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Eintauchen in den Alltag

Kanzlerkandidat Peer Steinbrück überzeugte die Delegierten und will vieles besser machen

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Verabschiedung des Wahlprogramms war beinahe nur noch Formsache. Erste Aufgabe des Parteitags der SPD in Augsburg war es, Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kanzlerkandidaten auszuräumen.

»Du meine ... – oh, jetzt muss ich aufpassen!« Als Peer Steinbrück an diesem Punkt angekommen war, hatte er längst gewonnen. Unüberlegte Äußerungen waren nicht mehr das Problem nach einer Stunde Rede, waren es sowieso nicht an diesem Sonntag. »... du meine Güte«, vollendete er schließlich seinen Satz, ein »Du meine Fresse« hätte ihm auch niemand übel genommen. Dass Steinbrück »da vorn undifferenzierte Formulierungen ablassen« könnte, wie er selbst das einsetzende Lachen deutete, hatte ohnehin niemand erwartet. Aber der Kandidat kokettiert immer noch gern mit seinem Ruf, Klartext zu reden und und dabei auch mal danebenzuschießen. »Verlasst euch drauf, das werde ich mir nicht ganz abgewöhnen!«

Worte sind nicht nur Schall und Rauch, wie viele Genossen in den vergangenen Wochen gern zu Steinbrücks Entlastung vorgebracht haben. Ihm persönlich wird angelastet, dass die SPD in den Umfragen mit zunehmendem Abstand hinter der Union herhechelt. Unbedachte oder auch unbedacht ehrliche Äußerungen fielen ihm aus dem Mund und der SPD auf die Füße. Über Wein, der nicht zu billig sein dürfe, Clowns, die in Italien Wahlen gewinnen oder ein zu niedriges Kanzlergehalt fabulierte Steinbrück. Mit der Folge, dass ausgerechnet beim Thema soziale Gerechtigkeit die Wähler ihm zuletzt weniger Kompetenz zutrauten als der Bundeskanzlerin.

Auch wenn Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier am Nachmittag wiederholte, dass es nicht darauf ankomme, Umfragen zu gewinnen, sondern vielmehr auf die Wahlergebnisse – die verbale Pleitenserie des Kandidaten ist nicht spurlos an der Partei vorübergegangen.
Das angeblich schiefe Bild eines Pannen-Peer geradezurücken, das schien deshalb fast die wichtigste Aufgabe des Außerordentlichen Bundesparteitags der SPD zu sein. Und gleich mit den ersten Worten wickelte der Kandidat seine Genossen ein. »Ich beginne mit dem Schluss: Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.« Nur um nicht die kürzeste Kandidatenrede der Geschichte zu halten, redete Steinbrück nach endlosem Beifall schließlich weiter.

»Das ist sozialdemokratische Politik«, hämmerte er den reichlich 600 Delegierten ein. Kein bisschen abgehoben und elitär: Schon vor Steinbrück hatte Parteichef Sigmar Gabriel mitgeteilt, die SPD wolle »ganz tief eintauchen in den Alltag der Menschen – Politik von oben, das sollen andere machen«. Ganz tief blickte nun auch der Kanzlerkandidat in den Alltag der Menschen, um zu zeigen, dass er anders ist als die Kanzlerin, die SPD anders als die CDU.

Jeder einzelne Wähler, auf den Steinbrück hofft, durfte sich persönlich angesprochen fühlen. Die Drogerieangestellte, die »mit der SPD« 400 Euro im Monat mehr verdienen werde. Die Frau in der Pflege, »nennen wir sie Britta«, die jetzt acht Prozent weniger Gehalt kriegt, nur weil sie eine Frau ist. Die Unternehmensgründerin aus Leipzig, die Steinbrück auf seinen Reisen durchs Land getroffen und zum Parteitag eingeladen hat. Oder Baran, ein junger Mann aus Stuttgart, der sich bald zwischen türkischer und deutscher Staatsangehörigkeit entscheiden soll und das nicht will. »Lieber Baran, du hast die SPD auf deiner Seite«, so Steinbrück und Baran lächelte ihm dankbar auf der großen Videoleinwand zu. Auch fünf von elf Olgas folgten Steinbrücks Einladung zum Parteitag. Ihr Wohnprojekt Olga – »Oldies leben gemeinsam aktiv« – müsse von der SPD unterstützt werden, legte sich der Kandidat ins Zeug. Steinbrück war ganz bei den Leuten und entrollte zugleich mühelos die großen Linien der geplanten Krisenpolitik seiner künftigen Regierung.

