Die Arroganz der Kosmokraten

Das Imperium der Schande - von Jean Ziegler beschrieben und angeklagt

  • Hans-Peter Gansner
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Die »Kosmokraten«, das sind nach dem Neologismus, den Jean Ziegler geschaffen hat, jene 500 Multis, die letztes Jahr zusammen mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts kontrollierten, weit mehr, als sie investieren könnten. Nie in der Geschichte habe ein Papst oder Kaiser eine nur entfernt vergleichbare Machtposition besessen. Anhand konkreter Beispiele von Ländern, die er als UNO-Sonderbeauftragter für Ernährungsfragen vor dem Erscheinen der Originalausgabe »L'empire de la honte« bereist hat (u.a. Äthiopien, Bangladesh und Brasilien), zeigt Ziegler auf, wie zwei schreckliche Massenvernichtungswaffen, nämlich Hunger und Verschuldung, im Dienst dieser zynischen »Herren der Welt« (wie sie in seinem letzten Buch hießen) tagtäglich eingesetzt werden, um die Weltordnung zu »refeudalisieren«. Man muss nicht ans andere Ende der Welt ziehen, um sich davon zu überzeugen. Auch in Deutschland wird u.a. mit Massenentlassungen bei Siemens vorexerziert, wie brutal Profit auf Kosten der Menschen gemacht wird. Ziegler widmet allein der schändlichen »Arroganz der Kosmokraten in München« ein ganzes Kapitel. Die globale Refeudalisierung der Weltwirtschaft und Weltpolitik wird von den Multis und ihren politischen und ideologischen Helfershelfern schonungslos durchgepeitscht: »In der Dritten Welt rackern sich die Menschen buchstäblich zu Tode, um die Schuldenberge abzutragen, die von korrupten Diktatoren in Komplizenschaft mit den Konzernherren des Nordens aufgehäuft wurden«, so Ziegler. Geht die Strategie der Kosmokraten auf, findet ein Rückfall der Welt in den Zustand der Barbarei statt, wie sie vor der französischen Revolution von 1789 herrschte. Ziegler greift auf das philosophische Erbe der Aufklärung zurück, vor allem die Philosophen des Zeitalters der »Lumières« wie Jacques Roux mit seinem »Manifeste des Enragés«, Jean-Paul Marat, Saint-Just und die Frühsozialisten. Vor allem der Frühkommunist Gracchus Babeuf mit seiner »Conspiration des Egaux« (»Verschwörung der Gleichen«) hat es ihm diesmal angetan: Babeuf wurde von Robespierre guillotiniert, weil er die Eigentumsfrage konkret gestellt hatte. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, »es kömmt aber darauf an, sie zu verändern«, zitiert der Autor Marx. Von den neueren Philosophen hält es Ziegler mit Jean-Paul Sartre, der einmal gesagt hat: »Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.« Ziegler ist Marxist geblieben, hat aber seine Terminologie der Alternativbewegung der Globalisierungsgegner angeglichen. Er ist nach Sartres Verständnis ein »organischer Intellektueller«, der als Revolutionär - im Sinne Che Guevaras - »das Gras wachsen hört« und in den Bewegungen schwimmt »wie ein Fisch im Wasser« (Mao). In Porto Alegre hat er im Januar 2003 im Stadion »Gigantino« vor 20 000 Zuhörern gesprochen, auch wenn er sich nur im weitesten Sinn dem internationalen Widerstand der »antiglobalistischen« Zivilgesellschaft gegen die Herrschaft der »Kosmokraten« zurechnet. Ziegler zeigt, dass Hunger und Elend seit Marx sogar zugenommen haben, obwohl der technische Fortschritt es heute erlauben würde, 12 Milliarden (!) Menschen zu ernähren. Stattdessen verhungert alle sieben Sekunden ein Kind, weil die Kosmokraten, die Neofeudalisten es so wollen. Im Gegensatz zum »organischen Mangel«, den Marx konstatierte, wird heute »struktureller Hunger« (ein Begriff der FAO) bewusst fabriziert. 100 000 Menschen sterben täglich an Hunger oder an seinen unmittelbaren Folgen. Als gewiefter Polyglott wählte Ziegler im Titel seines Buches (»L'empire de la honte«) bewusst eine Mehrdeutigkeit: Honte heißt »Scham« wie auch »Schande«. Es ist Scham, die der Hungernde in Salvador de Bahia überwinden muss, um im Abfall nach etwas Essbarem zu suchen. Und diese Tatsache ist eine Schande, die uns Menschen in den reichen Ländern wiederum beschämen sollte - wie vor zweihundert Jahren, als die feudale Auspowerung der Leibeigenen und Sklaven jene Schamgefühle erzeugte, die zu Einsicht und Verbesserungsabsicht führten. Bei Daniel Vasella, Novartis-Boss, haben die himmelschreienden Zustände der Gegenwart offenbar Scham hervorgerufen: Der ehemalige Arzt hat beschlossen, in Singapur eine Fabrik zu bauen, in der in einer beschränkten Anzahl Anti-Malaria-Pillen hergestellt und zum Herstellungspreis verkauft werden. Die kürzlich von den G-8 beschlossene Schuldenstreichung ist zwar positiv, aber »ungenügend«, wie Ziegler kürzlich in einem Interview sagte. Und ein Lula da Silva, Brasiliens Präsident, braucht mehr, um sein Programm »Foma Zero« durchzusetzen. Die Angst vor einer Wiederkehr der Tragödie, die Allende und dem chilenischen Volk 1973 widerfuhr, ist allgegenwärtig. Was könnte konkret unternommen werden, um endlich die Herrschaft der kapitalistischen Kosmokraten, die unheilige Allianz der Welthandelsorganisation (WTO), des internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu brechen, die die Bevölkerung der armen Länder im Würgegriff halten? Ziegler hofft auf »Utopie« und »Scham« als radikale, revolutionäre Gegenkräfte. Und er offeriert ein mehrere Punkte umfassendes Programm: zunächst eine grundlegende Agrarreform in der Dritten Welt, dann gerechte Preise für landwirtschaftliche Produkte der Südhemisphäre, schließlich Rationalisierung der humanitären Hilfe bei Naturkatastrophen. Auch dem Kampf gegen die Privatisierung des Trinkwassers misst er absolute Priorität zu. Und last but not least fordert er die sofortige Schließung der Grundnahrungsmittelbörse von Chicago, an der mit dem täglichen Brot der Ärmsten schamlos spekuliert wird. Ziegler schlussfolgert: »Es kommt nicht darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen.« Nicht von ungefähr hat Ziegler den legendären, flammenden Appell des Abbé Pierre »Freunde, helft!« auf Radio Luxemburg von 1954, mit dem dieser zu einem »Aufstand der Güte« aufgerufen hat, in sein Opus aufgenommen und damit als Manifest auch für das 21. Jahrhundert weltweit publik gemacht, wie Marx seinerzeit die Analyse der bürgerlichen Nationalökonomen Smith und Ricardo in einem genialen soziologischen Handstreich auf weltweite Ebene übertragen hat. Zieglers »Imperium der Schande« ist in 15 Sprachen zu lesen. Die deutsche Ausgabe ist übrigens auf den neusten Stand gebracht. Zudem ist sie - und das macht sie benutzerfreundlicher als das französische Original - mit einem ausführlichen, sorgfältigen und a...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.