»Juden sind reich, Juden sind schlau«

Mit einem Fortbildungsseminar will das Jüdische Museum in Berlin Pädagogen stark machen gegen Antisemitismus. Die werden dabei auch mit eigenen Vorurteilen konfrontiert - manche stärker, als ihnen lieb ist.

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

Der Antisemitismus und jede Debatte, die an ihn erinnert, ist tief in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert. Ab und an haben wir diese Momente, in denen sein bitterer Geschmack auf unsere Zunge kommt - und wir diesen nicht einfach runterschlucken können. Die Möllemann-Debatte vor einigen Jahren war ein solcher Moment. Die Heuschrecken-Analogie von Franz Müntefering jüngst ebenso. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bezeichneten einst den Antisemitismus als ein »eingeschliffenes Ritual der Zivilisation«. In gewissem Sinne brauchen wir ein Ritual auch in der Abwehr des Antisemitismus. Ganz so, als ob wir nicht-jüdischen Deutschen uns permanent versichern müssen, nicht antisemitisch zu sein.
*
Tatjana Glampke, Tanja Kinzel, Michal Kümper und Sarah Hiron organisieren Seminare für Pädagogen am Jüdischen Museum in Berlin. Die Fortbildungsreihe startete im Oktober 2004. An zwei Tagen beschäftigen sich die Teilnehmer mit der Frage, was Antisemitismus ist und wie man ihn argumentativ bekämpft. Am ersten Tag werden anhand von Filmen, Reden und Texten antisemitische Stereotype gesammelt, am zweiten Tag versuchen sich die Teilnehmer u. a. in Rollenspielen in der anti-antisemitischen Praxis. Pädagogen und Gedenkstätten-Mitarbeiter stellen das Gros der Teilnehmer.
Die Hemmschwelle, sich antisemitisch zu äußern, sei in den letzten Jahren gesunken, berichtet Sarah Hiron von der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums. Dass Juden zu viel Einfluss hätten, sei eine Meinung, die auch von jenen vertreten werde, die sich selbst gar nicht als anti-jüdisch einordnen würden, sagt Michal Kümper, »auch von Alt-68ern und manchen Linken«. Sarah Hiron ergänzt: »Äußerungen wie "Juden sind reich" oder "Juden sind schlau" sind nicht auf den ersten Blick eindeutig antisemitisch.« Aber dennoch welche, die so gemeint sind. Irgendwann habe man begonnen, Bemerkungen zu sammeln und ein Argumentationstraining für die Museumsführer zu entwickeln. Aus dieser Mitarbeiter-Schulung ist schließlich das Seminar entstanden, erläutert Tatjana Glampke. Zusammen mit Tanja Kinzel arbeitet sie bei den »BildungsBausteinen gegen Antisemitismus«, einem Bildungsverein, der sich in der politischen Bildung mit dem Antisemitismus auseinandersetzt. Zielgruppe sind vor allem Pädagogen. Für das Jüdische Museum war der Verein also der richtige Ansprechpartner. Mit im Boot ist das Forum für interreligiöse Bildung der Berliner Jerusalemkirche, in deren Räumen die Fortbildung stattfindet.
Sekundären Antisemitismus nennt Tatjana Glampke die verbreitetste Form des Antisemitismus. Eine Grauzone, in der sich Klischees über Juden mit Schuldgefühlen wegen der Shoa mischen. »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, bemerkte der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex einst bitter. Der Gedanke an die Shoa ist so schmerzhaft, dass man sich zu seiner Verdrängung des Antisemitismus bedient.
Viele wüssten heute nicht mehr um die Wurzeln des Antisemitismus, meint Michal Kümper. Tatjana Glampke ergänzt: »Vor allem in der jüngeren Generation fehlt es an grundlegendem Wissen über die NS-Zeit.« Die Zeitzeugen werden weniger und die Jugendlichen sind zunehmend auf das Fernsehen als Informationsquelle angewiesen. »Der Geschichtsunterricht Marke Guido Knopp trägt bittere Früchte«, bemerkt Tatjana Glampke. Der Holocaust werde zunehmend auf die Taten einer kleinen Täter-Clique reduziert. »Dass es möglich war, im NS-Staat zu leben und nichts von der Existenz der KZ zu wissen, wird von immer mehr Jugendlichen geglaubt.«
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Wer sich mit Antisemitismus befasst, betritt die Intensivstation der deutschen Geschichte. Für die Seminarteilnehmer eine schmerzhafte Erfahrung. Barbara Zacharias und Ellen Hege unterrichten an der Paul-Nartorp-Oberschule in Steglitz. Die Schule liegt im gutbürgerlichen Teil des Bezirks Schöneberg. Skinheads sieht man hier selten. Antisemitismus haben beiden Lehrerinnen bei ihren Schülern noch nicht bemerkt, versichern sie. Was sie aber nachdenklich macht ist, dass die Schüler und Schülerinnen sich beim Thema Holocaust und Antisemitismus »bedeckt halten«, erzählt Barbara Zacharias. Viele ihrer Schülern seien »gut informiert über die NS-Zeit, vielleicht zu gut« und deshalb des Themas überdrüssig, vermutet die Deutschlehrerin.
