Weihnachtswunder an der Westfront

Im Kino: »Merry Christmas« von Christian Carion

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Weihnachten 1914 müssen die militärischen Transporte an die Westfront zurückstehen. Der deutsche Kaiser hat befohlen, dass seine für ihn kämpfenden und sterbenden Soldaten jetzt dringend etwas anderes benötigen. Schließlich hatte er ihnen versprochen, dass sie Weihnachten alle wieder zu Hause bei ihren Familien feiern würden, als siegreiche Kriegshelden. Daraus wird nun nichts. Aber ein Geschenk hat er für seine Soldaten: Tausende Weihnachtsbäume für die Schützengräben! Aber das ist nicht das Wunder, von dem dieser Film erzählt, es ist Teil des Wahnsinns dieses Weltkriegs. Gott ist immer mit dabei im Schützengraben. Nicht nur bei den Deutschen, auch bei den Franzosen und den Schotten, die sich hier einen Steinwurf voneinander entfernt gegenüber liegen. Überall wird gebetet, Gott möge die Feinde des Vaterlandes strafen. Ein guter Christ ist, wer viele Feinde tötet! Und Weihnachten hasst man sie ganz besonders, denn wem sonst hat man es zu verdanken, dass man jetzt hier im Dreck liegt und Todesangst leidet? »Merry Christmas« zeigt, wie dieser Wahnsinn des großen Tötens (elf Millionen Opfer!) Weihnachten 1914 für eine kurze Zeit plötzlich aufhört. Ein Weihnachtswunder an der Westfront, das tatsächlich stattfand. Regisseur Christian Carion entdeckte den Bericht davon zufällig in dem Buch »Batailles de Flandres et dArtois 1914-1918« von Yves Buffetaut. Darin fand er ein Kapitel »Das unglaubliche Weihnachten von 1914«. Es wird die Begebenheit erzählt, wie im deutschen Graben ein Tenor ein Konzert gibt und die französischen Soldaten applaudieren. Die drei diesen Frontabschnitt befehligenden Offiziere der deutschen, französischen und schottischen Truppen beschließen einen spontanen, auf Weihnachten befristeten Waffenstillstand. Und wo nicht mehr geschossen wird, man keine Angst mehr von dem Feind hat, kehrt schnell die normale Menschlichkeit ein. Erst besuchen sie sich noch mit formellen Delegationen, dann auch spontan, schließlich, essen, trinken und musizieren die, die sich bis eben im mörderischen Stellungskrieg gegenüber lagen. Soldaten tauschen Briefe und Kochrezepte aus, der Feind wird Mensch. Sie merken, sie sind sich so ähnlich! Schließlich gibt es auch einen gemeinsamen großen Gottesdienst im von Granaten zerpflügten Niemandsland. Das ist der Geist von Weihnachten, der Wille zu Versöhnung und Menschlichkeit. Es ist einen Moment lang, als ob Frieden wäre. Sogar ein Fußballspiel, eine Art Länderspiel der Fronttruppen, findet statt, die überall herumliegenden Leichen werden beiseite geräumt. Dann ist der Heilige Abend vorbei, der Krieg geht weiter. Können die, die sich eben so kennen gelernt haben, nun wieder voller Hass aufeinander schießen? Nein, hier hat die Vernunft über den Wahnsinn gesiegt. Man beschließt als erstes, die schon lange im Niemandsland liegenden Leichen zu bergen und zu beerdigen. Wieder aufeinander schießen? Die drei befehligenden Offiziere denken nicht daran und die Soldaten erst recht nicht. Man warnt sich fortan gegenseitig vor Artilleriebeschuss und bittet den Feind, der nun keiner mehr ist, solange in den eigenen Graben hinüber. Natürlich bleibt dieses hochverräterische Fraternisieren den Generälen nicht lange verborgen. Aber um den Fall nicht publik zu machen und weil man nicht ganze Kompanien standrechtlich erschließen lassen kann, entschließen sich alle drei Heeresführungen