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HALLO?!

Deutsches Theater Berlin: Die große Inge Keller in Christoph Heins Stück »Tilla«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Tilla. Das klingt vertraut. Als gehöre da jemand allen. Eine Schauspielerin: Der wahre Charakter des Berufs schließt einen gewissen Warencharakter ein - man wird gehandelt, von Regisseuren, Kritikern, vom Publikum. Man ist ein Selbst, aber doch in fortwährend anderer Gestalt. Ruhm? Das bleibt nur eine Spur, zumal in jenen Sand geschrieben, der am Meeresstrand das ewige Futter ewig anrollender Wellen ist.

Die Stimme, die da jetzt aus dem Tiefdunkel der Bühne ein so herrisches wie hilfesuchendes »Hallo?!« ruft, sie weiß das alles; diese Stimme kennt die warmen Strömungen, die aus einem Applaus kommen, sie ist sich aber auch der Halbwertzeiten dieser Wärme bewusst. Denn verlischt auf einer Szenerie das Licht, bleibt nur Finsternis; Schönheit, eben noch bewundert, existiert nicht mehr. »Hallo?!« Keiner da. Aber wenigstens die Strahler geben der Schauspielerin jetzt wieder, was das Wesen ihrer Profession ist: hellen Schein.

Die alte Dame sitzt am linken Bühnenrand, neben sich eine mit Pracht gefüllte Blumenvase. Nach der Vorstellung. Nach einer hohen Ehrung. Vorbei nun. Momente, in denen sich Erlöschen und Erlösung wohl vereinen. Mit jedem Vorhang, der fällt, senkt sich auch ein Grabtuch. Aber die Schauspielerei, diese Sünden-Kasperade, ist urchristlich: morgen Auferstehung!, da nämlich geht der »Lappen wieder hoch«.

»Tilla«, der Theatertext von Christoph Hein (der als Dramatiker leider kaum mehr existent ist), bietet den Monolog der über 90-jährigen Tilla Durieux (1880 bis 1971), sie erzählt imaginären Zuschauern aus ihrem Leben. Als »Hirschkuh, welche Paprika gefressen hat«, begrüßte 1903 der strenge Alfred Kerr die schöne, vulkanische Debütantin im Berliner Deutschen Theater. Als erste »Salome« Oscar Wildes erspielte sich die Wiener Professorentochter kroatisch-französischer Herkunft raschen Ruhm. Als Lady Macbeth, Deutschlands erste Eliza Doolittle oder Wedekinds Lulu war sie »eine Persönlichkeit von eigenen Gnaden« (Kerr), mit ansteckender »Freude an sich selbst« (Kritiker Herbert Ihering).

In Heins Stück erzählt die Durieux vor allem ihre Traumpaarzeit in der Weimarer Republik. Die perfekte Mischung aus Glamour und Genie: Tilla Durieux und Paul Cassirer, der Verleger, Mäzen, Kunsthändler. Das Drama einer großen Liebe, einer bühnenreifen Trennung, einer Flucht ins ärmliche Exil. »Meine Augen haben durch Paul die Herrlichkeit der Welt gesehen, aber auch die verzweifeltsten Tränen geweint.« Launenhaftigkeit, Alkohol, Eifersucht, Affären - 1926 verlangt Durieux die Scheidung. In der letzten Verhandlung steht Cassirer plötzlich auf, geht hinaus. Ein Schuss. Der Mann liegt blutend am Boden, zu seiner Frau: »Nun bleibst du aber bei mir!« Er stirbt. Sie heiratet wieder - den jüdischen Unternehmer Ludwig Katzenellenbogen. Flucht vor den Nazis. Während sich Durieux 1941 um zwei Visa nach Amerika bemüht, wird ihr Mann von der Gestapo verhaftet, er stirbt drei Jahre später im KZ Sachsenhausen. Tilla Durieux taucht in Kroatien unter, wird Schneiderin. Erst in den fünfziger Jahren kehrt sie ins geliebte Berlin zurück, wird erneut zum Star und zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters. »Ich komme mir vor wie eine Gemse auf der Spitze des Berges«, sagt sie als Greisin, »ringsum nichts«.

Man muss nicht lange über Wert und Wirkung von Heins Stücktext sinnen, da ihn die große Inge Keller gibt. Das eher Anekdotische, das diesen Text flach hält, gewinnt in Kellers Interpretation einen einzigartigen, hochpoliert schimmernden doppelten Boden. Von Durieux hören, die Keller denken - das macht den listigen, emotionalen, mehrschichtigen Adel dieser anderthalb Stunden aus; eine szenische Lesung, eingerichtet von Gabriele Heinz.