Ellen Hege und Barbara Zacharias gehören zur 68er-Generation, die sich vielleicht zeitlebens mit ihren Eltern um deren Verantwortung für die Shoa, um deren Mitläufertum oder gar Täterschaft streiten müssen. Für Ellen Hege ist die Frage, wie viel Antisemitismus es im Deutschland von heute gibt, deshalb auch eine »grundsätzliche Sache«. Die Mutter der heute 56-Jährigen war ein BDM-Mädel, mit ihr habe sie »viel über die NS-Zeit gesprochen«. Die Deutschlehrerin hatte Glück: Ihre Mutter erzählte, statt zu verschweigen. Da fällt die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte leichter.
Dennoch bleibt diese nicht frei von Irritationen. Einmal, so Barbara Zacharias, habe sie im Unterricht Geschichten über das Leid der Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs vorlesen lassen. Eine jüdische Schülerin habe ihr daraufhin empört vorgeworfen, den Holocaust relativieren zu wollen. »Ich war aufgelöst, habe mit einem Gegenvorwurf reagiert: "Kann man denn nicht mal über deutsche Tote reden, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden?"«. Über ihre Reaktion war die 54-Jährige selbst am stärksten erschrocken. Aber auch darüber, dass ihre viele andere Schüler beisprangen. Gut nur, so Zacharias rückblickend, dass dem Streit ein klärendes Gespräch folgte. Beide Seiten - die junge Jüdin und ihre nicht-jüdischen Mitschüler - seien sich bewusst geworden, wie unterschiedlich Erinnerung und Empathie auch in ihrer Generation noch sind. Man könnte es noch drastischer formulieren: Nicht-Juden können nicht authentisch um ermordete Juden trauern. Das Leid ihrer Vorfahren war ein anderes als das der Ermordeten.
Was sie auf dem Seminar gelernt haben? Dass manche eigene Auffassungen über Juden klischeebeladen sind, meint Barbara Zacharias. Dass sich hinter philosemitischen Äußerungen oftmals das Ressentiment versteckt, das leicht in Antisemitismus umschlagen kann, ergänzt Ellen Hege.
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Martina Jahn hat nach der Wende von Diplom-Philosophin auf Rechtsanwaltsgehilfin umgeschult. Am Seminar hat sie »aus Interesse« teilgenommen. »Der Holocaust hat mich beschäftigt, seitdem ich denken kann«, erzählt die 48-jährige Ost-Berlinerin. Als junges Mädchen hat sie die Tagebücher der Anne Frank gelesen - und war seitdem sensibilisiert für den Umgang mit Juden in ihrem Umfeld. Dass sie den nicht immer für in Ordnung hielt, verstanden nur wenige. Als sie anfing, sich mit der Geschichte der Juden in ihrer Heimat nach 1945 zu beschäftigen, merkte sie, dass sie hier an einem Tabu rührte, dass das antisemitische Ressentiment auch in der DDR überlebt hatte. »Über die Vertreibung von jüdischen Politikern aus ihren Ämtern in der DDR der 50er Jahre wollte kaum jemand offen reden.«
Was sie auf dem Seminar gelernt hat? In erster Linie einen sensibleren Umgang mit Sprache. Martina Jahn fällt spontan ein persönliches Erlebnis ein: Einmal unterbrach sie eine lebhafte Diskussion im Bekanntenkreis, bei der alle durcheinander redeten, mit dem Ausruf »Hier geht es ja zu wie in der Judenschule!«. Das war vor dem Seminar. Jetzt fragt sie sich: »War das bereits antisemitisch?«
*
Joana Zybon bereitet als Bildungsbegleiterin benachteiligte Jugendliche auf das Berufsleben vor. »Da kriegt man schon den einen oder anderen antisemitischen Spruch zu hören, vor allem von den arabischen Jugendlichen«, sagt sie. Vom Seminarverlauf war die 35-jährige Berlinerin enttäuscht. Sie habe sich Argumentationshilfe gegen antisemitische Sprüche erhofft. Mit dem Ansatz des Seminars, sich über versteckte antisemitische Klischees klar zu werden, möglicherweise sich gar eigene Vorurteile über Juden einzugestehen, konnte sie wenig anfangen. Während andere scheinbar problemlos in einem Kurzfilm »30 bis 40 antisemitische Stereotype« herausfiltern konnten, sind ihr »maximal zwei Stellen« aufgefallen. Wer recht hat? Joana Zybon ist sich nicht ganz sicher. Vielleicht haben die anderen übertrieben, vielleicht war sie mit ihrer Außenseitermeinung im Recht. Und weil sie sich als Außenseiterin gefühlt hat, ist sie am zweiten Tag nicht mehr erschienen.
