Keine Zeit für Patientin

AOK will Tod einer 70-Jährigen in einem Cottbusser Seniorenheim prüfen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Brandenburg lädt die Kollegen für den 25. November ins Potsdamer Hotel Mercure ein. »Sterben Praxen - sterben Patienten« lautet das Motto der Protestversammlung, die sich gegen um zehn Prozent und mehr gesunkene Honorare wehren soll. Jetzt ist in einem Cottbusser Seniorenheim eine Patientin gestorben. Zuvor hatten sich 16 Hausärzte geweigert, die 70-Jährige zu behandeln. Um es vorweg zu nehmen: Deswegen ist die Frau nicht gestorben. Ein Notarzt hatte alle Medikamente verschrieben, die sie brauchte. Wären die Medikamente alle gewesen, hätte man im Ernstfall wieder einen Notarzt gerufen, versichert Heimleiterin Iris Link. Zur Vorgeschichte: Die Frau brach im Oktober zusammen und musste ins Krankenhaus. Wochenlang lag sie in der Cottbusser Carl-Thiem-Klinik. Als die 70-Jährige dann ins evangelische Seniorenheim »Johann Hinrich Wichern« kam, ging es ihr noch immer sehr schlecht. Sie wurde künstlich ernährt und beatmet. Das Heim suchte nun sofort einen Hausarzt, der sich in Zukunft um die Patientin kümmern sollte. Der frühere Hausarzt der Frau sitzt »jottweedee« - ganz weit draußen, also außerhalb von Cottbus - in Drebkau, wo die Frau vor ihrem Zusammenbruch gelebt hatte. Dass dieser Arzt nicht wollte, kann Jörg Trinogga verstehen. Er ist Sprecher der Brandenburger AOK, bei der die Rentnerin versichert war. Das Problem stellen für Trinogga die 15 Cottbusser Ärzte dar. Diese begründeten ihre Ablehnung der Heimleitung zufolge durchweg mit zu hoher Arbeitsbelastung. »Wenn drei oder vier Ärzte das sagen, aber alle?« Trinogga kommt die Sache verdächtig vor. Dass ein Zusammenhang mit den derzeitigen Ärzte-Streiks bestehen könne, »sei nicht von der Hand zu weisen«. Die AOK will den Fall prüfen und alle betroffenen Ärzte anschreiben. Konsequenzen sind denkbar. Ob das bis zum Entzug der Kassenzulassung gehen könnte, vermag Trinogga derzeit noch nicht zu sagen. Unter welchen Umständen ein Arzt die Behandlung eines Patienten verweigern kann, ist im Bundesmantelvertrag Ärzte-Krankenkassen, Paragraf 13, Absatz 7, geregelt, so die Auskunft eines Experten vom AOK-Bundesverband in Bonn. Der Arzt darf demnach ablehnen, wenn der Patient die Versichertenkarte nicht vorweist oder die Praxisgebühr nicht zahlt. Im Notfall allerdings ist auch dies keine Rechtfertigung. Ansonsten ist in dem Vertrag nur von »begründeten Fällen« die Rede. Arbeitsüberlastung werde nicht ausdrücklich erwähnt, so der Experte. Generell gebe es sogar eine »Behandlungspflicht«. Wenn tatsächlich alle Ärzte in einer Region überlastet sind, müsste die Kassenärztliche Vereinigung eingreifen. Aber woher zusätzliche Ärzte nehmen? fragt Hans-Jörg Wilsky, Hauptgeschäftsführer der KV Brandenburg. Schon jetzt sind 182 Hausarzt- und 39 Facharztpraxen nicht besetzt. Von den 1500 Allgemeinärzten im Land gehen 500 in den nächsten fünf Jahren in Rente. Nachfolger zu finden, die in den Ruhestand treten, ist nicht einfach. Zwar gibt es arbeitslose Mediziner in Berlin, die aber wollen nicht aufs Land hinaus, wie Wilsky bestätigt. Wegen der schon genannten Einbußen bei den Honoraren forderte der KV-Vorstand eine Finanzspritze, um bedrohte Existenzen zu sichern. Der Vorstand forderte die Kollegen auf, an Protesten teilzunehmen. Vielerorts blieben zuletzt Praxen tageweise zu - besonders in Südbrandenburg, wo am Donnerstag 300 Ärzte die Sprechstunde ausfallen ließen. Zwischen diesen Protesten und dem »bedauernswerten Fall« der Seniorin müsse man aber »klar trennen«, verlangt Wilsky. Die KV weiß nur von neun Ärzten, die die Behandlung ablehnten. Diese möchte man jetzt schriftlich bitten, die Gründe dafür zu nennen. Eins ist Wilsky aber schon bekannt: Die Ärzte in Cottbus müssen besonders viele Patienten versorgen. In ganz Brandenburg liegen die Fallzahlen um 40 Prozent über denen im Westen, so Wilsky.

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