Die Wohnung der Seghers
Klaus Bellin
Ein Haus ohne Auffälligkeiten, schlicht und schmucklos wie alle Bauten ringsum. Es passte zu ihr. Auch die Straße passte: Volkswohlstraße. Ein Umzug von Adlershof nach Adlershof, bloß um die Ecke. Sie blieb draußen am Rand der Stadt mit viel Grün in der Nähe, weit genug von der quirligen Mitte Berlins entfernt. Der Weg zur S-Bahn ein Katzensprung. Sie blieb auch in der Nähe der Freundinnen Steffie Spira und Berta Waterstradt. Es konnte alles so weitergehen wie bisher.
Anna Seghers, am 19. November 1900 geboren, war 54, als sie mit Mann und Tochter ihre letzte Wohnung bezog. Es war die sechste Adresse seit ihrer Rückkehr im April 1947. Damals, als sie ankam, war sie erst einmal im Hotel Adlon untergekommen, in einem Trakt des Gebäudes, der nicht vollkommen zerstört war. Es ging ihr nicht gut. Sie war mutterseelenallein, der Mann noch in Mexiko-City, Sohn und Tochter in Paris, um die Universität zu besuchen. Die Menschen, die ihr begegneten, lethargisch und verbittert, erschienen ihr fremd und unnahbar. Sie selbst eine Unbekannte. Man wusste nichts von einer Anna Seghers und auch nichts von einem Roman »Das siebte Kreuz«, der ein Welterfolg war. Ihr schien, sie sei in die Eiszeit geraten. Sie fror. Sie hoffte inständig, dass Rodi, ihr Mann Laszlo Radvanyi, bald käme. Aber er vertröstete sie ein ums andere Mal. Sie stürzte sich in die Arbeit, schrieb Artikel, sprach hier und redete dort, sie reiste viel, am liebsten zu den Kindern nach Paris. Vom Adlon zog sie ins Casino-Hotel am Großen Wannsee, dann nach Zehlendorf, in eine Gegend, in der sie bis 1933 zu Hause war. Die SED-Führung, die gleich nach der DDR-Gründung begann, alle Mitglieder zu überprüfen, die in westliche Länder emigriert waren, bedrängte sie mit Fragen. Warum ihr Mann noch in Mexiko sei. Warum die Kinder in Paris studierten. Man setzte sie unter Druck. Sie solle ihren mexikanischen Pass abgeben, und man erwarte, dass sie in den Osten Berlins ziehe. Sie gab nach. Verzichtete auf die mexikanische Staatsbürgerschaft. Meldete sich bei ihren Freunden Helene Weigel und Bertolt Brecht in Weißensee an. Dort blieb sie bis zum Sommer 1950, dann besorgte ihr der Aufbau-Verlag eine Wohnung in Adlershof, drei Zimmer in der Altheiderstraße 21, erste Etage links.
1952 kam endlich Rodi, 1954, nach abgeschlossenem Medizinstudium, Tochter Ruth. Es wurde eng. In der Volkswohlstraße 81, seit April 1955 das Domizil der Familie, war mehr Platz. Man hatte in der oberen Etage zwei kleine Wohnungen zusammengelegt und damit eine größere mit sechs Zimmern geschaffen. Es war der einzige Luxus, den Anna Seghers in Anspruch nahm. Angebote, ein Haus zu beziehen und ähnlich repräsentativ zu wohnen wie Becher oder Arnold Zweig im Norden der Stadt, lehnte sie jedes Mal ab. Auch zuletzt, in Mexiko, hatte sie ganz schlicht gelebt, mit spottbilligen Möbeln, handgearbeiteten Tischen, bunt bemalten Stühlen, alles auf dem Markt erworben. Sie hatte sich, sagt ihr Sohn Pierre Radvanyi, bewusst für einen einfachen Lebensstil entschieden.
Ein langer Flur. Garderobe, Sitzbank, an den Wänden reproduzierte Malerei von Diego Rivera, Bücherregale rechts und links, die meisten, um den Platz auszunutzen, hoch oben zwischen Türrahmen und Decke. Nur hinten reichen sie hinunter bis zum Boden. Gleich vorn Bücher aus Mexiko, dann, ungeordnet und wie zufällig hierher geraten, Dostojewski-Bände, Feuchtwanger, Bodo Uhse, eine Balladensammlung, Ehrenburgs Memoiren in der Ausgabe des Münchner Kindler-Verlags, Siegfried Lenz und Alfred Andersch, die blaue Marx-Engels- und die braune Lenin-Ausgabe, Taschenbücher, eine ganze Reihe mit den kleinen Bänden der Deutschen Volksbibliothek aus dem Aufbau-Verlag, damals für 2 Mark 85 zu haben. Irgendeine Ordnung ist nicht zu erkennen. Aber ihre Mutter, meint Ruth Radvanyi, habe immer gewusst, wo sie suchen musste.