Was sie auf dem Seminar gelernt hat? Erstaunen darüber, wie uneins man darüber sein kann, was Antisemitismus ist. Erstaunen darüber, wie leicht man das Gefühl bekommen kann, von anderen in die antisemitische Ecke gestellt zu werden. Aber auch Skepsis. Und viele Fragen. Hilft es wirklich, sich über eigene Juden-Klischees bewusst zu werden, wenn man im Alltag mit weitaus schlimmeren Ressentiments konfrontiert wird? Wo bleibt die deutliche Grenzziehung zu den »glasklaren« Antisemiten?
*
Auch bei Ellen Hege hat das Seminar viele Fragen offen gelassen. »Im Rollenspiel zum Nahost-Konflikt sind wir in die antisemitische Falle getappt«, sagt sie, und sie frage sich, warum das so war. Mehr Kontakte zu Juden wünscht sich Barbara Zacharias: Sie will sich um Zusammenarbeit von jüdischen Organisationen mit ihrer Schule bemühen. Und sie will weiter Fragen stellen. Ab wann die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee gegenüber den Palästinensern in Antisemitismus umschlägt, zum Beispiel. Das Jüdische Museum und seine beiden Kooperationspartner wollen bei der Antwortsuche helfen. Ein Seminar zum Nahost-Konflikt sei in Vorbereitung, meint Sarah Hiron. Auch dabei wird es wieder viele Fragen geben - und so manchen unangenehmen Geschmack, der nicht heruntergeschluckt werden kann.

Jüdisches Museum, Tel: (030) 25 99 33 43, www.jmberlin.de

Der Antisemitismus und jede Debatte, die an ihn erinnert, ist tief in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert. Ab und an haben wir diese Momente, in denen sein bitterer Geschmack auf unsere Zunge kommt - und wir diesen nicht einfach runterschlucken können. Die Möllemann-Debatte vor einigen Jahren war ein solcher Moment. Die Heuschrecken-Analogie von Franz Müntefering jüngst ebenso. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bezeichneten einst den Antisemitismus als ein »eingeschliffenes Ritual der Zivilisation«. In gewissem Sinne brauchen wir ein Ritual auch in der Abwehr des Antisemitismus. Ganz so, als ob wir nicht-jüdischen Deutschen uns permanent versichern müssen, nicht antisemitisch zu sein.
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Tatjana Glampke, Tanja Kinzel, Michal Kümper und Sarah Hiron organisieren Seminare für Pädagogen am Jüdischen Museum in Berlin. Die Fortbildungsreihe startete im Oktober 2004. An zwei Tagen beschäftigen sich die Teilnehmer mit der Frage, was Antisemitismus ist und wie man ihn argumentativ bekämpft. Am ersten Tag werden anhand von Filmen, Reden und Texten antisemitische Stereotype gesammelt, am zweiten Tag versuchen sich die Teilnehmer u. a. in Rollenspielen in der anti-antisemitischen Praxis. Pädagogen und Gedenkstätten-Mitarbeiter stellen das Gros der Teilnehmer.
