Heil dem Eroberer!

»Der weiße Heiland« in Greifswald

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wer seid Ihr?« fragt der Aztekenkönig Montezuma die Spanier, die in sein Land kommen. Ja, wenn man das nur immer gleich wüsste! Die Kriegstruppe um General Cortez entdeckt die Neue Welt. Eldorada! Das ist immer der Traum von einer Bank, die man ungestraft plündern kann.

Gerhart Hauptmann hat über den Beginn des »Kampfes der Kulturen«, der conquista von 1520, ein Versdrama geschrieben, in dem all der Schrecken des Ersten Weltkrieges nachzittert. 1920 wurde es am Berliner Schauspielhaus uraufgeführt - und dann fast vergessen. Jan Steinbach hat dieses, alles andere als leichte Stück am Theater Vorpommern Greifswald/ Stralsund inszeniert. Und auch hier zittert etwas mit, etwas, das nicht allein aus der Vergangenheit kommt.

Die Bühne von Franz Dittrich: eine Art Black Box, jene Kiste der Macht, die ab und zu auseinanderfliegt. Das nennt man dann Revolution, Wende oder schlicht Zerstörung. Die ersten Minuten sehen wir auf eine Holzwand, eine Art Palisade. Dahinter verbirgt sich das Herz der Macht. Wir hören Stimmen, das sind Montezuma und sein Führungszirkel. Was an diesem abgeschlossenen Ort passiert, überträgt eine Kamera in schlechter Qualität nach draußen. Die Bilder, auf Holz projiziert, wirken wie Schatten: Röntgenaufnahmen einer herrschenden Kaste, die von einer tödlichen Krankheit befallen scheint.

Aber zuvor gab es noch ein Vorspiel: Die Schauspieler losen ihren Rollen aus. Gott würfelt nicht? Aber wer gehört zu den Opfern, wer zu den Tätern - und ist eine solche Zuordnung dem unaufhörlich rollenden Rad der Geschichte überhaupt angemessen? Alles hängt von getroffenen Entscheidungen ab, vom Zufall und sogar vom Wetter. Je größer das Ziel, desto so kleiner sind die Gründe, die ausreichen, es nicht zu erreichen. Manchmal reicht schon ein Virus. Man hat errechnet, dass die Zahl der Ureinwohner Amerikas zwischen 1500 und 1600 um mehr als 80 Prozent sank - durch Gewalt der Kolonialmacht, aber mehr noch durch die Kollateralschäden der Christianisierung: eingeschleppte Krankheiten.

Gewiss, der Fortschritt hat seinen Preis. Aber ist er überhaupt einer? Das ist die Frage, die Hauptmann hier stellt und die doch, als die dem Publikum zugewandte Palisadenwand nach vorn klappt (die Mauer ist auf!), in den bisherigen Grenzen nicht mehr beantwortet werden kann. Ein neues Spielfeld von Interessen und Macht, der Jagd nach dem Gold - oder dem Öl? - ist eröffnet. Die Reden von Cortez (Jan Bernhardt: smarter Cheftyp, der noch jovial lächelt, wenn er seinen Gefolgsleuten schon den Mordauftrag gibt) sind für Montezuma vollkommen unverständlich. Auch er ist ein Machttyp, aber einer von der archaischen Art.

Die Eroberer haben Glück: Der Gott der Azteken ist weiß, sie glauben in Cortez ihren Heiland erkannt zu haben. Manchmal ist die Legende auf der Seite von Mord und Lüge, manchmal jedoch schützt sie auch vor deren Zugriff. Das ist der Januskopf des Mythos.

Dies ist eine Parabel auf ungeheuerliche Gewalttaten, die medial erst aufbereitet und dann weiterverbreitet werden. Der Schrecken geht dabei immer von jenem Fremden aus, das man vorgeblich liebt. Aber es ist so inaktzeptabel anders! Sascha Löschner, Dramaturg der Inszenierung, schreibt dazu: »Der Heiland entpuppt sich als großer Zerstörer. Die Weltgemeinschaft nach unserem Bilde wird erkauft mit der Vernichtung des Anderen - das Nichtangepasste hat keinen Platz mehr. Erst muss das eroberte Volk dezimiert und in Reservaten zusammengetrieben sein - dann kann man es als Minorität anerkennen und für seine politischen Rechte kämpfen lassen. Wer sich der (wirtschaftlichen) Globalisierung verschließt, wird mit militärischen Mitteln bezwungen.« Hier ist die Brücke geschlagen von Cortez' Mordtruppe hin zu Abu Ghraib.

Die Regie nimmt den mit hermetischer Wucht hervorbrechenden Text einerseits ganz ernst - und bricht andererseits das große Geschichtspathos auf das Alltägliche hinunter. Winzige Distanzierungen schaffen Spielraum für das starke Ensemble. Etwa, wenn man den Eingeborenen (also denen, die anfangs dieses Los zogen!) als Gegengabe für ihre schweren Goldschätze rote Luftballons schenkt, wenn man die Tüte mit den Gummibärchen herumgehen lässt oder den Expeditionsbericht für Zuhause in die Kamera lächelt. Wie erinnert das doch an die verbreiteten Harmlosigkeiten, mit der die Lüge des Irakkrieges anhob: ein Spaziergang im Namen der Humanität. Ein Volk wartet darauf, von seinem Diktator befreit zu werden, darum werde man jetzt in den Irak »hineingehen« ...

Gott oder Götze? Die Frage beantwortet sich im Laufe dieser sehens- und bedenkenswerten zwei Stunden auf vorhersehbare Weise. »Nie hat ein Mann seine Gottheit so zertreten wie du.« Das sagt Montezuma zu dem anfangs angebeteten Cortez. Ein Irrtum, wie er nun am eigenen Leib erfahren muss. Und so bleibt jene aller Macht beraubte Empörung, die Verachtung, mit der ein zum Tode bestimmter Montezuma dem Eroberer Cortez die Bühne überlässt. Dessen gnadenloser Sieg legt den Keim für einen ungeheuren Hass unter den Geschlagenen, aus dem immer neue Gewalt nachwächst. Bis zur Stunde des Gerichts, von dem man nicht annehmen darf, das es gerecht sein wird.

»Der weiße Heiland«, so ist an diesem Hochenergie-Theaterabend in Greifswald zu erfahren, birgt in seinem erstaunlich expressiven Stakkato- Text, von Ausrufungszeichen zu Ausrufungszeichen, viel vom Elend der Geschichte. Die kommt aus dem Schlachthaus nie heraus.

Nächste Vorstellung: 25.10. (Greifswald), 24.10. (Stralsund)

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