Ein furchtbares Schauspiel

Vor 200 Jahren: Die Schlacht von Austerlitz - Der Anfang vom Ende des Heiligen Römischen Reichs

  • Helmut Bock
  • Lesedauer: 8 Min.
Besorgt und ratlos schreibt Friedrich Schiller zum »Antritt des neuen Jahrhunderts« (1800): »Wo öffnet sich dem Frieden, wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?/ Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,/ Und das neue öffnet sich mit Mord .../ Zwo gewalt'ge Nationen ringen/ Um der Welt alleinigen Besitz;/ Aller Länder Freiheit zu verschlingen,/ Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.« Poseidons Dreizack ist Wahrzeichen der Meeresbeherrschung, der Blitz, die Waffe des Gottes Zeus. Wenn auch mit antiken Metaphern, so urteilt der Dichter durchaus nach realistischem Weltverständnis. Es sind die bürgerlichen Staaten England und Frankreich, die er als Verderber von Aufklärung und Revolution, von Freiheit und Gleichheit und als Rivalen kriegerischer Welteroberung bloßstellt. Das britische Inselreich spielt in allen Koalitionskriegen um 1800 die Rolle des Drahtziehers und Finanziers: Mit seinen Flotten die Meere beherrschend, benutzt es die feudalen Regime des Konti-nents als Festlandsdegen, um Frankreich, den aufsteigenden Konkurrenten, zu bekämpfen. Londons Pfeffersäcke und Kolonialisten missbilligen den Frieden von Amiens (1802) und fordern die Wiederaufnahme des Kriegs: »Wir stellen Frankreichs Handel wieder her und berauben uns des Alleinhandels ... Lassen wir den Seekrieg fortdauern, so dauert auch unser Handelsmonopol fort!« England schürt die Konterrevolution gegen Frankreich. Seine Kolonialkriege, Freibeuterei auf den Meeren, Blockade gegen französische Häfen sind der spezifisch britische Anteil an dem Konflikt, der sich zur absoluten Unversöhnlichkeit zuspitzt. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, nahe dem Hafen Boulogne, zieht derweil Kaiser Napoleon eine Interventionsarmee zusammen, treibt er mit aller Kraft den Schiffsbau voran. Er will an der britischen Südküste landen und den aufs Neue entbrannten Krieg ein für allemal entscheiden - »mit der Einnahme Londons und der Bank von England«. Indes ist auch Premierminister William Pitt d. J. fieberhaft tätig. Er schickt seine Diplomaten an die Höfe in Petersburg, Wien, Stockholm, Neapel, wo sie Kaiser und Könige mit englischen Goldpfunden ins Bündnis locken. So gewinnt er Russland und Österreich zur dritten Koalition gegen Frankreich. Im Hochsommer 1805 ahnt Napoleon, dass die Schlacht gegen den Hauptfeind England auch diesmal nicht auf der Insel, sondern woanders geschlagen wird: »Bin ich in 14 Tagen nicht in London, dann muss ich Mitte November in Wien sein!« Der österreichische General Mack drängt mit seiner Armee gegen Bayerns Grenze, und eine russische Heeresmasse wälzt sich langsam der Donau zu. Augenblicklich lässt Napoleon sein Landungsprojekt fallen. Er diktiert ein Bündel Befehle, womit er seine Marschälle und Armeekorps nach Süddeutschland beordert. London ist gerettet - Wien soll büßen! In kaum 20 Tagen gelangen seine Elitetruppen vom Kanal zum Oberlauf der Donau. Getreu der Devise: »Getrennt marschieren und vereint schlagen.