Die Hemmschwelle, sich antisemitisch zu äußern, sei in den letzten Jahren gesunken, berichtet Sarah Hiron von der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums. Dass Juden zu viel Einfluss hätten, sei eine Meinung, die auch von jenen vertreten werde, die sich selbst gar nicht als anti-jüdisch einordnen würden, sagt Michal Kümper, »auch von Alt-68ern und manchen Linken«. Sarah Hiron ergänzt: »Äußerungen wie "Juden sind reich" oder "Juden sind schlau" sind nicht auf den ersten Blick eindeutig antisemitisch.« Aber dennoch welche, die so gemeint sind. Irgendwann habe man begonnen, Bemerkungen zu sammeln und ein Argumentationstraining für die Museumsführer zu entwickeln. Aus dieser Mitarbeiter-Schulung ist schließlich das Seminar entstanden, erläutert Tatjana Glampke. Zusammen mit Tanja Kinzel arbeitet sie bei den »BildungsBausteinen gegen Antisemitismus«, einem Bildungsverein, der sich in der politischen Bildung mit dem Antisemitismus auseinandersetzt. Zielgruppe sind vor allem Pädagogen. Für das Jüdische Museum war der Verein also der richtige Ansprechpartner. Mit im Boot ist das Forum für interreligiöse Bildung der Berliner Jerusalemkirche, in deren Räumen die Fortbildung stattfindet.
Sekundären Antisemitismus nennt Tatjana Glampke die verbreitetste Form des Antisemitismus. Eine Grauzone, in der sich Klischees über Juden mit Schuldgefühlen wegen der Shoa mischen. »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, bemerkte der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex einst bitter. Der Gedanke an die Shoa ist so schmerzhaft, dass man sich zu seiner Verdrängung des Antisemitismus bedient.
Viele wüssten heute nicht mehr um die Wurzeln des Antisemitismus, meint Michal Kümper. Tatjana Glampke ergänzt: »Vor allem in der jüngeren Generation fehlt es an grundlegendem Wissen über die NS-Zeit.« Die Zeitzeugen werden weniger und die Jugendlichen sind zunehmend auf das Fernsehen als Informationsquelle angewiesen. »Der Geschichtsunterricht Marke Guido Knopp trägt bittere Früchte«, bemerkt Tatjana Glampke. Der Holocaust werde zunehmend auf die Taten einer kleinen Täter-Clique reduziert. »Dass es möglich war, im NS-Staat zu leben und nichts von der Existenz der KZ zu wissen, wird von immer mehr Jugendlichen geglaubt.«
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Wer sich mit Antisemitismus befasst, betritt die Intensivstation der deutschen Geschichte. Für die Seminarteilnehmer eine schmerzhafte Erfahrung. Barbara Zacharias und Ellen Hege unterrichten an der Paul-Nartorp-Oberschule in Steglitz. Die Schule liegt im gutbürgerlichen Teil des Bezirks Schöneberg. Skinheads sieht man hier selten. Antisemitismus haben beiden Lehrerinnen bei ihren Schülern noch nicht bemerkt, versichern sie. Was sie aber nachdenklich macht ist, dass die Schüler und Schülerinnen sich beim Thema Holocaust und Antisemitismus »bedeckt halten«, erzählt Barbara Zacharias. Viele ihrer Schülern seien »gut informiert über die NS-Zeit, vielleicht zu gut« und deshalb des Themas überdrüssig, vermutet die Deutschlehrerin.
Ellen Hege und Barbara Zacharias gehören zur 68er-Generation, die sich vielleicht zeitlebens mit ihren Eltern um deren Verantwortung für die Shoa, um deren Mitläufertum oder gar Täterschaft streiten müssen. Für Ellen Hege ist die Frage, wie viel Antisemitismus es im Deutschland von heute gibt, deshalb auch eine »grundsätzliche Sache«. Die Mutter der heute 56-Jährigen war ein BDM-Mädel, mit ihr habe sie »viel über die NS-Zeit gesprochen«. Die Deutschlehrerin hatte Glück: Ihre Mutter erzählte, statt zu verschweigen. Da fällt die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte leichter.
Dennoch bleibt diese nicht frei von Irritationen. Einmal, so Barbara Zacharias, habe sie im Unterricht Geschichten über das Leid der Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs vorlesen lassen. Eine jüdische Schülerin habe ihr daraufhin empört vorgeworfen, den Holocaust relativieren zu wollen. »Ich war aufgelöst, habe mit einem Gegenvorwurf reagiert: "Kann man denn nicht mal über deutsche Tote reden, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden?"«. Über ihre Reaktion war die 54-Jährige selbst am stärksten erschrocken. Aber auch darüber, dass ihre viele andere Schüler beisprangen. Gut nur, so Zacharias rückblickend, dass dem Streit ein klärendes Gespräch folgte. Beide Seiten - die junge Jüdin und ihre nicht-jüdischen Mitschüler - seien sich bewusst geworden, wie unterschiedlich Erinnerung und Empathie auch in ihrer Generation noch sind. Man könnte es noch drastischer formulieren: Nicht-Juden können nicht authentisch um ermordete Juden trauern. Das Leid ihrer Vorfahren war ein anderes als das der Ermordeten.