Man weiß um Kellers Abneigung wider den vor Jahren erfolgten Umbau der Kammerspiele - nun hat ihr Hans-Jürgen Nikulka eine Bühne gebaut, die in Seitenlogen und flammend rotem Vorhang das Deutsche Theater gleichsam herüberholt, jenes große Haus, das über Jahrzehnte der eigentliche Ort der Keller war und dessen Kopie nun, hineingesetzt in die moderne Funktionalität des Kammerraums, wie Trauer und Trotz gleichermaßen wirkt.

Die Keller sitzt, erst Stuhl, dann Sofa. Seitwärts lüftelt ein weißer durchsichtiger Vorhang. Anfangs und am Ende erzählt Inge Keller frei, einen Großteil von Durieuxs Erinnerungen liest sie vom Blatt. Mit ihrer berühmt gewordenen Präzision, der konsonantenscharfen Zäsur und vokalfülligen Kraft, der feinziselierten Abstufungskultur ihrer einmaligen Sprachformung.

Spielerin auch da, und doch: In den Passagen ohne Textbuch leuchtet die Aufführung am schönsten. Da durchwirken sich die konkreten Begebenheiten der Durieux mit den Jahrhundert-Erfahrungen der 1923 geborenen Keller zu einer geheimnisvollen, vielsagenden Paarschaft. Da eröffnet sich uns Zuschauenden die Lebenskunst derer, die Kunst leben: Theater als Tanz der Geister, die aus den großen Abschieden unserer Existenz hervorgehen und eines Tages heranwirbeln. Als traurige Erinnerung, als eine trostreiche Bleibe.

Die Keller spielt zwinkernd und zweifelsschwer, schmerzbewusst und schmissig, frechschnäuzig und frivolmäulig mit dem Komödiantenlebenslauf - alles nur immer im kurzen Sekundenschlag der Andeutungen, der Skizzierung. Der Durieux-Text ist wie ein Weg, der da gegangen wird, auf den wir aber nicht schauen, wir schauen gleichsam nach oben, denn über dem Weg, über dem Text blinkt in Abständen jenes Größere, Sternschnuppige, das mit Kellers Stimme, mit dieser harten Beiläufigkeit, dieser wehen Noblesse den Raum erleuchtet: das Ununterwerfbare des Kunststrebens, das Übermütige, das Schwermütige, das Traumsüchtige, das Weltflüchtige, das Weltgierige, das Lebensverfallende, also: der wahre Reichtum, das Sehnsuchtskranke - das sich jetzt noch einmal das rote Kleid der früheren Ruhmjahre überstreift …

Bernd Stempel ist dieser Bilanz-Bardin (früher, sagt sie, wurde man berühmt, obwohl man nicht singen konnte - heute muss man, um berühmt zu werden, nicht sprechen können) auf sanfte Weise zugesellt: ist Diener (für Sekt und Augentropfen), Zuhörer, einige Dialog-Momente lang Paul Cassirer, der Mann aus dem Jenseits. Stempel spielt Gitarre, er tanzt, ist lauschend eine Atmosphärensonne; fremder Freund, funkelnder Genießer, ein stiller, Anmut der Szenerie schaffender Geist. Sich erinnern, das heißt: sich einer Anwesenheit vergewissern.

Heinrich Mann nannte die Durieux eine »moderne Schauspielerin«. Ihre Kunst sei »erarbeitet und wissend« - auch wenn die Spielerin selber eher erahne und fühle. In diesem Sinne ist auch Inge Keller ganz eine Moderne. Was sie spielt, wirkt so ganz - und doch nicht so, als sei sie das, was sie spielt, ganz und gar. Sie trägt das Divenkleid und zugleich die Arbeitsschürze. Man hat sie in öder Schleife die große Dame des Deutschen Theaters genannt, sie blieb die große Arbeiterin. Eine ihren Beruf Atmende, wie man ein Orchester bildet; Stimme, das sind viele Instrumente. Das Erarbeitete, das Wissende ihrer Auftritte liegt im Satz: Beweisen kann man von der Welt nichts, spielen alles.

Tilla. Keller. Sie muss auf die Bühne - und weiß doch ums Weben der Zeit, die lauter Abschiede bestimmt. Sie weiß ums Weben der Zeit, die lauter Auswechslungen betreibt - und muss doch auf die Bühne. Wer sein Leben aufs Spiel setzt, dem geht der Lappen nur herunter, damit er sich für einen Moment Kraftsammlung daran festhalten kann. Für die nächste Szene. »Hallo!!!« Ja, das Publikum ist da. Es jubelt.

Nächste Aufführung: 8.11.

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