»Mit bemerkenswertem Muthe«

Das ruhelose Leben des Herrn Corvin - Vor 200 Jahren wurde der Autor des »Pfaffenspiegels« geboren

  • Martin Küster
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein über hundertjähriges Konversations-Lexikon vermeldet über die badische Stadt Bruchsal lakonisch: Tabak und Gefängnis. In diesem Gefängnis saß sechs Jahre lang, von Oktober 1849 bis Oktober 1855, in Einzelhaft ein Mann, der unter seinem Nom de guerre »Corvin« dem heutigen Leser vor allem als Verfasser des »Pfaffenspiegels« ein Begriff sein dürfte. Sein Taufname lautete Otto Julius Bernhard von Wiersbitzki

Dem am 12. Oktober 1812 im ostpreußischen Gumbinnen zur Welt gekommenen Enkel eines friderizianischen Generals und Sohn eines abgedankten Dragoner-Majors schien der künftige Beruf vorgegeben. In der Tat wird er Kadett in Potsdam und Berlin, macht sein Offizierspatent und versieht Garnisondienst in Mainz. Des jungen Leutnants anfängliche Begeisterung für den Offiziersberuf bröckelt jedoch allmählich. Unter dem Einfluss der französischen Julirevolution 1830, die von der Mainzer Jugend begeistert begrüßt wird, und des Hambacher Festes im Mai 1832 wendet er sich den Demokraten zu. Und schließlich lernt er nahe Frankfurt am Main die Frau seines Lebens kennen: Helene, die 16-jährige Tochter eines italienischen Tabakfabrikanten in Rödelheim. Der Leutnant von Wiersbitzki nimmt 1835 seinen Abschied vom Militär und beginnt seinen Lebensunterhalt mit literarischer und journalistischer Arbeit zu verdienen. Endlich, 1839, kann er seine Helene heiraten. Sie wird ihm in all den Wechselfällen seines Lebens unerschütterlich zur Seite stehen.

Von 1840 bis 1846 wohnt das Ehepaar in Leipzig, wo Corvin zur sächsischen Staatsbürgerschaft überwechselt. Hier entwickelt er rastlos eine vielseitige schriftstellerische Tätigkeit. Nach Publikationen über die Geschichte der Niederlande und ihres Befreiungskrieges erscheinen 1845 in zwei Bänden »Historische Denkmale des Fanatismus der römisch-katholischen Kirche«. Auch im politischen Journalismus des Vormärz engagiert sich Corvin. Gemeinsam mit Friedrich Wilhelm Held, einem ebenfalls abgedankten preußischen Offizier, publiziert er, verlegt bei Philipp Reclam, »Die Locomotive - Kritisches Volksblatt für tagesgeschichtliche Unterhaltung«, das jedoch 1843 verboten wird.

Geschäftlich in Paris, erlebt Corvin, wie sich dort im Februar 1848 Arbeiter, Handwerker und Studenten erheben und die Republik ausrufen. Er ist überzeugt, dass auch in Deutschland Revolutionen ausbrechen werden. Er reiht sich als »Chef des Generalstabs« in die von Georg Herwegh aus Emigranten gebildete »Deutsche Legion« ein. Die macht sich auf den Marsch nach Deutschland, um dort das sich erhebende Volk bewaffnet zu unterstützen. Das militärische Abenteuer bricht unter den Schlägen württembergischer Truppen zusammen. Corvin kann entkommen. Der steckbrieflich Verfolgte flieht nach Berlin zu seiner Frau, wird jedoch alsbald aus Preußens Hauptstadt ausgewiesen.

