Stehen bleiben, Polizei!
Günter Schumanns Welt verstört die Staatsdiener Mecklenburg-Vorpommerns. Und das ist nicht gut so
Im Garten kreischt die Kettensäge; Günter Schumann arbeitet. Angeblich auch an Sonntagen, an denen man ja ruhen soll, doch er, weil das Gesetz es so will, achtet peinlich genau darauf, nur von montags bis samstags Künstler zu sein. Absurd: Man ist Künstler stets oder nie. Und Günter Schumann istKünstler, einer der großen lebenden. Zu den Großen zählt er nicht, weil die Geschöpfe, die er erschafft, oftmals überlebensgroß sind, sondern weil sie einen auf so eigentümliche Weise anrühren. Sollte ein Sammler sie entdecken, könnten sie über Nacht ein Vermögen wert werden. Er winkt ab: »Völlig unwichtig.«
Schumann, im alten karierten Hemd, mit den schmutzigen Fingernägeln eines Waldarbeiters, braucht nicht viel. Und es ist auch nicht so, dass er am Hungertuch nagen müsste: Schon in der DDR war er mit seinen Tierskulpturen zum Star avanciert. Kaum ein Spielplatz in Berlin, den nicht seine hölzernen Giraffen oder Elefanten schmücken; längst kann man sie auch in Dortmund, Duisburg oder Hamburg finden. Doch Schumann war niemals nur Handwerker, nicht immer wurde er gefeiert. Sein bis ins Detail nachgebildeter Trabi beispielsweise erregte Verdruss. »Ich habe damals alles vermieden, das wie Karikatur aussah«, sagt Schumann mit Unschuldsblick, der sein Markenzeichen ist. Dennoch: kleinbürgerliche Enge. Schumann hatte den Trabi mit vier »Insassen« für die VIII. DDR-Kunstausstellung 1977/78 in Dresden vorgesehen. Die Auswahlkommission, bestehend aus Kollegen, schien begeistert. Bis der Stellvertretende Verbandsvorsitzende, ebenfalls Kommissionsmitglied, sagte: »Ich weiß nicht, ob wir das durchkriegen.« Danach schüttelten auch die Kollegen die Köpfe. Menschen. Schumann, der damals noch in Zwenkau, mitten in dieser »gequälten Braunkohlenlandschaft« wohnte, hatte seinen Trabi dann mit Hilfe einer Speditionsfirma auf den Leipziger Markt gestellt. Die Leute hatten Heidenspaß daran, ihn einige Tage lang durch die Stadt zu schieben. Bis die Obrigkeit dem ein Ende setzte, indem sie den Trabi abschleppen und wieder vor Schumanns Tür stellen ließ.
Gut 20 Jahre, von 1980 bis 2001, vermochte Schumann nur noch seine Tiere zu fertigen. Eine Schaffenskrise. Nichts half, auch nicht, dass er 1996 nach Mecklenburg-Vorpommern zog, ins malerische Woserin. Ein Kollege, der dort im Jahr 2000 mit ihm sprach, mutmaßte: »...vielleicht liegt es an dem geplatzten Traum vom Paradies«. »Unsinn«, sagt Schumann, »die Gründe lagen in mir.« Wer seine Arbeiten betrachtet, die von damals und die von heute, sieht: Alles liegt in ihm, ihm auf der Seele - die ganze Welt. Doch - dies ist der Unterschied zwischen einem Ideologen und einem Künstler - Schumann stellt nicht die Probleme der Welt dar, sondern die Probleme, die er, Schumann, mit der Welt hat. »Ich will niemandem etwas sagen.« Sagt er. Um mit tiefem Ernst hinzuzufügen: »Ich will ja auch nicht, dass mir jemand etwas sagt. Wenn meine Skulpturen trotzdem wirken, habe ich aber nichts dagegen.«
2001, womöglich, weil er da noch einmal Vater geworden war, konnte er plötzlich wieder arbeiten. Und wie! Mit elf Jahren »Verspätung« beginnt er, sich zu fragen: »Was ist das für ein Land, in dem ich jetzt lebe?« Die Skulpturen, die er seither schuf, bevölkern rund um das Wohnhaus herum sein zwei Hektar großes Grundstück. Schumanns Welt. Eine Welt tiefer Menschlichkeit. Die erste Skulptur, die er nach 20-jähriger Schaffenspause schuf, beschäftigt sich mit dem Tod von Wolfgang Grahms in Bad Kleinen. Schumann zeigt ihn als Hinrichtung. Die Augenzeugen sind ihm inzwischen das Wichtigste seiner Darstellung: »Sie haben es gesehen. Und was jemand gesehen hat, wird nicht ewig ungestraft bleiben.«
Schumanns Welt: Er antwortet seiner Tochter, die ihn fragt, warum es die DDR nicht mehr gibt. Ein Karnickelstall, davor eine Karre voller billiger, glänzender Brotlaiber. Auf einer Bank gegenüber Karl Marx, der nachliest, ob er etwas falsch aufschrieb, da man seine Idee so missversteht. Neben ihm Erich Honecker, mit geballter Faust auf die Mauer blickend.
