3. Oktober: In der BRD-Botschaft in Prag befinden sich nunmehr 4500 DDR-Bürger. Am Abend gibt die DDR-Führung die Genehmigung zu deren Ausreise. Horst Neubauer, der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, teilt diese Entscheidung Seiters mit. Am selben Tag setzt Berlin »zeitweilig den visafreie Reiseverkehr zwischen beiden Ländern für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung« aus.

4. Oktober: In Sonderzügen werden die Botschaftsfüchtlinge von Prag über das Gebiet der DDR in die BRD gebracht. In Dresden kommt es vor dem Hauptbahnhof zu Schlägereien zwischen Sicherheitskräften und rund 3000 Menschen. Das Neue Forum warnt vor Gewalt in politischen Auseinandersetzungen. Nach der Zusage einer »wohlwollenden« Prüfung ihrer Ausreiseanträge verlassen 18 DDR-Bürger die Ost-Berliner Botschaft der USA. Die offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR beginnen mit einem Großen Zapfenstreich.

5. Oktober: In Magdeburg und Dresden lösen Sicherheitskräfte Demonstrationen von ausreisewilligen DDR-Bürgern auf. 100 Menschen, die seit mehreren Tagen die Kreuz- und die Dreikönigskirche in Dresden besetzt halten, dürfen ausreisen. 7. Oktober: In einem ARD-Fernsehinterview ruft der Vorsitzende des DDR-Kirchenbundes, Landesbischof Werner Leich, die Menschen in der DDR zu Besonnenheit und Geduld auf: »Jeder, der geht, fehlt uns einfach.«

Unbeirrt läßt sich die SED-Führung zum »Geburtstag der Republik« feiern.

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