Kontraste

»Müll im Garten Eden« von Fatih Akin

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir hören Vogelgezwitscher und blicken auf ein grünes Tal. Die Kamera zeigt uns einzelne Teeblätter, Teepflanzen, eine ganze Teeplantage. Ja, hier ist die Welt noch in Ordnung, könnte man meinen. Bis hierher hat sich die Betonwüste noch nicht ausgebreitet, hier hätte vielleicht auch Eichendorff sofort zu dichten angefangen. Doch die Kamera hat uns noch nicht alles gezeigt, das entscheidende Detail zeigt sie uns erst am Schluss der Einstellung: die Reste einer zerrissenen alten Plastiktüte, die sich auf einer der Pflanzen niedergelassen haben, flattern wie Fähnchen im Wind. Wo die Idylle ist, ist die Bedrohung nicht weit.

Glaubt man den Bildern, scheint der kleine türkische Ort Camburnu an der Schwarzmeerküste, das Heimatdorf der Großeltern des Filmemachers Fatih Akin, lange Zeit eine Art Idylle gewesen zu sein. Gewiss, man war arm, musste hart arbeiten auf den Teeplantagen - die Frauen vor allem, denn »die Männer lassen sich ihr Recht aufs Nichtstun nicht nehmen«, lacht eine etwa 40-jährige Kopftuchträgerin -, arbeiten muss man zwar auch heute noch, aber früher war wenigstens die Natur intakt. Doch damit ist seit ein paar Jahren Schluss: Der Staat hat beschlossen, mitten in der Idylle eine gigantische Mülldeponie zu errichten. Seit diese in Betrieb ist, ist in Camburnu nichts mehr, wie es vorher war.

Der Bürgermeister des Dorfs, ein ebenso rühriger wie hilfloser Mann, nennt auf Nachfrage die da oben, »die Bürokraten«, wie er sie bezeichnet, als die Schuldigen. Man habe eine Eingabe gemacht. Und in der Dorfkneipe machen die Männer, deren Gesichter von Falten zerfurcht sind, keinen Hehl aus der Wahrheit, wenn ihnen ein paar Gläser Raki die Zungen gelöst haben: »Die Ehrlosen haben uns zugemüllt«, singt einer zu folkloristischer Musik. »Die Politiker, diese Hohlköpfe, haben am grünen Tisch über uns entschieden.« Die anderen Versammelten stimmen in den Gesang mit ein. Schlagermusik hört sich anders an.

Fatih Akin zeigt, wie die heimelig-lauschige Seite der Tradition und die dunkle Seite der Moderne aufeinandertreffen, und wird nicht müde, uns per Parallelmontage die scharfen Kontraste vorzuführen. Zuerst sehen wir im Bild tapfere, couragierte Landfrauen, die erzürnt sind über den Giftmüll und den bestialischen Gestank, den die Behörden allen Ernstes durch das großflächige Versprühen von Duftstoffen zu bekämpfen versuchen. Danach blicken wir auf das zynische Grinsen des aalglatten »Umweltingenieurs«, der den Bau der Deponie leitet: »Sie filmen gerade die schönste Mülldeponie der Türkei.«

Hier der nebelverhangene grüne Hügel im Morgenlicht, da der lärmende Mülltransporter, der eine tonnenschwere, stinkende Riesenwurst aus zusammengestauchten Industrieabfällen aus sich herauspresst. Am Meer tollen lachende Kinder mit Schwimmflügeln herum, nicht weit davon entfernt werden gebrauchte Spritzbestecke und Chemieabfälle angespült. Auf der einen Seite ein rauschendes Bächlein, auf der anderen eine schwarzbraune, schäumende Brühe, die ungefiltert ins Meer fließt. Hier die ländliche Idylle der Dorfgemeinschaft, dort der unverständliche Einbruch der hässlichen Seite der Zivilisation. Postkartenbilder sollen die Bedrohung durch die Konsum- und Industriegesellschaft bannen und zeigen, wie es einmal war und wieder sein könnte.

Die Dorfbewohner setzen sich zur Wehr: Am Weltumwelttag versammeln sich die Schulkinder vor der Kamera und rufen gemeinsam im Chor: »Camburnu ist kein Mülleimer!« Die Kamera ist immer dann zur Stelle, wenn offizielle Ortstermine der verantwortlichen Ingenieure, Umweltbeauftragten oder Politiker bevorstehen: Wiederholt sehen wir dabei zu, wie empörte Dorfbewohner die für die Deponie Verantwortlichen umlagern. Ein Dorfbewohner (gestikulierend, verärgert): »Seit Wochen vergiften Sie unser Grundwasser!« Der Ingenieur (angespannt, in die Enge getrieben): »Irgendwie wird es sich einrenken.« - Ein Schulmädchen (neugierig, altklug): »Sind die Gase nicht schädlich?« Der Umweltbeauftragte (gelangweilt, ausweichend): »Die Natur gleicht das aus.« - Eine ältere Bäuerin (empört, unnachgiebig): »Sie haben Versprechen gebrochen.« Der Gouverneur (herablassend, desinteressiert): »Ist gut, Tantchen.«

Akins Dokumentation, die über einen Zeitraum von sechs Jahren entstand, ist so auch zu einem Lehrstück in moderner Demokratie geraten, die heute dem undurchschaubaren, verzweigten Hierarchiesystem aus Kafkas »Schloss« nicht unähnlich zu sein scheint: Gesetzestexte haben stets Extraklauseln oder sind Interpretationssache, offizielle Beschwerden ziehen Gegenklagen der Behörden nach sich, Eingaben bewirken keinen Aufschub und keine Bauverzögerung, auf konkrete Fragen folgen leere Phrasen oder gar keine Antworten.

Am Ende sehen wir noch mal den braven Herrn Bürgermeister in seinem Büro. Er bringt ein schwaches Lächeln zustande. »Die Gerichtsverfahren sind fast alle beendet. Und wir haben alle verloren.« Tja, was soll man machen? »Wenn ich jünger wäre«, sagt eine Frau im Abspann energisch und blickt dabei unmissverständlich, »hätte ich die Deponie abgefackelt! Ich hätte alles abgefackelt.«

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