Schumanns Welt: Die tote Ulrike M. Der im Gefängnis von Abu Ghraib von US-Soldaten Gefolterte - der Wind bewegt den Jutesack, der über seinen Kopf gestülpt ist und nur halb seine Nacktheit verhüllt. Jesus oder Vogelscheuche? Die geschundene Kreatur schlechthin. Darunter, auf einem hölzernen Sockel, die Worte: Der Irak ist frei.
Schumanns Welt: »Die Verbringung« - Polizisten, die einen Obdachlosen einfach vor der Stadt abladen, wo er jämmerlich erfriert: So geschehen in Stralsund. Die Figur Heinrich Himmlers, daneben hockt ganz klein, klein gemacht ein KZ-Häftling: »Ich bin der Reichsführer SS, warum stehen Sie nicht auf?« Der kleine Mann bleibt trotzdem sitzen. Weil er als Zeuge Jehovas nur einen Gott kennt.
Schumanns Welt: hundert Hitlerfiguren. Tief empfundener Antifaschismus. Der Bildhauer, der nie geglaubt hat, dass am größten Verbrechen der Menschheit nur ein Einzelner die Schuld trägt, hat sie geschaffen, weil ihn die letzte Frage der Kunst quält: Wer bin ich, was ist der Mensch? Seine Hitler - das Volk, wir alle, Menschen aus allen Berufsgruppen, die sich beugen, beugen müssen, oder freudvoll mitlaufen.
Schumanns Welt: Was ist der Mensch? Obwohl ich gar nicht weiß, was ich zuerst anschauen soll, stechen mir natürlich die zwei riesigen nackten kopulierenden Polizisten ins Auge. Wurden sie nicht konfisziert? Die Geschichte erregte Aufsehen: Als sich Schumann im April vor dem Amtsgericht in Schwerin wegen Nötigung verantworten musste - er hatte die Auffahrt eines Nachbarn zugeparkt -, hatte er die Skulptur auf seinen Anhänger geladen und vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes platziert. Eine Provokation? Schumann sagt mit Unschuldsblick: Nein. Er habe die Figurengruppe nach einer Zeitungsmeldung geschaffen, aus der die Öffentlichkeit erfuhr, dass der Direktor einer Polizeischule mit einem Zögling in flagranti erwischt worden war. Er habe sie der Realität nachempfunden. Eine Polizeistreife sah das anders. Vom Platz weg wurde die Skulptur, die den Namen »Die Arschficker« trägt, als »Beweismittel« einvernommen. Dass sie jetzt trotzdem auf Schumanns Grundstück steht, liegt daran, dass er sie einfach noch einmal schuf. »Mit vielen Verbesserungen.« Beispielsweise benutzen die Ordnungshüter jetzt beim Verkehr ein grünes Polizeikondom. Schumann hat gelesen, dass die Freunde und Helfer solche Kondome mit der Aufschrift »Stehenbleiben, Polizei!« beim katholischen Weltjugendtag in Köln verteilen wollten. Was die kirchlichen Würdenträger aber doch verhinderten.
Eine Anklage wegen Pornografie war nicht aufrechtzuerhalten. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Beleidigung. Auf Beleidigung steht ein Jahr Freiheitsstrafe. Schumann versucht, guter Dinge zu sein: Gilt denn nicht die Freiheit der Kunst, die das Grundgesetz zusichert? Und nach Schwerin habe er die Skulptur lediglich gekarrt, um zu testen, ob sie beim Transport nicht herunterfällt.
Kann man wirklich so naiv sein? Man kann. Schumann ist ein Naiver Künstler. 1984 wurde sein Name in die Welt-Enzyklopädie der Naiven Kunst aufgenommen. Naive Künstler sehen die Welt mit den wissenden Augen der Unschuld und zeichnen sie so, dass auch ein Kind sie versteht. Nur wenige Naive aber spüren wie Schumann den Abgründen nach. Was ist der Mensch?
Seine »Arschficker« markieren nur den Anfang einer Farce, über die man lachen könnte, wenn es nicht so ernst wäre. Sie begann mit seiner Grahms-Skulptur. In einem Dorf wie Woserin blieb nicht verborgen, woran er arbeitete. Hundert bis hundertfünfzig Mal, irgendwann hörte er auf zu zählen, hatte er seither »Besuch« von der Staatsmacht. Mal soll er den Verkehr behindert haben, weil sein Auto vor der Zufahrt seines Anwesens auf einem Waldweg parkte, mal soll er seinen Personenstand nachweisen, mal soll er die Nachbarn sonntags mit dem Lärm seiner Kettensäge belästigt haben. »Seltsamerweise«, sagt er, »beschweren sich die Nachbarn erst, seit ich diese Gruppe gemacht habe. Vorher, als ich nur an meinen Tierfiguren sägte, gab es keine Beschwerden.« Schumann kann es sich nur so erklären: Die Exekutive des Amtsbereichs, die die Vorfälle in Bad Kleinen verantwortet und dummerweise auch für ihn zuständig ist, liebt ihn!
