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Die kalte Wüste der Erinnerung
Richard von Schirach über seinen Vater Baldur von Schirach
Es gibt eine kalte Wüste der Erinnerung an eine Zeit, die für nicht wenig Überlebende die Hölle war. Heute überschwemmen uns Lügen, Gewäsch über diese gar nicht allzu ferne Vergangenheit, Bücher und Filme über Hitler, seine Helfer und Henker, teils von den einstigen Gefolgsleuten selbst gefertigt oder von beflissenen Routiniers, die es fast zu industrieller Geschäftigkeit mit stattlichen, teils staatlichen Werbe-Etats bringen. Frühere Scham und Zurückhaltung sind längst dahin, jetzt trumpft man im einig Vaterland schon wieder mit Rechthaberei und Selbstmitleid auf und hat nicht nur im Nazireich, sondern anderswo sogar noch schlimmere Diktaturen, Verbrecher, verbrecherische Ideologien ausgemacht. Da merkt man schon auf, wenn ein Buch wie das von Richard von Schirach über seinen Vaters erscheint, das aus dem Rahmen der üblich gewordenen Geschichtsklitterungen fällt und zumindest kritische Distanz wahrt.
Dieser Schirach-Vater war einer der bekanntesten Repräsentanten des Nazistaats, Hitlerjugendführer, im Krieg Gauleiter von Wien und schließlich Reichsverteidigungskommissar bis zur letzten Stunde. Im ersten Nürnberger Prozess stand er vor genau 60 Jahren als einer der Hauptangeklagten vor Gericht, bekannte sich dort zwar zur Jugendverführung und Erziehung kriegerischer Gewalt, vermochte jedoch nicht die Deportation von fast 2000 Juden aus dem Gau Wien in die Ghettos und KZ als mindestens ebenso große Schandtat einzugestehen.
Schon als Gymnasiast geriet Baldur von Schirach in den Dunstkreis Hitlers und widmete ihm schwelgerische Verse: »Ich war ein Blatt im endlosen Raum, nun bist du Heimat mir und bist mein Baum ...« Es wurde bald ein bedrohlicher Sturmlauf daraus: »Unsere Fahne flattert uns voran. In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not. Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot... Die Fahne ist mehr als der Tod...« Im Lesebuch von 1941, das ich noch aus meiner Schulzeit besitze, finden sich acht seiner »Gedichte«, während von Hölderlin, Lenau, Uhland und Freiligrath nur je eines darin Aufnahme fand, vom jüdischen Heine nicht ein einziges. Damals mussten Schirachs Werke nicht nur vordringlich auswendig gelernt werden, in ihrem Takt ging der Marsch noch durch die zertrümmerten Städte - und wehe diese Kampf-und-Tod-Choräle wurden nicht laut genug gebrüllt.
Es überrascht, dass die Familientradition der Schirachs bis ins 18. Jahrhundert Nordamerikas zurückreicht, einer der Vorfahren »das heilige Dokument« der USA, die Unabhängigkeitserklärung, mitunterzeichnet hat, ein anderer Präsident des späteren Kontinentalkongresses und dazu noch Gründer des ersten Botanischen Gartens Amerikas wurde. Der Vater des Fahnenlied-Dichters war hingegen ein Deutscher durch und durch, ein schneidiger Rittmeister beim kaiserlichen Gardekorps Nr. 1 in Berlin, der plötzlich seine Theaterambitionen entdeckte, die Militärkarriere aufgab und seltsamerweise Gönner fand, die ihm die Leitung und Generalintendanz des Weimarer Hoftheaters übertrugen.
Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg sammelten sich in der Goethestadt schon völkische Eiferer und Antisemiten. Verstärkt noch wurde diese Tendenz, als der Krieg verloren ging, der Kaiser und der Weimarer Großherzog Abschied nehmen mussten, mit ihnen auch der Generalintendant Schirach, der aber seine prächtige Villa neben dem Hoftheater behielt. Ein paar Jahre später empfing er dort Hitler. In Goethes Theater wurde 1925 der erste große Parteitag der NSDAP mit Fahnenweihe, allem Brimborium und dem Vortrag zweier Sonette durch Baldur von Schirach inszeniert, der noch Gymnasiast war. Hitler lud den jungen Mann, der ihn mit seiner Lyrik umschwärmte, nach München und in die Naziparteizentrale ein.