« Nicht ganz so perfekt verhält sich Paris. Großhändler und Industrielle, die die allzu kurze Friedensfrist für gute Geschäfte nutzten, sind nun in Sorge, wie viel Marktstörungen und Verluste dieser erneute, dritte Krieg bringen werde. Man murrt - leise und vorsichtig, indes die Spitzel des Polizeiministers Fouché umherschleichen. Plötzlich peitschen zwei Nachrichten die Massenstimmung zum Jubel empor - gleich darauf in den tiefen Abgrund des Zweifels. Am 20. Oktober hat Mack, der in der Festung Ulm mit 32 000 Mann eingeschnürt ist, kapituliert. Einen Tag später haben die Engländer unter Befehl des Admirals Nelson die französisch-spanische Flotte bei Trafalgar, westlich der Straße von Gibraltar, vernichtend geschlagen. Im ganzen 19. Jahrhundert wird nun Britanniens Seemacht ungebrochen sein. Napoleons Landtruppen hingegen marschieren auf dem rechten Ufer der Donau bis vor die Tore Wiens, das sich am 13. November kampflos ergibt. Der Imperator residiert und schläft jetzt im Schloss von Schönbrunn. Man hat ihn in den Wochen zuvor aber allgegenwärtig und an Lagerfeuern gesehen - in der Uniform eines gemeinen Soldaten, den Hut eingedrückt und ohne Kokarde, den grauen Mantel mit zerschlissenen Ellbogen und angesengten Schößen. Der Purpur, der ihn in Paris umgibt, ist abgetan. Kaiser Franz, der nach Mähren flieht, bietet einen Waffenstillstand an und wird abgewiesen. Doch mit der dreisten Lüge, die Waffenruhe sei soeben beschlossen, täuschen die Franzosen ein Kommando der Österreicher, das die einzige noch intakte Donaubrücke sprengen soll. Die zögernde Wache wird überrumpelt, die Taborbrücke durch Handstreich genommen, und sogleich dirigiert Napoleon seine Truppen auf die nördliche Flussseite. Er bedroht die kleine Armee des Generals Kutusow, die dem Gros der Russen vorausmarschiert ist und jetzt entweichen muss. Dass in Russland der Julianische Kalender mit 13-tägiger Datenverschiebung gegenüber der allgemein gültigen Gregorianischen Zeitrechnung zählt, ist den Österreichern entgangen und hat die militärischen Kooperationen verwirrt. Nirgends haben Koalitionstruppen vereint und erfolgreich den Franzosen die Stirn geboten. Doch am 1. Dezember 1805 formieren sich die Russen und der Rest österreichischer Truppen mit 85 000 Mann östlich von Brünn, nahe dem Dorf Austerlitz, zur Schlacht. Kutusow würde gern auf Zeit spielen und den Rückzug verlängern - bis auch Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm III. dem Zaren am Grab des »großen Friedrich« zu Potsdam die Treue schwor, den Feldzug nach Böhmen eröffnet. Zar Alexander hingegen glaubt Napoleons Schlagkraft schon jetzt erheblich geschwächt. Er favorisiert den Plan der Österreicher: die Franzosen im Süden zu umgehen, sie dort in Flanke und Rücken anzugreifen, um sie nach Norden zu treiben - womöglich in die würgenden Arme der Preußen. In der Tat verfügt Napoleon nicht mehr über sämtliche Streitkräfte, sondern nur noch über 50 000 Mann. Er baut auf List und bittet den Zaren um Verhandlungen, mimt den Zauderer. Während er die Verbündeten ungehindert die Pratzener Höhen hinauf lässt, scheint er seine Truppen in der ungünstigen Niederung zu belassen, seinen südlichen Flügel sogar ängstlich zurückzuziehen. Da entscheidet der Zar für Angriff. Der 2. Dezember ist der erste Jahrestag der Kaiserkrönung Napoleons. Am frühen Morgen beobachtet dieser mit Genugtuung, wie große Kolonnen des Gegners nach Süden ins Tal hinuntersteigen, um seine Flanke zu umfassen. Er selbst aber hat dort die eigenen Truppen seit dem Vortag auf rückwärtige Hügel postiert, denen Moräste, Fischteiche, kleine Seen vorgelagert sind. Auch ist in der Nacht Verstärkung