Organisiert euch!

Owen Jones über die gefährliche Spaltung der Gesellschaft

  • Lesedauer: 5 Min.
Am Frankfurter Stand des Verlags André Thiele stellte der 28-jährige britische Historiker und Journalist OWEN JONES sein Buch »Prolls« vor. Darin schildert er, wie Arbeiter in Großbritannien von einer selbstbewussten Schicht zur Zielscheibe von Verachtung und Klassenhass werden konnten.nd-Redakteur MARTIN HATZIUS sprach mit dem Autor.

nd: Der polemische Untertitel Ihres Buches heißt »Die Dämonisierung der Arbeiterklasse«. Wer dämonisiert wen?
Jones: Ich ziele damit auf eine systemische Dämonisierung, die von Medien und Politikern vorangetrieben wird. Sie basiert auf dem Mythos, dass die Arbeiterklasse nicht mehr existiere. Die Art, wie Privilegierte seit dem Siegeszug des Thatcherismus reden, suggeriert, es gebe auf der einen Seite eine Mittelschicht, die allen offen steht, und auf der anderen Seite die Antriebslosen und Faulen. Ich glaube, dass sich in dieser Dämonisierung eine Verschiebung der Machtverhältnisse offenbart. Vor 30, 40 Jahren war die Arbeiterklasse noch eine starke Kraft, die sich in großen Gewerkschaften formierte. Die Angst vor dieser Kraft war die Ursache für ihre Dämonisierung.

Welches Interesse sollten denn aber Medien an der Herabwürdigung einer Bevölkerungsschicht haben?
Der Grund liegt darin, dass sie von Journalisten dominiert werden, die selbst nicht aus der Arbeiterklasse stammen. Das hat verschiedene Ursachen. Eine davon ist, dass Berufseinsteiger oft gar nicht für ihre Arbeiten bezahlt werden. Das heißt, dass nur Leute mit wohlhabenden Eltern überhaupt den Einstieg in den Journalismus schaffen können. So werden Medien zu Sprachrohren von Menschen, die noch nie in ihrem Leben in Berührung mit anderen sozialen Hintergründen gekommen sind.

Es gibt linke Medien, denen die Lage benachteiligter Gruppen vertraut ist. Werden solche Medien - wozu ich auch Ihr Buch zähle - von der Arbeiterklasse aber überhaupt wahrgenommen?
Als ich das Buch schrieb, habe ich befürchtet, es könne vor allem von einer linksliberalen Mittelschicht gelesen werden. Aber das ist nicht passiert. Ich bin quer durch das Land gereist und habe mit den Leuten vor Ort gesprochen, auch in Gewerkschaften. Einige Kritiker haben bemängelt, dass das Buch nicht theoretisch genug sei. Aber genau das war mein Anliegen: so verständlich zu schreiben wie möglich. Es gibt viele gute Argumente, die Linken geläufig sind. Ein breites Publikum aber erreichen sie fast nie. Die Verbreitung dieser Argumente krankt daran, dass man sie auf eine Art formuliert, die nur von denen begriffen werden, die ohnehin schon davon überzeugt sind. Ich wollte aber eine breite Debatte über den Begriff »Klasse« befeuern.

Warum ist Ihnen dieser Begriff so wichtig?
Weil man nicht verstehen kann, wie eine Gesellschaft organisiert ist, wenn man nicht versteht, wie Macht verteilt ist. Klassenpolitik ist die Basis der traditionellen Linken. Erst wenn man behauptet, dass eine Arbeiterklasse nicht mehr existiert, kann man auch sagen, dass der Sozialismus überflüssig sei. Genau so hat New Labour unter Tony Blair argumentiert.

Muss man die Lage der verbliebenen Arbeiterschicht heute nicht anders bewerten als die Lage einer Unterschicht, die vom geregelten Arbeitsleben abgeschnitten ist?
Nein. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse innerhalb der Arbeiterklasse gab es schon im viktorianischen Zeitalter. Die Arbeiterklasse war noch nie eine homogene Gruppe. Menschen, die ein Eigenheim besitzen, zählen genauso dazu wie solche, die in Sozialwohnungen leben oder sogar in Ghettos und Slums. Es stimmt: Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist seit dem Beginn der neoliberalen Ära, speziell durch die Folgen der Deindustrialisierung, immer größer geworden. Es gibt das Hire & Fire im Dienstleistungsbereich, die daraus resultierende Verunsicherung, eine wachsende Anzahl von Zeitarbeitern, die nicht dieselben Rechte haben wie andere Arbeiter. Trotzdem: Diese Menschen teilen dieselben öffentlichen, allgemeinen Interessen.

Sie schreiben, dass Thatchers Versprechen, die Arbeiterklasse könne in die Mittelschicht aufsteigen, nicht zu erfüllen ist. Aber auch unten wird der Platz immer enger, weil es einfach nicht genug Arbeit gibt ...
1979, als die Tories an die Macht kamen, lag die Arbeitslosigkeit etwa bei einer Million Menschen. Fünf Jahre später waren es schon 3,5 Millionen. Derzeit liegen wir bei 2,5 Millionen. Aber: Wenn man alle dazuzählt, die nach einem Vollzeitjob suchen, sind wir sehr schnell bei 6 Millionen. Deshalb halte ich die prekäre Beschäftigung für ein ebenso großes Problem wie die Arbeitslosigkeit. Wir brauchen eine vernünftige Industriepolitik, um das Problem zu lösen. In Großbritannien herrscht aber seit Tory und New Labour nur der Markt.

Einerseits knüpfen Sie Hoffnungen an neue soziale Bewegungen wie Occupy, andererseits sehen Sie die Linke in einer schwachen Position. Welche Kraft ist in der Lage, die Proteste zu bündeln?
Die Occupy- und Indignados-Bewegungen waren hilfreich, weil sie daran erinnerten, wer die derzeitige Krise verursacht hat - und wer dafür bezahlen soll. Es war aber nicht das Ziel dieser Bewegungen, Menschen politisch zu organisieren. Dass die Linke in Britannien und anderswo so niedergeschlagen ist, hat mit dem Aufstieg der neuen Rechten zu tun, mit der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung als Rückgrat der Linken, mit der Art der Globalisierung, wie wir sie erleben, und nicht zuletzt mit dem Kollaps des Ostblocks. Der demoralisierende Einfluss dieser Entwicklungen ist enorm. Wir müssen es schaffen, eine Bewegung zu organisieren, die den Leuten mit konkreten Forderungen - Reichensteuer, demokratische Bankenkontrolle, industrielle Strategie - wieder bewusst macht, dass es Mittel gibt, zurückzuschlagen. Es kommt dabei auf die Linke an, vor allem aber auf Gewerkschaften als demokratische Massenbewegungen.

Owen Jones: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Verlag André Thiele, 320 S., geb.,

18,90 €.

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