Nun zieht es den kämpferischen Demokraten nach Baden. Denn dort und in der Pfalz ist ein Aufstand ausgebrochen, sind revolutionäre Streitkräfte entstanden. Corvin übernimmt die Führung eines Regiments. Der Gegner sind zwei preußische Armeekorps. Rückblickend wird Corvin notieren: »Das ›Demokratengesindel‹ und die Freischaren schlugen sich hier gegen Truppen, welche sich die besten der Welt glaubten, mit bemerkenswertem Muthe.« Doch die unter dem Oberbefehl des polnischen Revolutionärs Ludwik Mieroslawski streitende Revolutionsarmee wird nach ihren Niederlagen bei Waghäusel am 21. Juni und an der Murg am 28. und 30. Juni 1849 teils in die Schweiz, teils zur Festung Rastatt abgedrängt. Corvin wird Generalstabschef des Festungskommandeurs Gustav Tiedemann. Am 1. Juli gelingt es dem vom preußischen General von der Groeben kommandierten 2. Korps der Rheinarmee, die in die Festung Rastatt sich zurückgezogenen deutschen, polnischen und ungarischen Freischärler einzuschließen. Jene müssen schließlich am 23. Juli 1849 kapitulieren; Tiedemann und 18 weitere Revolutionäre werden standrechtlich erschossen.

Auch Corvin kommt vor ein Standgericht. Das verurteilt ihn am 15. September wegen Hochverrats zum Tode durch Erschießen. Dem Umstand, dass er nicht preußischer, sondern sächsischer Untertan ist, sowie seinem rührigen Verteidiger, dem jüdischen Advokaten Kusel, verdankt Corvin seine Begnadigung zu zehnjähriger Festungshaft, die dann in sechs Jahre Einzelhaft umgewandelt wird. Das Urteil verbüßt er in Bruchsal. Um geistig-moralisch fit zu bleiben, lernt er autodidaktisch Englisch, was sich alsbald zu seinem Vorteile erweisen sollte.

Am 2. Oktober 1855, zehn Tage vor seinem 43. Geburtstag, ist Corvin wieder in Freiheit und bald mit seiner Frau in Berlin vereint. Doch Polizeipräsident Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, der ihn schon einmal ausweisen ließ, verfolgt und schikaniert ihn erneut als »staatsgefährdendes Subjekt«. Fortan führen die Corvins ein unstetes, gehetztes Leben zwischen Amsterdam, London, Hamburg und Leipzig. 1861 erscheinen in Amsterdam seine vierbändigen Erinnerungen unter dem Titel »Aus dem Leben eines Volkskämpfers«. Im gleichen Jahr reist Corvin in die USA, wird amerikanischer Staatsbürger und Oberst in der Armee der Nordstaaten und berichtet im Auftrag der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« vom Sezessionskrieg.

Nach Deutschland zurückgekehrt, überarbeitet Corvin seine »Historischen Denkmale«, die 1869 ein Stuttgarter Verlag unter dem einprägsamen Titel »Pfaffenspiegel« herausbringt. Ständig bedrängt von seiner prekären finanziellen Lage, nimmt Corvin als Korrespondent deutscher und englischer Blätter 1870/71 am Deutsch-Französischen Krieg teil.

Im Frühjahr 1885 zieht sich das Ehepaar in den thüringischen Kurort Bad Elgersburg zurück. Dort schreibt Corvin das Vorwort zur 5. Auflage seines »Pfaffenspiegels«. Er hofft, dass sein in Rudolstadt verlegtes Buch »jetzt noch beifälliger aufgenommen werden wird als 1846, weil die Reaction im gegenwärtigen Augenblick noch drückender wirkt als damals und die Pfaffheit mit erneuter Dreistigkeit die alten Künste, das Volk in Dummheit zu erhalten, anwendet«. Die Zensoren des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt lassen mehr als drei Dutzend Passagen des Buches schwärzen und schließlich die gesamte Auflage beschlagnahmen. Dies erlebt Corvin nicht mehr. Sein ruheloses und abenteuerliches Leben endet am 2. März 1885 in Wiesbaden.

In unserem noch jungen 21. Jahrhundert brachten deutsche Verlage Corvins »Pfaffenspiegel« fünf Mal unters Publikum. Das Verdienst, »Die Abenteuer des Herrn von Corvin«, seine Lebenserinnerungen, unter die Leser gebracht zu haben, hat sich vor über vier Jahrzehnten der Greifenverlag Rudolstadt erworben.

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