gekommen, so dass er die bedrohte Flanke durch das Korps des Marschalls Davout sichern kann. Während seine Stellung einen konzentrischen Halbkreis bildet, in dem die geballte Kraft der Armee zum massiven Gegenschlag lauert, dehnt der seitwärts gerichtete Vormarsch der Russen die Front der Verbündeten weit auseinander. Die französischen Generäle erblicken ihre Chance, drängen den Kaiser, das Signal zum Angriff zu geben. Der aber entgegnet mit stoischer Ruhe: »Wenn der Feind eine falsche Bewegung macht, meine Herren, müssen wir uns hüten, ihn dabei zu stören. Wir wollen 20 Minuten warten.« Kaum ist die Frist abgelaufen, krachen Gewehrsalven, donnern Geschütze. Die Russen greifen den Flügel an, verbeißen sich in das Korps Davouts, das hartnäckig widersteht. Jetzt können der Zar und Kutusow ihre Frontbewegung nicht mehr korrigieren - jetzt gibt Napoleon das Zeichen zum Angriff. Und in derselben Stunde erhebt sich über den Wolken die Sonne. Die Offensive brandet die Pratzener Höhen hinauf, stößt in das feindliche Zentrum, wo die Nahtlinie zwischen den Truppen der Russen und Österreicher dünn, sogar lückenhaft geworden ist. Sie schlägt und treibt den Feind in wirren Haufen zurück. Kutusow wird verwundet. Der Zar und Kaiser Franz suchen ihr Heil in der Flucht. Den Sieg im Zentrum krönt Napoleon durch eine Schwenkung nach Süden, in den Rücken der russischen Angriffstruppen. Von vorn und von hinten eingekeilt, flüchten sie über die leicht vereisten Moräste und Teiche, werden aber von mordsüchtiger Artillerie beschossen, so dass Tausende elend zugrunde gehen. Mittags zwei Uhr haben die Franzosen gesiegt. Wieder einmal hat sich der strategisch-taktische Grundsatz bewährt: im entscheidenden Augenblick und am entscheidenden Ort stärker als der Gegner zu sein. Napoleon zieht triumphierend Bilanz: »Die Schlacht von Austerlitz ist die allerschönste von allen meinen Schlachten. 45 Fahnen, mehr als 150 Geschütze, die Fahne der russischen Garde, 20 Generale, 30 000 Gefangene, mehr als 20 000 Tote: ein furchtbares Schauspiel!« Bemerkungen, dass der Krieg »furchtbar« sei, wird sich Napoleon mit den Jahren abgewöhnen. Auch die eigenen Kämpfer müssen für seine Siege bluten, diesmal mit rund 2 000 Toten und 7 000 Verwundeten. Den Überlebenden wird zugemutet, sich am Tagesbefehl ihres selbstbewussten Strategen zu erfreuen: »Soldaten, ich bin mit Euch zufrieden.« Und im fernen Paris rühmt man den Kaiser wie einen Gott. Die französische Nationalhistorie wird diese Schlacht unter dem schönfärbenden Begriff »Sonne von Austerlitz« erzählen - ganz im Gegensatz zum düsteren Waterloo. Und trotz Einheits- und Friedensbedürfnis der EU: Zum 200. Jahrestag verzichtete Frankreich nicht, den »Herrn der Schlachten« unter dem Signum »Austerlitz« und vor strahlendem Sonnenkranz auf einer 55-Cent-Briefmarke zu verewigen. Das tausendjährige Kaiserreich muss territoriale Umwälzungen hinnehmen, die im folgenden Jahr zu seinem endgültigen Zusammenbruch führen. Paris und London repräsentieren den epochalen Dauerkonflikt und den Krieg, den die Zeitgenossen hinfort mit der Allegorie eines Zweikampfes zwischen Tiger und Hai bezeichnen: der stärksten Landmacht und der mächtigsten Seemacht. Ein Konkurrenzkampf bürgerlicher Staaten, von völkerrechtsfeindlicher Willkür, der nicht nur Europa, auch überseeische Gebiete in seinen gewaltsamen Strudel reißt.

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