die Beteiligten stillschweigend abzuziehen und an andere Frontabschnitte zu verlegen. Die Offiziere werden degradiert. So gelang es allen Seiten für lange Zeit stillschweigend über diesen kleinen Frieden an der Westfront hinwegzugehen. Erst jetzt wird uns klar, was für ein Weihnachtswunder hier tatsächlich stattfand. »Merry Christmas« ist eine großangelegte französisch-deutsch-englisch-belgisch-rumänische Gemeinschaftsproduktion, gefördert mit Mitteln des Medienboards Berlin-Brandenburg. Leider meinte man, über diese unerhörte Geschichte der weihnachtlichen Frontverbrüderung hinaus die Liebesgeschichte zwischen dem Tenor Nikolaus Sprink (tenorhaft: Benno Fürmann), und der dänischen Sopranistin Anna Sörensen (vor allem hübsch: Diane Krüger) ins Zentrum des Films stellen zu müssen. An diesen Stellen bekommt »Merry Chistmas« dann einen Zug ins Hochglanzhafte, der mir fehl am Platze scheint. Das Ereignis des Films aber sind die drei Offiziere, gewiss keine Pazifisten, aber doch denkende und fühlende Wesen, die einen Rest von Ritterlichkeit in sich tragen, der sie dazu bringt, nicht wie blinde Befehls- und Kampfautomaten zu funktionieren. Da ist der junge französische Leutnant Audebert (Guillaume Canet), der Schotte Gordon (Alex Derns) und der ebenso junge deutsche Leutnant Horstmayer. Wie sich Daniel Brühl in diese Rolle eines harten Frontoffiziers hineinbegibt, wie präzise und differenziert er diesen spröden Charakter deutet, das beeindruckt. Eine Glanzleistung! Viele der Soldaten haben authentische Vorbilder, von denen Christian Carion gelesen hatte. So das des Soldaten, dessen Heimatdorf direkt hinter der Front im Feindesland liegt und der sich eines Nachts über die Frontlinie schleicht - zu einem Besuch zu Hause. Eine von allen Soldaten geliebte Katze wandert zwischen den feindlichen Gräben hin und her, Absurditäten eines Stellungskrieges. Tatsächlich wurde die Katze wegen »Spionage« exekutiert, aber das sehen wir nicht, obwohl es den Tatsachen entspricht (Carion schnitt die Szene). Manchmal ist die Realität eben zu irrsinnig, um im Film noch glaubwürdig zu wirken. Ähnlich wie die große amerikanische Verfilmung von Remarque »Im Westen nichts Neues«, die Anfang der 30er Jahre in die deutschen Kinos kam, spiegelt »Merry Christmas« jene Atmosphäre von blinder Kriegseuphorie, die im Alltag des Grabenkrieges schnell zur verzweifelten Ohnmacht wird. Sebastian Haffner schreibt in seinem Buch »Von Bismarck zu Hitler», dass beim damaligen Stand der Kriegstechnik die Verteidigung dem Angriff immer überlegen war: »Das gab dem Ersten Weltkrieg seinen bedrückenden Charakter eines Erschöpfungskrieges, eines immer wiederholten, strategisch unergiebigen Gemetzels.« Man sollte sie wieder lesen, die so wichtigen Bücher über den Ersten Weltkrieg von Remarque, Renn, Arnold Zweig, Barbusse oder Jünger. Da erfährt man dann, wie der jahrelange Grabenkrieg eine ganze überlebende Kriegsgeneration seelisch so deformierte, dass in Deutschland 1933 eine Hass- und Ressentimentpartei wie die Nazis zur Herrschaft gelangen konnte. Der Erste Weltkrieg war tatsächlich die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Aber das Besondere dieses Films ist, dass er uns nicht nur eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg erzählt, es zeigt uns den Albtraum aller notorischen Militärs: Soldaten, die sich mit dem Feind mitten im Krieg versöhnen. Eine wahre Weihnachtsgeschichte, ein Traum, den man träume...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.