Kein Paradies auf Erden
»Hadda« überschreitet Grenzen im Heimathafen Neukölln
Ein sensibles wie brutales Thema wurde als jüngste Produktion der Lila-Risiko-Schachmatt-Reihe im Heimathafen Neukölln dramatisiert. In der deutschsprachiger Erstaufführung »Hadda - Ihr Leben eine Grenzüberschreitung« geht es um den Weg einer Frau zur Selbstmordattentäterin.
Die Lila-Risiko-Schachmatt-Reihe bringt in enger Zusammenarbeit mit den Autoren zeitgenössische Stücke aus der Theaterszene der arabisch sprechenden Welt nach Berlin und will zeigen, dass die Kulturen von Morgenland und Abendland enger und länger miteinander verbunden sind, als uns bewusst ist. Sie begann vor zwei Jahren mit den Inszenierungen »603« von Imad Farajin aus Palästina und »Rückzug« von Mohammad Al Attar aus Syrien. Vor einem Jahr folgte »Hassan Leklichee« von Jaouad Essounani aus Marokko. Weitere Produktionen von Autoren aus Syrien und Libanon sind geplant.
Mit »Hadda« kam das zweite Stück des Marokkaners Jaouad Essounani in Neukölln auf die Bühne, inszeniert von Lydia Ziemke und Ensemble. Sein Thema ist wiederum, wie ein Mensch von seiner Umwelt zum einen kaum wahrgenommen, zum anderen jedoch von ihr zerstört wird. Fremde macht sich breit. Bilder entstehen, die sich nicht alle entschlüsseln lassen. Darauf kommt es auch nicht an. Vielmehr zählen Emotionen, wenn Hadda ihren Lebensweg (in der Übersetzung von Andreas Bünger und Jaouad Quassou) beschreibt.
Das moderne Phänomen von Selbstmordattentaten als Erweiterung des islamischen Märtyrerbegriffs - im Programmheft fundiert beschrieben - wird auf die persönliche Ebene gezogen. Hadda wählt diesen Weg, ohne fremden Auftrag, aus innerer Zerrissenheit. Das Versprechen, bei einer solchen Tat mit dem ersten Blutstropfen von allen Sünden freigesprochen zu werden, dem Verhör im Grab durch die Frageengel Munkar und Nakir und dem islamischen Fegefeuer zu entgehen, nimmt von ihr mehr und mehr Besitz. Dafür ist sie bereit, die Grenze zum Tod zu überschreiten.
Hadda empfindet ihr Leben, das durch Naivität, fehlende Aufklärung und mangelnden Schutz einen anderen Lauf nahm, als sie sich erträumte, als misslungen und sündig. Da will sie raus mit einem Koffer voller Sprengstoff. Sie nehme den Bus zum Allmächtigen, sagt sie. Der Naivität ist sie schon lange entkommen. Sie ist klug, hat Marx gelesen, den sie als Prophet sieht. Was er wollte, sei eine Art Paradies auf Erden gewesen. Der marokkanische Autor ebnet hier zum besseren Verständnis mit diesem Gleichnis etwas den Weg ins Europäische. Über das Anklingen des Trauermarsches »Unsterbliche Opfer«, der sicher der Regie zuzuschreiben ist, ließe sich streiten.
Die Schauspieler, die sich hier in die Fremde begeben, übersetzen die Bilder bewusst nicht. Das ist nicht Zweck der Sache. Sie haben an der Stückentwicklung mitgearbeitet und bringen besondere Biografien neben ihrem Können ein. Javeh Asefdja ist eine kraftvolle Schauspielerin, die durchaus sogar hier Humor erkennen lässt. Ihre Vita verweist auf Fähigkeiten im Kampfsport bis hin zum Feuerspucken. Wie sie ist auch Alois Reinhardt, der ansonsten beim »dt« in Göttingen engagiert ist, von Anfang an bei der Lila-Risiko-Schachmatt-Reihe dabei. Reinhardt bringt sehr schöne tänzerische Elemente ein. Vom Gesang kommt Houwaida Goulli, bleibt dafür meistens im Hintergrund.
Alle drei sind Hadda, Goulli und Reinhardt dazu die Selbstin. Eine Parallelrolle, die der Autor zum Vermitteln der Zerrissenheit Haddas schuf. Sie befragt sich. Ein zerschnittener Lebensbaum ist Mittelpunkt der Bühne von Claire Schirck. Wirkungsvoll, wie die Baumscheiben sich verteilen und stapeln lassen.
Wieder am 22. und 23.3., 19.30 Uhr, Heimathafen Neukölln (Studio), Karl-Marx-Str. 141. Kartentelefon: (030) 56 82 13 33.
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