Die Bibliothek, auf beinahe alle Räume verteilt, wuchs im Lauf der Zeit auf fast 10 000 Bände. Was schon 1933 in den Regalen stand, schien, als Anna Seghers mit Mann und Kindern nach Frankreich floh, ein für alle Mal verloren. Sie hatten alles zurücklassen müssen, auch die Arbeitsunterlagen, die Aufzeichnungen, die Bücher. Rettung kam von den Eltern in Mainz. Hedwig und Isidor Reiling sorgten dafür, dass die Bücher aus der Berliner Wohnung verpackt und nachgeschickt wurden. Doch dann, 1940, die nächste Katastrophe. Laszlo Radvanyi wurde, kaum waren deutsche Truppen über Frankreich hergefallen, verhaftet und ins Internierungslager Le Vernet gesteckt. Anna Seghers entkam, als Paris besetzt wurde, in letzter Minute. Und wieder blieb alles zurück. Aber die Flüchtenden, von Flugzeugen bombardiert, kamen nicht weit. Sie mussten umkehren. Die Stadt war voller Militär. Anna Seghers sprach, um sich nicht zu verraten, nur noch Französisch. Sie mied, von der Gestapo gesucht, den Vorort Bellevue, und sie mied ihre Wohnung. »In Paris«, berichtete sie später, »lebte ich praktisch in der ständigen Nähe des Todes, ich schlief jede Nacht woanders.« Der Sohn, damals 14 Jahre alt, rettete noch ein paar Sachen, aber die Bücher musste er stehen lassen. Was aus ihnen wurde, stellte sich erst heraus, als der Krieg zu Ende war und er wieder nach Paris kam, um zu studieren. Das Haus, in dem man gewohnt hatte, war inzwischen verkauft, doch die Bücher, welch Glück, waren im Keller gelandet und dort all die Jahre geblieben. Pierre veranlasste, dass sie in ein Möbellager kamen. Erst, als in Adlershof genügend Platz war, wurde die Bibliothek wieder nach Berlin geschickt.
Mit den Büchern kehrte all das zurück, was einmal zur jungen Netty Reiling gehörte. Die Welt der Märchen und Sagen, deren Zauber Anna Seghers später ins eigene Werk holte, in die »Sagen von Artemis« oder die Erzählungen vom Räuber Woynok. Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und dem Born Judas. Die Bildbände der Heidelberger Studentin, gleich mehrere über niederländische Malerei. Der Victor Hugo von 1840, die alte Schiller-Ausgabe und der mehrbändige, in rotes Leder gehüllte Heine, fast alles mit dem schlichten Exlibris der Netty Reiling geschmückt. Dazu die Franzosen von Louis Aragon bis Zola, manches noch aus der Schulzeit, anderes aus den französischen Exiljahren, viele Exemplare mit den Widmungen der Autoren.
Es ist alles geblieben, wie es war. Im Wohnzimmer, dem größten Raum der Wohnung, dem Ruhepunkt nach den Turbulenzen des Exils und des Nachkriegs, empfing Anna Seghers ihre Gäste. Das Mobiliar, in den fünfziger Jahren für diese Wohnung gefertigt, aus schön gemasertem, warm schimmerndem Holz. Eine Sitz-ecke, der Radioapparat, die Bücherwand mit den Figürchen und Tierchen vor den Reihen, ein langer Tisch davor, die Palme (die immer noch existiert) und, als Prunkstück, der große braune Kachelofen rechts neben der Tür, ihr »Holländerofen« mit der gekachelten Sitzbank, dem Hirtenglöckchen darüber und den blau-weißen Keramiken aus Mexiko, die vom Töpfer Benito aus ihrer Erzählung »Das wirkliche Blau« stammen könnten. Wenn Besuch kam (und es kamen viele: Arbeiter, Lektoren, Kollegen und Freunde wie Amado, Ehrenburg oder Laxness), saß man am reichlich gedeckten Tisch, aß, trank, redete, lachte. Sie war, erzählten ihre Gäste, von ungeheurer Neugier. Fragte jeden aus, freute sich über Klatsch und Tratsch, war lustig, nachdenklich und auffallend wortkarg nur dann (»ich weiß noch nichts«), wenn jemand wissen wollte, woran sie denn im Augenblick arbeite.