Was sie auf dem Seminar gelernt haben? Dass manche eigene Auffassungen über Juden klischeebeladen sind, meint Barbara Zacharias. Dass sich hinter philosemitischen Äußerungen oftmals das Ressentiment versteckt, das leicht in Antisemitismus umschlagen kann, ergänzt Ellen Hege.
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Martina Jahn hat nach der Wende von Diplom-Philosophin auf Rechtsanwaltsgehilfin umgeschult. Am Seminar hat sie »aus Interesse« teilgenommen. »Der Holocaust hat mich beschäftigt, seitdem ich denken kann«, erzählt die 48-jährige Ost-Berlinerin. Als junges Mädchen hat sie die Tagebücher der Anne Frank gelesen - und war seitdem sensibilisiert für den Umgang mit Juden in ihrem Umfeld. Dass sie den nicht immer für in Ordnung hielt, verstanden nur wenige. Als sie anfing, sich mit der Geschichte der Juden in ihrer Heimat nach 1945 zu beschäftigen, merkte sie, dass sie hier an einem Tabu rührte, dass das antisemitische Ressentiment auch in der DDR überlebt hatte. »Über die Vertreibung von jüdischen Politikern aus ihren Ämtern in der DDR der 50er Jahre wollte kaum jemand offen reden.«
Was sie auf dem Seminar gelernt hat? In erster Linie einen sensibleren Umgang mit Sprache. Martina Jahn fällt spontan ein persönliches Erlebnis ein: Einmal unterbrach sie eine lebhafte Diskussion im Bekanntenkreis, bei der alle durcheinander redeten, mit dem Ausruf »Hier geht es ja zu wie in der Judenschule!«. Das war vor dem Seminar. Jetzt fragt sie sich: »War das bereits antisemitisch?«
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Joana Zybon bereitet als Bildungsbegleiterin benachteiligte Jugendliche auf das Berufsleben vor. »Da kriegt man schon den einen oder anderen antisemitischen Spruch zu hören, vor allem von den arabischen Jugendlichen«, sagt sie. Vom Seminarverlauf war die 35-jährige Berlinerin enttäuscht. Sie habe sich Argumentationshilfe gegen antisemitische Sprüche erhofft. Mit dem Ansatz des Seminars, sich über versteckte antisemitische Klischees klar zu werden, möglicherweise sich gar eigene Vorurteile über Juden einzugestehen, konnte sie wenig anfangen. Während andere scheinbar problemlos in einem Kurzfilm »30 bis 40 antisemitische Stereotype« herausfiltern konnten, sind ihr »maximal zwei Stellen« aufgefallen. Wer recht hat? Joana Zybon ist sich nicht ganz sicher. Vielleicht haben die anderen übertrieben, vielleicht war sie mit ihrer Außenseitermeinung im Recht. Und weil sie sich als Außenseiterin gefühlt hat, ist sie am zweiten Tag nicht mehr erschienen.
Was sie auf dem Seminar gelernt hat? Erstaunen darüber, wie uneins man darüber sein kann, was Antisemitismus ist. Erstaunen darüber, wie leicht man das Gefühl bekommen kann, von anderen in die antisemitische Ecke gestellt zu werden. Aber auch Skepsis. Und viele Fragen. Hilft es wirklich, sich über eigene Juden-Klischees bewusst zu werden, wenn man im Alltag mit weitaus schlimmeren Ressentiments konfrontiert wird? Wo bleibt die deutliche Grenzziehung zu den »glasklaren« Antisemiten?
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Auch bei Ellen Hege hat das Seminar viele Fragen offen gelassen. »Im Rollenspiel zum Nahost-Konflikt sind wir in die antisemitische Falle getappt«, sagt sie, und sie frage sich, warum das so war. Mehr Kontakte zu Juden wünscht sich Barbara Zacharias: Sie will sich um Zusammenarbeit von jüdischen Organisationen mit ihrer Schule bemühen. Und sie will weiter Fragen stellen. Ab wann die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee gegenüber den Palästinensern in Antisemitismus umschlägt, zum Beispiel. Das Jüdische Museum und seine beiden Kooperationspartner wollen bei der Antwortsuche helfen. Ein Seminar zum Nahost-Konflikt sei in Vorbereitung, meint Sarah Hiron. Auch dabei wird es wieder viele Fragen geben - und so manchen unangenehmen Geschmack, der nicht heruntergeschluckt werden kann.

Jüdisches Museum, Tel: (030) 25 99 33 43, www.jmberlin.de


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