Überhand habe in den letzten Jahren eine marktradikale Einstellung gewonnen. Diese Einstellung führte nach Steinbrücks Beobachtung in die größte Krise seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, Gewinne seien privatisiert, Verluste sozialisiert worden. Elf Regierungsjahre mit SPD-Beteiligung allerdings spielen in seinen Analysen keine größere Rolle. Im Gegenteil: Deutschland sei es »immer gut gegangen, wenn Sozialdemokraten regierten«. Ein klein wenig Selbstreflexion klingt nur selten an: »Auch wir Sozialdemokraten haben uns diesem Denken vielleicht nicht genügend entgegengestellt.«

Mit den Grünen ist sich die SPD hierin jedenfalls einig. Als erste Vorsitzende auf einem SPD-Parteitag sprach die Augsburgerin Claudia Roth zu den Delegierten und freute sich »narrisch« darüber. »Das Land tickt rot-grün«, zeigte sie sich überzeugt. Deshalb müsse es »genau so wieder regiert werden«.

Nach Steinbrücks Rehabilitierung durch die Delegierten ging es dann nur noch am Rande um das Eigentliche, das Programm. Als es abgestimmt wurde, hatten sich die Reihen gelichtet, die Delegierten strebten dem Bahnhof zu. Dabei legte die SPD hier das Ergebnis eines vierjährigen Debattenprozesses vor, der nach dem Desaster bei der Bundestagswahl von 2009 mit der Ankündigung von Parteichef Sigmar Gabriel begonnen hatte, die Partei habe jetzt die Aufgabe zur Neuorientierung, denn sie habe sich von ihren Grundüberzeugungen entfernt.
So weit links wie jetzt sei die Partei seit vielen Jahren nicht gewesen, so lautet die weitgehend übereinstimmende Diagnose des Programms. Schleswig-Holsteins Landesvorsitzender Ralf Stegner sprach in Augsburg von einem »fortschrittlichen Programm, wie wir lange keines hatten«. Zugleich registrieren Beobachter mit einigem Erstaunen, dass die Parteilinke, so erfolgreich sie ist, aus dem Tritt zu geraten scheint. Trotz des Erfolgs der Demokratischen Linken 21 mit Hilde Mattheis als ihrer Vorsitzenden hat sich vor einiger Zeit neben ihr ein »Berliner Kreis« gegründet, der auch als machtpolitische Beschränkung der DL 21 verstanden werden kann. Mattheis kam es am Sonntag zu, dem Kanzlerkandidaten ihre Anerkennung auszusprechen: »Peer, habe ich dich eigentlich schon mal gelobt? Dann tue ich das jetzt.«

Die Sache mit der Glaubwürdigkeit. Auf dem Parteitag der SPD in Augsburg kam sie zur Sprache, wenn es darum ging, den politischen Gegner anzugreifen. Mit sich selbst ist die SPD hingegen im Reinen. Gegen den Neoliberalismus der letzten Jahre trete man im Bundestagswahlkampf entschlossen an, verkündete Parteichef Sigmar Gabriel. Viel sei in Deutschland und in Europa aus dem Lot geraten. Die SPD hingegen: Fels in der Brandung. Auch auf der Losung des Wahlkampfes »Das Wir entscheidet« besteht sie, obwohl ausgerechnet eine Leiharbeitsfirma diese seit langem verwendet. Das Programm selbst dient der Parteispitze als Begründung. Es sei im Dialog mit Bürgern – auch ohne SPD-Parteibuch – auf 350 Veranstaltungen entstanden, 40 000 Vorschläge und Kritiken wurden bearbeitet. Luxus einer Oppositionspartei – in der Regierung wird solche Leiharbeit eher zum Problem.

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