Der Schreibtisch, einfach, stabil und mit extra großer Platte, steht nebenan. Alles sieht aus, als habe Anna Seghers nur kurz ihren Platz verlassen, sei weggegangen oder mit einem Buch auf den kleinen Balkon vor ihrem Arbeitszimmer gezogen, um dort bei schönem Wetter zu lesen oder zu schreiben. Auf dem Tisch liegt die Lesebrille, und da steht die Remington, die man ihr schenkte, als sie in Mexiko ankam, und die sie auf ihren Reisen meist bei sich hatte. Wenn sie hier vor ihrer Schreibmaschine saß und hochblickte, fiel ihr Blick auf die Handschrift an der Wand, ein gerahmtes Blatt, das einmal der kostbarste Besitz war, den sie hatte. Es ist ein Blatt von Heines Hand, ein Brief von 1848, geschrieben im Pariser Exil und gerichtet an die Mutter in Hamburg, ein Geschenk des Vaters. Der Mainzer Antiquitätenhändler hatte ihr die Handschrift 1933, vor ihrer Flucht aus Deutschland, überlassen, damit die Familie in der Not etwas hatte, was sich verkaufen ließ. Sie hütete das Blatt wie einen Schatz. Sie geriet 1940 immer wieder in höchste Not, als sie sich mit den Kindern unter Lebensgefahr nach Pamiers durchschlug, in den unbesetzten Süden Frankreichs. Sie musste einen »qualvollen Winter« überstehen, verstrickt in die aufreibenden Kämpfe mit der »tödlichen Bürokratie», ständig unterwegs, ständig damit beschäftigt, die Flucht aus Europa zu organisieren und die Freilassung ihres Mannes aus dem Internierungslager zu erreichen. Sie brauchte Geld, und niemand wusste, woher sie Mittel und Kräfte nahm, all die Schwierigkeiten zu meistern. Den Heine gab sie nicht weg. Heine gehörte zu ihren Lieblingsdichtern, und schließlich stammte der Brief des Dichters von ihrem Vater, der in diesem schrecklichen Winter 1940 starb. Sie hatte das Blatt immer noch bei sich, als sie nach Berlin zurückkam, und sie hängte es so, dass sie es, wenn sie arbeitete, sehen konnte. Später verfügte sie testamentarisch, dass es als Geschenk in die Staatsbibliothek Unter den Linden gehen solle. Seit 1991 hängt im Arbeitszimmer eine Kopie.
Ein Raum in dieser Wohnung beherbergt die Zeugnisse des Weltruhms: Erstausgaben, die langen Reihen mit den Übersetzungen ihrer Romane und Erzählungen, die Seghers-Bände, die nach 1945 erschienen, Fotos, Dokumente und den kleinen Reisealtar, ein aus Holz geschnitztes Triptychon mit dem heiligen Christophorus in der Mitte. »Es bewahrt«, schrieb Anna Seghers 1965 ihrem Kollegen Max Walter Schulz, »besonders die Reisenden davor, unvorbereitet (ohne Kommunion) zu sterben.« Sie hatte das golden und braun bemalte Altärchen auf einem Markt in Mexiko gekauft, und sie vergaß es nie, wenn sie auf Reisen ging. Als sie das Land, in dem sie immer heimischer geworden war, 1947 verließ, blieb alles zurück, was noch aus den französischen Exiljahren stammte. Nur ein paar Andenken nahm sie mit, natürlich auch das Triptychon. Auf den Beistand des heiligen Christophorus wollte sie nicht verzichten.
Unter den Büchern, die die Ausstellung zeigt, sind auch die frühen Ausgaben des Romans »Das siebte Kreuz«. Das Buch ist ihr Erfolg geworden, übersetzt in 42 Sprachen. Anna Seghers schrieb es in Paris, meist in vollbesetzten Cafés, wo sie, ganz abgeschieden trotz der vielen Menschen, am besten arbeiten konnte. Als sie das Manuskript korrigierte, erzählte sie später Christa Wolf, hatte schon der Zweite Weltkrieg begonnen. »Als es fertig war, gingen mir, zu meinem schrecklichen Kummer, mehrere Kopien verloren. Ich fürchtete sogar eine Zeitlang, die ganze Abschrift wäre verlorengegangen. Zum Glück aber ... ist ein Exemplar bei Franz Weiskopf, der damals in den Staaten war, angekommen. Ein französischer Freund, der es übersetzen wollte, lag als Soldat in der Maginotlinie mit dem Manuskript. Und ein anderes, das ich einer Freundin geliehen hatte, ging ... mit dem Haus zugrunde.«
Der Roman erschien 1942 in Boston, USA, ausgerechnet in jenem Land, das Anna Seghers nach geglückter Flucht aus Frankreich die Einreise verwehrt hatte (und dessen FBI sie nach Kräften ausspionierte, nachdem sie in Mexiko Zuflucht fand). Jetzt, nur kurze Zeit danach, sorgte er in Amerika für Furore. Er wurde zum »Buch des Monats« gewählt und in einer Millionenauflage nachgedruckt, für die Bühne dramatisiert und von einer New Yorker Zeitung als Comic verbreitet, mit Spencer Tracy in der Rolle des Georg Heisler in Hollywood verfilmt und sogar eigens für die Armee gedruckt. Die Ausgabe, eine gelbe Broschur im Querformat, die Schrift auf dem Umschlag rot und schwarz, hergestellt 1942 in New York, gehörte zur Ausrüstung der Soldaten, die in den Krieg gegen Hitlerdeutschland zogen. Sie sollten wissen, was in dem Land, das sie bekämpften, geschehen war.
Erst als ihre Krankheit die Unterbringung in einem Pflegeheim erforderte, hat Anna Seghers die Wohnung verlassen. 1985, zwei Jahre nach ihrem Tod, ist daraus eine Gedenkstätte geworden, unterhalten von der Akademie der Künste (die auch den geschenkten Nachlass bewahrt). Das Haus, gründlich saniert, zeigt sich inzwischen verjüngt, nur oben, wo noch das hölzerne Namensschild Seghers-Radvanyi neben der Tür auf die einstigen Mieter verweist, hat man in den wichtigsten Räumen nichts verändert. Näher als hier, von den ...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.