Idee des »Dr. Taille«

Leipziger Ski-Professor Fritz Reichert wird 80

  • Jörg Rückmann
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
»Der Einfluss der Skiform auf die Richtungsänderung in der Abfahrt« - so lautet die Dissertation von Fritz Reichert, geschrieben im Jahr 1956. Auf einhundert Seiten wird bis ins letzte Detail erklärt, was die Skifirmen in den neunziger Jahren als Sensation verkaufen: Carving. Carving vor 50 Jahren? Carving in der DDR, wo der alpine Sport später stiefmütterlich behandelt wurde? Warum dauerte es über 40 Jahre, bis sich diese Skiform durchgesetzt hat? Erfunden? Nein, erfunden habe er nichts, sagt Fritz Reichert, der am Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert. Er, den man später »Doktor Taille« nennt, habe nur Vorhandenes weiterentwickelt. Das Neue am Carving sei nur der Name. Tatsächlich hat die Taillierung unserer modernen Ski eine lange Geschichte. Sie beginnt 1861 in der norwegischen Gemeinde Morgedal. Als »Urvater« von Race-, Fun- und Allround-Carver gilt Sondre Norheim. Er war mit seinen Brettern unzufrieden und wollte, dass sie drehfreudiger werden. Mit einer Säge kürzt er die Ski auf 2,40 m und schnitzt die Seiten zum leichten Bogen. Der Erfolg: Norheims neue Bretter fuhren viel leichter um die Kurve als die mit parallelen Kanten. Die heutigen modernen Alpinski sind zwar kürzer, breiter, schicker und aus Hightech-Materialien hergestellt, aber in ihrer Grundform - vorn breit, hinten etwas weniger und in der Mitte am schmalsten - sind sie fast 150 Jahre alt. Warum aber fährt ein taillierter Ski leichter einen Bogen? Auch Fritz Reichert sucht nach einer Antwort, als er als junger Assistent 1953 an die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport nach Leipzig kommt. »Ich wollte die Bogenwirkung der Skitaille genauer untersuchen und mit dem Drehverhalten anderer Skiformen vergleichen«, sagt Reichert rückblickend. Er fährt mit seinen Konstruktionsplänen zur Stellmacherfirma Zierold nach Oberwiesenthal und lässt dort taillierte Ski anfertigen. Sie bekommen Stahlkanten und eine Laufsohle aus Pertinax, einem Verbundwerkstoff aus der Elektrotechnik. Am 9. Mai 1954 gibt es in Oberwiesenthal einen Praxistest. Reichert filmt seine Versuche. »Der Ski mit betonter Taille zieht wie von selbst wieder den Berg hinauf«, erläutert Reichert, der als erster einen streng taillierten Ski konstruiert und das Carving-Prinzip wissenschaftlich beschrieben hat. Mit seiner Arbeit korrigiert er auch frühere Erklärungsversuche: Nicht die gekrümmte Kante zieht den Ski um die Kurve. Vielmehr ist die Taillierung nur Voraussetzung, damit sich der gekantete Ski unter Belastung durchbiegen kann. Erst diese Durchbiegung formt den Bogen, dem der Ski dann folgt. Der Zusammenhang zwischen Taillierung, Kantenstellung und Durchbiegung des Skis ist das Carving-Geheimnis. Reichert, der bis 1985 das Institut Wintersport an der DHfK leitet, verteidigt seine Doktorarbeit zwar mit Erfolg, aber seine Arbeit gerät in Vergessenheit. Ein Vierteljahrhundert nach Reicherts Promotion fangen Tüftler an, die betonte Ski-Taillierung neu zu entdecken. Doch es dauert bis 1996, bis auf der Internationalen Sportartikelmesse in München alle großen Skifirmen Carving-Modelle präsentieren. Heute erheben viele den Anspruch, Erfinder des Carving-Skis zu sein. »Ruhm ist mir nicht wichtig«, reagiert der Jubilar gelassen und freut sich vielmehr...

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