Die Einsicht, krank zu sein

Beim Landgericht Berlin häufen sich Fälle von Sicherungsverfahren

  • Lesedauer: 3 Min.
Peter Kirschey berichtet aus Berliner Gerichtssälen
Peter Kirschey berichtet aus Berliner Gerichtssälen

Es ist auffällig in dieser Woche im Berliner Kriminalgericht in Moabit: Ungewöhnlich viele Fälle von Sicherungsverfahren. In zehn Prozessen werden Taten verhandelt, bei denen die mutmaßlichen Täter auf Grund psychischer Störungen im juristischen Sinne nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Ziel der Verfahren ist nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht das Gefängnis, sondern ein psychiatrisches Krankenhaus. Deshalb gibt es keine Anklageschrift, sondern einen Antrag. Auch in der nächsten Woche werden mehrere Fälle verhandelt, bei denen es darum geht, die Gefahr einer Wiederholung zu vermeiden.

Es geht in der Regel um Gewalttaten: Ein Mann dringt in die Wohnung seiner Eltern ein und verwüstet sie. Ein 23-Jähriger verletzt seinen Schwager mit einem Küchenmesser. Eine 41-jährige Frau bedroht in der S-Bahn die Fahrgäste mit einem Messer. Auch beim 29-Jährigen Oliver K., dessen Fall seit Freitag verhandelt wird, wiegen die Vorwürfe schwer. Er soll seine Mutter aus nichtigen Anlässen in Aufwallungen von Wut mehrfach geschlagen und getreten haben. Auch über seinen Nachbarn hat er sich geärgert, weil K. für ihn ein Paket annehmen musste. Als dieser seine Sendung einforderte, prügelte er auf ihn ein.

Äußerlich wirkt Oliver K., als könnte er keiner Fliege etwas zu Leide tun. Ein freundlicher blonder Wuschelkopf mit leuchtend blauen Augen. Doch sein Gesicht strömt viel Traurigkeit aus über sein bisheriges Leben. Seine Ausdrucksweise ist sehr gewählt. Zitate aus seinen Schilderungen: »Ich habe versucht, meine Mutter zu peinigen, weil ich in Rage geriet.« Oder: »Ich neige dazu, zu der Erkenntnis zu kommen, dass es sehr ungehörig war, meine Mutter so zu behandeln.«

Nach Abschluss der 10. Klasse schmiss der in der Nähe von Halle Geborene die Berufsausbildung als Chemielaborant, danach fand er nie wieder so richtig Halt in der Gesellschaft. K. fühlte sich als Versager. Das zehrte an seinen Nerven. Es war ein schleichendes Gift, das sich in seinem Körper einnistete. Auch die vollzogene Übersiedlung aus der Provinz nach Berlin bracht keine Entspannung. Um das Jahr 2001 wurde er drogenabhängig, ließ sich 2004 entgiften, konsumierte aber weiterhin Cannabis als »leichte Droge«. Immer wieder ließ er sich psychologisch behandeln, bekam Medikamente. Doch Psychopharmaka ersetzen keine Freunde. Was er auch anpackte, irgendwie ging alles schief. Bis er seine Mutter schlug, zu der er ein gutes Verhältnis hatte und auch wieder hat. Da diagnostizierten Mediziner eine »undifferenzierte Schizophrenie«. Verordnete Medikamente nahm er nicht, weil er sie nicht für nötig hielt. Oliver K. ist nicht in der Lage, Körper und Geist im Griff zu haben. Damit könnte er jederzeit zu einer Gefahr für seine Mitmenschen werden.

Knackpunkt ist: Er muss zuerst verstehen, dass er krank ist. »Krankheitseinsicht« sagt das Gericht. Erst wenn sie gefestigt ist, kann über ein Leben »danach« entschieden werden. Solange wird sich Oliver K. in der Psychiatrie aufhalten müssen. Eine Familie und Freunde zu haben, einen festen Job, das sind seine Wünsche für ein Leben in Freiheit.

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