Der Meister aus Güstrow
Eines der bekanntesten Werke Ernst Barlachs: Der »Fries der Lauschenden«. 1926 hatte er die neun Gestalten für sein Beethoven-Denkmal entworfen, er fertigte ein Gipsmodell an, aber beim Berliner Magistrat fand es keinen Anklang. 1930 kam die Schauspielerin Tilla Durieux, Witwe des Kunsthändlers Paul Cassirer, mit dem Barlach befreundet gewesen war, auf die Idee, die Skulpturen, in Holz ausgeführt, könnten ihren Musiksaal schmücken. Mit Begeisterung stürzte sich Barlach in die Arbeit, aber nach drei Figuren musste er das Vorhaben einstellen, denn der neue Mann der Durieux, der Konzernherr Ludwig Katzenellenbogen, konnte nicht mehr zahlen und wurde sogar wegen diverser Wirtschaftsvergehen inhaftiert.
Dass Barlach sein Lieblingsprojekt dennoch fertigstellen konnte, war dem Hamburger Fabrikanten Hermann F. Reemtsma zu danken, der dem Künstler in einer besonders bedrückenden Lage beistand. Denn in Hitlers Rede vom Herbst 1933 über die »nationalsozialistische Kulturpolitik« musste Barlach eine persönliche Bedrohung sehen. Ohne Begründung wurde er aus der Reichskunstkammer ausgeschlossen, hatte kaum mehr Möglichkeiten, seine Werke auszustellen. Sein »Magdeburger Ehrenmal« wurde entfernt. Später wurde auch sein »Geistkämpfer« in Kiel abgebrochen, der Güstrower »Domengel« abgehängt und eingeschmolzen. Seine Arbeiten wurden mit dem Begriff »entartete Kunst« belegt. Und er, der ganz sein Werk gewesen war, überlebte das nicht: Am 24. Oktober starb Ernst Barlach, zu Tode erschöpft und immer wieder von Erstickungsanfällen heimgesucht in einer Rostocker Klinik.
Der »Fries der Lauschenden« ist heute im Ernst Barlach Haus in Hamburg zu bewundern, das aus der Stiftung Hermann J. Reemtsma hervorgegangen ist - eine von vier Gedenkstätten, die in dem Band »Auf den Spuren von Ernst Barlach« vorgestellt werden. Wobei das Buch natürlich viel weiter greift. Wolfgang Tarnowski verfasste eine überaus anregend zu lesende Biografie, die mit stimmungsvollen Farbfotos von Toma Babovic illustriert ist. Dabei veranschaulicht der Text nicht nur detailliert das Auf und Ab im Lebensweg des Künstlers, für den der Durchbruch zu seiner eigenen Ausdruckskraft mit einer Russlandreise 1906 verbunden war. Wolfgang Tarnowski erzählt aus einem tiefen Verständnis für den Menschen Barlach heraus, der für viele seiner Zeitgenossen ein Rätsel blieb. Der auch seine Künstlerkollegen irritierte, weil er keine Vorbilder suchte und brauchte, sich modernen Strömungen nicht anschloss, sich nicht mit formalen Experimenten beschäftigte, sondern ganz und gar aus sich selbst, der eigenen Seelentiefe, schöpfen wollte.
Den Meister aus Güstrow interessierte nur »das unheimliche Rätselwesen Mensch«, wie er es selbst ausdrückte oder, an anderer Stelle, »die immer erneute Festlegung der Situation des Menschen als Prozeß zwischen Himmel und Erde«. Ein »Spökenkieker«, wie man in Norddeutschland sagt«, meint Wolfgang Tarnowski. Ein »Lauschender« auch er. Der sechsten Figur in seinem Fries hat er denn auch die eigenen Züge gegeben: »Der Wanderer« - denn er ...
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