Wenn sie ihn auf seinem Grundstück heimsucht, interessiert sie sich auch für seine Kunst - Kunst, so sie die Schriftform bemüht, setzt sie stets in Anführungsstriche. Ich sehe förmlich, wie sie durch Schumanns Welt stapft. Wie die eifrigen Staatsdiener mit ihrem Kunstverstand notieren: »Es befand sich mindestens eine Figur, die vermutlich Adolf Hitler in Lebensgröße darstellen soll, auf dem Hof. Weiterhin waren noch mehrere Figuren, die Frauen und Männer beim Geschlechtsakt in verschiedenen Stellungen darstellen, auf dem Hof.« Mehr entdecken sie nicht, können, wollen sie nicht. Was ist der Mensch?
Jede Macht wird Macht nur durch ihre Diener. Wer ihr dient, darf ein Stück an ihr teilhaben. Macht: Lustgewinn für die Politesse, die, wenn sie nicht Knöllchen schreibt, arbeitslos wäre, wie auch für jene, die Schumann schikanieren. Einige von ihnen haben einst einer anderen Macht gedient. Man darf den Gedanken nicht weiter denken... Schumann tut es, will es, muss es. Was ist der Mensch? Mutig. Erbärmlich. Gefährlich. Zehn bis fünfzehn Mal stand er seit 2001 vor Gericht. Unter anderem war er wegen seiner Hitlerdarstellungen angeklagt. Hitler abzubilden ist strafbar. Ausnahmen, so das Gesetz, gelten für die Medien, die Wissenschaft und natürlich für die Künste. »Das hat der Staatsanwalt doch gewusst!« Mecklenburg-Vorpommern ist dabei, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Schumann sagt, man will ihn mundtot machen. Denn viele Bagatelldelikte multiplizieren sich im Strafmaß. »Wer ein Mal fünf Zigarettenschachteln mitnimmt, wird weniger hart bestraft als der, der als Wiederholungstäter fünf Mal eine Schachtel klaut.« »Schlimmer als bei Hitler«, schimpft er und leistet sich einen Unschuldsblick. Seinen Kollegen Barlach aus Güstrow, eine halbe Autostunde entfernt, habe der Nationalsozialismus von 33 bis 39 zumindest in Ruhe arbeiten lassen. Aus den hundert Hitlers, die er plante, sollen nun zweihundert werden. »Bis die mich nicht mehr behelligen.« Immer, wenn es Schumann schlecht geht, schlägt er einen Hitler aus dem Holz, dabei geht es ihm gleich besser.
Neben dem Verfahren wegen Beleidigung schwebt über Schumann ein weiteres Damoklesschwert. Seine »Freunde« haben sich an den Sozialpsychiatrischen Dienst gewandt: Der vermutet bei Schumann nun »gesundheitliche und/oder soziale Probleme«, was zur Folge haben könnte, dass man ihn in die Psychiatrie einweist. Christiane Witte, Ärztin und Leiterin des Dienstes, hat ihn mehrfach einbestellt. Schumann ging aber nicht hin. Sein Anwalt Peter-Michael Diestel hat ihn ernsthaft davor gewarnt - sei er einmal »drin«, komme er nicht wieder raus, da genüge schon eine Spritze. Einer flog übers Kuckucksnest. Frau Witte stand schon vor Schumanns Tür, flankiert von drei Polizisten. Schumann rief seinen Anwalt an und reichte der Ärztin sein Handy. Worauf diese wieder abzog. Der nächste Termin steht ihm ins Haus. Jetzt droht sogar das Jugendamt, ihm die Kinder wegzunehmen - bei so vielen Polizeieinsätzen sei kein stabiles Umfeld gegeben. Was ist der Mensch?
Wenn es verrückt ist, sich über den Zustand der Welt zu befragen, dann ist Günter Schumann verrückt. Wenn es normal ist, jemanden, der sich über den Zustand der Welt befragt, verrückt zu nennen, dann sind die Staatsdiener normal. Diestel hat Schumann vorsorglich unabhängig begutachten lassen: Der ist völlig »normal«. Die Staatsmacht mag sich ihren Reim darauf machen, Schumann ist fast ein bisschen beleidigt.
Seit vier Jahren kann sich Schumann seine Fragen wieder von der Seele arbeiten. Zwischen Brennnesseln und Schafen stehen einige seiner Antworten. Er liebt jede einzelne Figur, so lange er an ihr sägt, schleift, poliert, sie aus dem Holz herausschneidet, während er sein Gefühl hineingibt. Ihm sei der Prozess des Schaffens wichtig. Wenn sie fertig ist, sei sie ihm egal, werde grau, ve...
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