Das Buch von Richard von Schirach gibt immerhin eine Ahnung davon, wie sein Großvater, Vater, die ganze Familie, die Stadt und schließlich das Land in den Sog des Faschismus gerieten, freilich ohne die wirklichen Hintergründe und gesellschaftlichen Machtspiele auch nur zu benennen. Im Kreis dieser Familie zeichnete sich jedoch manches deutlich ab, was auf das mörderische Geschehen zutrieb. In München geriet der junge Schirach, der Germanistik studierte, in den engeren Kreis um Hitler mit Ludendorff, Göring, Heß, Röhm, alte Haudegen des verlorenen Krieges, Freikorpsoffiziere, Kronprinzen und Prinzen aus Preußen, Bayern und Sachsen - nationaler Klüngel übelster Art.
Sobald Schirach volljährig war, trat er in die NSDAP ein, 1928 wurde er Führer des Nazi-Studentenbundes und erhielt auch gleich den Rang eines Gruppenführers der SA. Er ging bei Hitler und dessen Freund, dem Leibfotografen und Verleger Hoffmann, ein und aus, lernte dort dessen Tochter Henriette kennen, die bald darauf seine Frau wurde. Hitler war Trauzeuge. Das war kurz vor der Machtübernahme durch die Nazis. Da wurde Baldur von Schirach Reichsjugendführer und als jüngstes Mitglied des Reichstages von Hitler mit Handschlag begrüßt: »Heil, Herr Abgeordneter!« Dafür veranstaltete er Aufmärsche, »Führerschwüre« und verkündete das nazistische »Manifest der Jugend«. Und mit seinem Schwiegervater Heinrich Hoffmann gab er ein protziges Bilder- und Jubelbuch nach dem anderen heraus: »Der Triumph des Willens. Kampf und Aufstieg Adolf Hitlers und seiner Regierung«, »Jugend um Hitler«, »Hitler wie ihn keiner kennt«.
Über Schirach berichtete dessen Frau nach dem Krieg in einem Buch (»Der Preis der Herrlichkeit«), beschönigte vieles, bedauerte manches und verlor sich trotz besseres Wissens in Verharmlosung. Der Sohn, Jahrgang 1942, konnte sich bei der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte des Vaters nicht auf eigenes Erleben stützen, war auf Berichte aus zweiter Hand angewiesen, nicht alle sind sicher belegbar, so die angebliche Kritik des Hitlerjugendführers an den antisemitischen Hassparolen von Goebbels und den Pogromen der »Reichskristallnacht«, bei der er seinen Unterführern die Teilnahme verboten haben soll. Er sei auch bei Hitler vorstellig geworden und in Ungnade gefallen, als seine Frau bei einem Besuch im besetzten Holland Zeuge der Verhaftung und Verschleppung jüdischer Frauen wurde ...
Der Autor war erst drei Jahre alt, als sein Vater für zwei Jahrzehnte hinter Gittern verschwand. Die Mutter ließ sich scheiden. Sie wurde mehrmals festgenommen, verhört, zeitweilig von den Amerikanern in Haft genommen. Zweimal im Jahr durfte man den Vater für eine Stunde im Spandauer Gefängnis besuchen. Es blieb bei Monologen des Vaters, Belehrung und Indoktrination. Und dann der Schock, als der Vater 1966 aus der Spandauer Zitadelle entlassen wurde: »Er wollte die kalte Wüste seiner Erinnerungen nicht aufsuchen.« Unmengen von Briefen und Telegrammen, Blumensträußen und Geschenkpaketen kamen ins Haus: Grüße und Glückwünsche von Gesinnungsgenossen oder einfach »lieben und netten Landsleuten«, auch aus Bonner Amtsstuben, Künstlerkreisen, von vielen Männern und Frauen, die ihren inzwischen verklärten Jugenderinnerungen nachhingen. »Bester Kamerad!«, »Verehrter Jugendführer!« oder »Hochverehrter Herr Minister!« schrieben sie, beglückwünschten ihn zur »Heimkehr aus Unrechtshaft«. Die Presse hat ihn seit der Freilassung verfolgt, der »Stern« bot das erwünschte Honorar, stellte eine Sekretärin und einen einstigen Reichsrundfunkjournalisten zur Abfassung seiner Lebensbeichte. »Als passiver Zuhörer und Beobachter der Szenerie fühlte ich mich unbehaglich und wollte nicht, dass mein Schweigen als Zustimmung requiriert wird«, vermerkt der Sohn. Die »Beichte« erschien unter dem provokanten wie verkaufsträchtigen Titel: »Ich glaubte an Hitler«.
Der Sohn präsentierte wenige Jahre später, 1973, die deutsche Ausgabe des Aufsehen erregenden Buches »Pu Yi: Ich war Kaiser von China«, das er mit Mulan Lehner übersetzt hat. Für Richard von Schirach mag gerade das Schicksal des Mannes des fernen Ostens eine Chance zur ...
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