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Artifizieller Alptraum

Raffiniert, multimedial und perfektionistisch: »Hotel Methuselah« im English Theatre

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Das English Theatre Berlin erwacht aus seinem ästhetischen Dornröschenschlaf. Mit dem Film-Theater-Thriller »Hotel Methuselah« der britischen Truppe »imitating the dog« gastiert derzeit eine zwar auch schon sechs Jahre alte, aber szenisch raffiniert angelegte und bis in kleinste Details hin perfekt umgesetzte Produktion in der Kreuzberger Fidicinstraße. Der Dank ist ein voll besetztes Haus und ein am Ende zwar etwas verwirrtes, aber dennoch sichtlich beeindrucktes Publikum.

Das Verstehen ist bei dieser Reise in die fragmentierten Erinnerungsspuren des Nachtportiers Harry allerdings auch nicht leicht gemacht. Offensichtlich traumatische Ereignisse in seiner Vergangenheit haben das Wissen darum, warum und wie er in dieses Hotel gelangt ist, ausgelöscht. Hotelgäste, von denen nicht ganz klar wird, ob sie tatsächlich die Rezeption betreten oder nur Harrys zerrütteter Vorstellungskraft entspringen, lösen dunkle Erinnerungen an eine vergangene Liebe, an eine Bluttat und an ein Zuspätkommen am Ereignisort aus. Mit Harry durchlebt man mehrere Zeitschleifen. Dabei verwischt sich, was war, was gewesen sein könnte und was lediglich Spuk zu sein scheint.

Inszeniert ist dieses an den Filmregisseur David Lynch erinnernde Alptraumwerk in einer ungewöhnlichen Bühnenapparatur. Ein breiter Schlitz ist vor die Bühne gebaut. Er schneidet für das Publikum Füße und Köpfe der Schauspieler ab. Diese Details werden in Form eines Schwarz-Weiß-Films, der Attribute des Film Noir aufweist, auf die durch den Schlitz sichtbare Rückwand projiziert. Bühnenschauspieler wie Filmschauspieler vollführen parallel die gleichen Bewegungen. Jeder ist der Schatten des anderen. Diese Wahrnehmungsverdopplung kreiert eine geisterhafte Atmosphäre.

Zudem sorgt eine Hebeapparatur, die die Schauspieler in parallele Lage zum Boden bringt, für einen neckischen Effekt. An die Wand projizierte Draufsichten im Film werden durch senkrecht zum Boden laufende Schauspieler mit Leben gefüllt. Interessant ist auch, dass die Bühnenfigur Harry weitgehend mit ihrem Rezeptionspult verwachsen scheint und lediglich gemeinsam mit dem Pult auf einer Schiene parallel zur Rampe bewegt wird. Die verstärkt noch die artifizielle Anmutung des gesamten Arrangements.

Grafische Effekte wie sich von Buchseiten lösende Buchstaben oder aus Kritzeleien entstehende Insekten, die schließlich davonfliegen, erhöhen den visuellen Reiz dieses multimedialen Schauspiels noch.

In seinem formalen Aufbau ist »Hotel Methuselah« eine Entdeckung. Ungewiss blieb für weite Teile des nichtmuttersprachlichen Publikums allerdings, ob die fragmentierte Erinnerung Harrys allein aus der Erzählstruktur der Aufführung resultierte oder nicht auch durch die Begrenztheit der eigenen Sprachkenntnisse mitverursacht war. Doch dies ist eine zu bewältigende Herausforderung, die im Zuge der Bewältigung sicherlich auch zu eigenem Wachstum führt.

Verblüffend ist, dass diese exzellente Produktion aus dem Jahr 2006 erst hier und jetzt ihre Deutschlandpremiere feierte. Das English Theatre Berlin, das in der Vergangenheit häufiger wegen seines Programms gescholten wurde, hat mit diesem Gastspiel einen neuen Akzent gesetzt. Daniel Brunet, ein als künstlerischer Produktionsdirektor neu ins Team gekommener US-amerikanischer Regisseur und Übersetzer - u.a. von Dea Loher und Heiner Müller - stellte gegenüber »nd« eine weitere verstärkte Anbindung an die avantgardistischer orientierten Performanceszenen in den USA und Großbritannien in Aussicht.

Am Montag stellt Brunet in einer szenischen Lesung ein erst in diesem Frühjahr in Chicago auf die Bühne gekommenes Stück des neuen US-Dramatikersterns Jackie Sibblies Drury vor. Es beschäftigt sich mit den Problemen und Erkenntnissen einer Theatertruppe, die ein Stück über den Völkermord an den Herero erarbeitet. Geradezu zwangsläufig ist das Stück ein Beitrag zur Debatte über die Darstellung von Figuren anderer Hautfarben auf der Bühne. In Berlin wurde sie Anfang des Jahres durch je eine Produktion des Schlosspark Theaters und des Deutschen Theaters ausgelöst.

Bis 9.12.,ETB, Fidicinstr. 40, 20 Uhr, Eintritt 20, erm. 12 Euro

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