Die beste aller Kafka-Welten

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass der Berliner Großflughafen niemals fertig werden wird, dürfte mittlerweile Allgemeinwissen sein. Jemanden wie Hartmut Mehdorn die Aufsicht über den organisierten Baupfusch am Flughafen zu übertragen ist ungefähr so, als wenn man Lothar Matthäus zum Kardinal weihen würde; man bräuchte sich in diesem Fall auch nicht darüber zu wundern, dass das Haremswesen alter dekadenter Zeiten wieder Normalfall in der römischen Kurie würde.

Berlin ist, das weiß jeder, der einmal auf einem S-Bahnsteig stand, eine Stadt wie aus einem Roman von Franz Kafka: Man fragt sich ständig: Bin ich verrückt oder sind es die anderen? Wo so viel Irrsinn die Politik ergriffen hat, brauch man sich nicht zu wundern, dass auch der einfache Bürger langsam durchdreht. Gestern wurde an dieser Stelle über einen Beinahe-Aufstand im öffentlichen Bahnverkehr dieser Stadt berichtet. Wir fassen das Geschehen noch mal kurz zusammen: Ein Fahrgast empört sich lauthals über die reichliche Verspätung des Zuges, schreit seinen Unmut in die Bahnsteigluft. Natürlich erhält er keine Antwort, denn den Bahnsteigbeamten haben die Berliner S-Bahn-Betriebe fast überall abgeschafft. Womit - nebenbei bemerkt - auch die These des Genossen Lenin widerlegt wäre, dass es in Deutschland zu keiner Revolution kommen könne, weil die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte lösen würden, bevor sie den Bahnhof stürmen. Wie sollen die Deutschen, in diesem Fall die Berliner, auch eine Karte lösen, wenn es nicht einmal mehr einen Bahnsteigbeamten gibt? Wahrscheinlich würde Lenin, lebte er noch, seine These heute so formulieren: In Deutschland könne es zu keiner Revolution kommen, weil die Deutschen auf dem Bahnsteig eine Bahnsteigkarte zwar lösen wollen, es aber nicht können, weil es keine Bahnsteigbeamte gibt und die Deutschen deshalb unschuldige Automaten anbrüllen.

Doch zurück zum beschriebenen Vorfall. Ob letztlich der Empörte mit seinem Wutanfall eine kleine Bahnsteigrevolution anzettelte, konnte der geschätzte Kollege Hübner nicht mit Bestimmtheit sagen, denn er musste in seinen Zug steigen. Ich weiß es auch nicht, ich war ja nicht dabei. Ich vermute aber, dass der frustrierte Passagier noch heute durch die Stadt irrt auf der Suche nach einer imaginären Autorität, die bereit ist, seinen Unmutsäußerungen zuzuhören.

Vielleicht ist er mir dieser Tage sogar begegnet. An einem sonnigen Frühlingstag (d.h. Frühling war es nur nach dem Kalender, in der besten aller Kafka-Welten herrschte noch tiefster Winter) radelte ich zur Arbeit. An einer Straßenecke trat ein junger Mann auf die Straße, streckte die Hand nach oben und rief mir fragend zu: »Sind Sie ein Taxi?«

Natürlich bin ich kein Taxi. Ich weiß das. Da ich mir aber nicht sicher sein konnte, dass der junge Mann vielleicht doch die Inkarnation des Schriftstellers aus Prag ist, antworte ich sicherheitshalber »Nein, ich bin kein Taxi« und fuhr weiter. Was aus dem jungen Mann wurde? Ich weiß es nicht. Vielleicht ging er zum nächsten S-Bahnhof und versucht dort eine Bahnsteigkarte zu lösen.

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