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Mordende Knaben
Kriminalfälle unterm Hakenkreuz
Nach »Der Kommissar vom Alexanderplatz« und »Mörderische Metropole Berlin. Kriminalfälle 1914-1933« hat sich Regina Stürickow wiederum der Kriminalgeschichte der deutschen Hauptstadt gewidmet. 13 Kriminalfälle aus der Zeit des »Dritten Reiches« werden einfühlsam und mit viel Zeitkolorit ausgebreitet. Natürlich geht's, wie der Titel prophezeit, um Mord und nichts als Mord - und um schwierige Todesermittlungen in den Trümmern Berlins.
Die Autorin hat im Landesarchiv Berlin den Bestand des Polizeipräsidiums fleißig unter die Lupe genommen und ruchlose Taten dem Vergessen entrissen. Dennoch ein brisantes Vorhaben, denn in der Zeit der millionenfachen Verbrechen über Taten aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität zu berichten, bleibt ein politisches Wagnis, auf das sich aber die Autorin durch ein sehr fundiertes Vorwort eingelassen hat. So findet sich dort der Hinweis, dass in der BRD jahrzehntelang das Bild der Kriminalpolizei im NS-Staat von schöngefärbten Darstellungen geprägt gewesen ist, die von »Tatsachenberichten« aus den Federn einstiger Kriminalbeamter stammten. Berüchtigtes Beispiel dafür ist die 30-teilige Serie im Spiegel 1949/1950 von Bernd Wehner, die nur das Ziel hatte, die Kriminalpolizei von allen Verstrickungen in die Verbrechen der Nazis reinzuwaschen:
Der ehemalige Leiter der Zentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen des Reichskriminalpolizeiamtes hatte wider besseres Wissens behauptet, in der Kripo des »Dritten Reiches« habe es nur wenige »ergebene Nationalsozialisten« gegeben, im Übrigen sei rein kriminalistisch gearbeitet worden nach rechtsstaatlichen Prinzipien. Bei solcher Geschichtsklitterung muss man sich nicht wundern, dass das Bundeskriminalamt - wie selbstverständlich - aus tiefbraunen Wurzeln entstanden ist, zu denen man sich von offizieller Seite bis heute nicht bekennt.
Regina Stürickow weist nach, dass die Kripo fest in das Unrechtssystem integriert war. So ist bekannt, dass der Chef des Reichskriminalpolizeiamtes Arthur Nebe als Leiter der Einsatzgruppe B 1941 in der Sowjetunion 45 000 Menschen ermorden ließ. Soziale Desintegration und materielles Elend haben im Dritten Reich aber auch massiv Ursachen für Kriminalität wie Raubmord, Sittlichkeitsdelikte und Eigentumsstraftaten gesetzt. Hier war dann in der Tat die Kripo gefordert und überfordert, denn gerade unter Kriegsbedingungen war die Arbeit aus Personalgründen nicht einmal mehr ansatzweise zu realisieren.
Die geschilderten Kriminalfälle spiegeln die sozioökonomische Realität der Zeit wider, vermitteln einen eindrucksvollen Einblick in die Lebensverhältnisse der kleinen Leute und zeigen ihre Sorgen und Nöte auf. Die Akten lassen uns das soziale Milieu analysieren, das die Verbrechen hervorrief. Dabei handelt es sich nicht um große, raffiniert eingefädelte Verbrechen, sondern um milieubedingte Taten.
Regina Stürickow schreibt, dass sich die Art der Verbrechen und ihre Motive kaum geändert hatten. Alleinstehende, meist ältere Frauen, die Zimmer untervermieteten, Kneipenwirtinnen oder Inhaberinnen kleiner Geschäfte wurden auch zwischen 1933 und 1945 immer wieder Opfer von Raubüberfällen. Die Täter, meist Jugendliche, gingen dabei von der irrigen Annahme aus, dass diese Frauen keinen Widerstand leisten würden und zudem über viel Geld verfügen. In der Regel aber erbeuteten sie nur wenige Mark. So erging es dem Jugendlichen, der die Kneipenwirtin in der Gollnowstraße 10 in Berlin-Friedrichshain ermordete. Seine Beute: 25 Reichsmark; das Urteil: Todesstrafe. Sein Pech war, dass Zeugen ihn zuvor in der Gaststätte gesehen hatten.
Im Fall des Prostituiertenraubmordes in der Mulackstraße 13 1938 gibt es eine interessante Querverbindung zum Anschlag auf Horst Wessel, denn der Attentäter Ali Höhler hatte auch dort gewohnt. Im neuen Medium Fernsehen wurde am 25. November 1938 ein Fahndungsaufruf in die Welt geschickt, um Hinweise auf den Mörder zu erlangen. Es meldeten sich viele Wichtigtuer, Besserwisser und Denunzianten. Die Aussage eines Bäckermeisters über seinen verdächtigen Gesellen wurde zunächst von der Polizei ignoriert, später aber verfolgt. Und sie führte zum Täter! Nebenbei wurde dann ermittelt, dass er auch mit einer jüdischen Prostituierten verkehrt hatte. Dem »Verbrechen der Rassenschande« schien plötzlich mehr Bedeutung zuzukommen als dem brutalen Raubmord.
Beim Raub in der Waisenstraße 1939 stand die Polizei vor der schwierigen Aufgabe, einem Geständigen zu beweisen, dass er gar nicht der Mörder sein konnte. Dies gelang vor allen Dingen dem erfahrenen und ruhigen Kriminalrat Dr. Ludwig Werneburg. Aber die unerbittliche Staatsanwaltschaft konstruierte eine Mittäterschaft, was zur Verurteilung des allzu Redseligen führte (sieben Jahre Zuchthaus).
Die Konstellationen, die sonst noch zum kriminellen Chaos führen, sind allesamt in der Zeit begründet. Dem Fahnenflüchtigen gewährt eine Frau gegen Sex Unterschlupf - und wird später sein Opfer. Zwei Zwangsarbeiter, ein Franzose und ein Belgier, ermorden eine junge Frau in der S-Bahn und rauben sie aus.
Aber auch das gibt es: Ein Schuster mit großer Klappe und staatsfeindlichen Reden, der verdächtigt wird, ein neunjähriges Mädchen missbraucht und getötet zu haben, wird geschont, obwohl die angeblich »unpolitische« Kripo den Verdächtigen der Gestapo überstellen will. Aber die lehnt wider Erwarten ab, sich mit dem alten Querulanten zu beschäftigen.
Die Mehrzahl der Namen wurde aus Gründen des Personenschutzes verändert. »Die mordenden Knaben in der Krautstraße - Der Fall (Balbina) Thygesen« heißt bei Regina Stürickow jetzt »Der hungrige Hugo und die Giftnatter«, und das Opfer heißt Balbina Thomani. Das mag gute Absicht sein, bringt aber den Leser, der den Klartext durchaus kennt, in Schwierigkeiten. Eine Ausnahme bildet der »Fall Götze - Raubüberfälle auf Liebespärchen i...
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