Land der Ahnungslosen

Tuvia Tenenboms Reisebericht »Allein unter Deutschen«

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.
In der Selbstwahrnehmung seiner Bevölkerung ist Deutschland, was die NS-Zeit angeht, bis heute ein Land der Opfer geblieben. In Tuvia Tenenboms Reisebericht trifft der Leser auf eine Bevölkerung, wie sie in einem Handbuch zu den Klischees über den Deutschen nicht besser beschrieben werden könnte.

Ein dicker, blonder Mann aus den USA ist im Jahr 2010 ein halbes Jahr durch Deutschland gereist, hat viele Menschen zuhause, an öffentlichen Orten oder an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht und ihnen zugehört. Einer von denen, die er getroffen hat, ist Frank. Zwischen Frank, einem Neumünsteraner Barbesitzer und Neonazi, und dem dicken, blonden Mann, der deutsche Vorfahren hat, entspinnt sich ein schönes Gespräch:

»Ein deutscher Kanzler muss immer Amerika besuchen, um sich den Alliierten zu unterwerfen. Immer noch. Das ist eine Schande für Deutschland!« Und was hält Frank von Altkanzler Helmut Schmidt? Frank: »Der ist gut.« Darauf deutet der US-Amerikaner an, er »habe gehört«, dass der Ex-Kanzler Jude sei. Frank: »Echt? Scheiße!«

Tja, in diesem Fall wird Frank wohl kaum darum herumkommen, nachträglich seine Einschätzung zu korrigieren, was die Leistungen Schmidts betrifft.

Tuvia Tenenbom, so heißt der dicke US-Amerikaner, Jahrgang 1957, geboren in Tel Aviv, ist Journalist und unter anderem für »Die Zeit« tätig. Und er hat keine Scheu, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Deutschen, sagte der 55-Jährige einmal im Interview, habe er »nie für Antisemiten gehalten«. Doch einmal unterwegs in dem Land, muss er sich nach und nach eines Besseren belehren lassen: Die Juden bilden eine Weltgemeinschaft, die Medien sind in der Hand der Juden, die Juden sind reich, usw. Woher etwa glaubt die Pastorin Gaby zu wissen, dass der Besitzer einer großen Supermarktkette ein Jude sei? »Weil er so reich ist, muss er ja jüdisch sein.« Auch muss Tenenbom gegenüber seinen Gesprächspartnern wiederholt bestreiten, dass ihm Goldman Sachs gehört.

In der Selbstwahrnehmung seiner Bevölkerung ist Deutschland, was die NS-Zeit angeht, bis heute ein Land der Opfer geblieben, der Ahnungslosen, Unbeteiligten, Ausgelieferten: In einem Museum in München trifft Tenenbom beispielsweise Menschen, die während eines Vortrags »sehr bewegt scheinen von der tragischen Geschichte der Bombardierung« deutscher Städte, von dem ganz in der Nähe liegenden ehemaligen Konzentrationslager Dachau aber nichts wissen wollen. Im Schwarzwald trifft er den Firmeninhaber Johannes, der ihm das alte Märchen vom hilflosen »deutschen Volk« erzählt, das »gegen die Nazis war, aber rein gar nichts gegen sie machen« konnte. Tenenbom schreibt: »Er erzählt mir auch, dass er die Juden mag. Und ich mag Hähnchen. Wenn sie schön knusprig sind.«

Eine Antwort, die zuverlässig immer dann kommt, wenn man die Deutschen auf die nationalsozialistische Vergangenheit anspricht, lautet: Wir müssen in die Zukunft schauen. Seit Jahrzehnten schon bekommt man diese Antwort, egal, ob man den kleinstädtischen Hundezüchterverein besucht oder die Delegiertenversammlung der Grünen: Wir müssen in die Zukunft schauen. In die Zukunft schauen und einen sogenannten Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollten die Deutschen bereits am 9. Mai 1945, und zwar schon morgens nach dem Aufstehen. Seither hat man mit dem Schlussstrichziehen und dem Schauen in die Zukunft nicht wieder aufgehört. Auch deshalb reagiert der Deutsche bis heute empfindlich darauf, wenn man ihn ohne Vorwarnung an seine Vergangenheit erinnert.

Wir treffen in Tenenboms Reisebericht auf eine Bevölkerung, wie sie in einem Handbuch zu den Klischees über den Deutschen nicht besser beschrieben werden könnte: Sie hat eine notorische Obsession für den Nahostkonflikt, ist durch und durch humorlos, technikbesessen, von einem Sauberkeits-, Kontroll- und Ordnungswahn durchdrungen und stets zur Stelle, wenn es darum geht, eilfertig anklagend mit dem Finger auf andere Nationen zu weisen (»Und Ihr habt die Indianer getötet!«). Ihr Gott ist das chromglänzende Automobil. Jeder ist jederzeit dazu bereit, im nationalen Kollektiv mitzutun, um nicht mit sich allein sein zu müssen.

Freilich finden sich auch moderne, aufgeschlossene, weltoffene Deutsche, die es gut meinen mit dem Ausländer und dem Schwarzen und inzwischen gelernt haben, dass selbst diese etwas leisten. Wie der den Kirchentag besuchende Katholik Reiner: »Für einen Schwarzen, sagt Reiner, ist Obama außergewöhnlich intelligent.«

Wir lernen eine Bevölkerung kennen, die alles tun würde, um als normal wahrgenommen zu werden, und es genau deshalb nicht ist: kleingeistige, seelisch verkümmerte Menschen, die anstandslos parieren, wenn ihr Gegenüber das Wort »Behörde« in den Mund nimmt, und sofort beginnen, große Worte zu schwingen, sobald der Vorgesetzte den Raum verlassen hat.

Tenenbom begegnet den Deutschen, die er interviewt, allerdings nicht mit moralischen Ansprachen und erhobenem Zeigefinger. Er erzählt salopp, anekdotenhaft, pointiert, in knappen Sätzen. Nicht jeder Witz gelingt ihm, und zuweilen wirkt sein Bemühen, jeder Begegnung, von der er berichtet, eine komische Seite abzupressen, bei der Lektüre ermüdend.

Der Spott des Autors trifft wohlgemerkt nicht allein die ewiggestrigen, reaktionären Kleinbürgerdeutschen, sondern ausnahmslos alle, die ihm vors Mikrofon kommen. Tenenbom stellt uns etwa auch eine streng religiöse Muslima vor, über die es heißt: »Sie versicherte mir glaubwürdig, dass sie stolz darauf sei, komplett verhüllt zu sein. Juwelen, sagte sie, verhüllt man. Die Toten verhüllt man auch, aber diesen Gedanken behielt ich für mich.« Oder den streng religiösen Rabbi Yehuda, der am Sabbat weder selbst einen Lichtschalter betätigen noch anwesende Nichtjuden ausdrücklich darum bitten darf.

Juden, Linke oder Christen müssen genauso einstecken wie Neonazis, Esoterikspinner oder Angestellte der Deutschen Bahn. »Das Preissystem für Zugfahrkarten in Deutschland ist überaus komplex. Um sich da zurechtzufinden, sollte man über 20 Jahre Erfahrung im Schachspielen verfügen, bevor man seine erste Fahrkarte kauft.« Man kann Tenenbom viel vorwerfen, nicht aber, dass er sich nicht mit dem Preissystem der Deutschen Bahn auskennt.

Ursprünglich war Tenenboms Reisebericht vom Rowohlt-Verlag für das Jahr 2011 als Bestseller eingeplant. Nach einem längeren Streit mit dem Verlag, der das Manuskript kürzen und teils verändern wollte, ist es nun bei Suhrkamp erschienen.

Ach ja, eines sollte nicht unerwähnt bleiben: Auch Rabbi Yehuda »bestreitet, dass ihm Goldman Sachs gehört«.



Tuvia Tenenbom: Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise. Suhrkamp, 431 S., 16,99 Euro.
Buchpremiere und Diskussion: Volksbühne Berlin, 7.2., 20 Uhr. Mit mit Tuvia Tenenbom, Rafael Seligmann, Hermann L. Gremliza und Christoph Dieckmann.

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