Sie ist ja eigentlich ganz nett
Unlängst berichtete das Morgenmagazin im ZDF von - so der Originalton! - „Mutti Merkel“ und ihren Lieblingsfilm „Paul und Paula“. Den sah sie sich mit ausgewählten Publikum an, schwelgte in Erinnerungen. Merkel fühlte sich dabei sichtlich wohl, wusste die Stimme aus dem Off.
„Eigentlich ist sie ganz nett und natürlich!“ war so ein Statement, nachdem die Kanzlerin ihren oben erwähnten Frauentalk absolviert hatte. Ihr Mann rede mit ihr privat auch über Politik, erzählte sie da. An Männern finde sie zuallererst die Augen interessant. Und ihre Hände halte sie immer so wie sie sie hält, weil sie nicht wisse, wohin mit den Dingern. Wie fundiert informiert man heutzutage doch sein kann!
Der Poet der Bild-“Zeitung“ Wagner meinte gar, er könne das Mädchen aus Merkels Fotoalbum gut leiden. Darauf zielt das Auspacken verstaubter Erinnerungen freilich ab. Es war im ersten Augenblick schon ungewöhnlich, dass ausgerechnet diese Zeitung über das DDR-Vorleben berichtete. Dabei war es nur konsequent, um dem Mythos eine neue Facette zu verleihen. Denn Merkel hat die Irrtümer ihrer Jugend überwunden. Leute wie Gysi hingegen seien geistig immer noch zurück, so die latente Botschaft. Sie ist eben nicht nur nett, sondern auch vernunftbegabt. Und selbstverständlich waren ihre „Irrtümer“ kaum nennenswert im Vergleich zu manchem Linken von heute. Ihr politischer Lehrmeister sprach in anderem Zusammenhang mal von der Gnade der späten Geburt.
Allerlei erfahren wir dieser Tage von ihr. Allerlei und doch so gut wie nichts. Die private Kanzlerin überlagert das Bild, das in Europa von ihr vorherrscht. Überzeichnet eine Politik, die Selbstmordraten steigert und Arbeitslosigkeit fördert und deren gewichtigster Kopf sie ist.
Die Kanzlerin als stinknormaler Mensch – das ist das Gefühl, das Leitmedien dem Konsumenten vermitteln. Eine Kanzlerin voller menschlicher Züge und Regungen. Menschlich alltäglich, fast banal im Privaten. Und dieser Umstand wird auch noch als Überraschung gefeiert, als Clou investigativer Medienorgane, die ganze Arbeit leisteten.
Wie sich die Eindrücke von einer Person unterscheiden können! Hierzulande findet man sie ganz nett, einige hundert Kilometer weiter südlich eher weniger. Hier behandelt man sie mit Hochachtung. In krisengeschüttelten Ländern wie Spanien und Griechenland bringt man ihr ein großes Maß an Verachtung entgegen. Eine Verachtung, die man über die Deutschen ganz generell schüttet, weil sie sich so eine Frau als Kanzlerin und „Spiritual Leader“ des Neoliberalismus immer noch leisten. Eine in diesem Lande umgedeutete Verachtung, die publizistisch zum Neid des Auslands verklärt wird, damit ja keiner auf die Idee kommt, diese nette Frau aus dem Amt zu jagen.
Wir wissen nun zwar, was sie ihrem Mann auf die Stullen schmiert, nicht aber, wer sie schmiert. Wir erfahren, was ihre Handhaltung bedeutet, nicht aber, bei wem sie ihre Hand aufhält - symbolisch gesprochen, ohne ihr gleich Korruption nachsagen zu wollen. Aber für jemanden muss sie doch diese Politik des Ausblutens der europäischen Peripherie doch machen! Für die Spanier oder Griechen sicher nicht.
Und nebenher lacht sich diese Gesellschaft über Regimes im Heute oder Gestern schlapp, die sich Bilder ihrer Führungsköpfe liebevoll an die Wand nageln und Geschichten ersinnen, in denen sie als bodenständige und rührselige Privatiers vorkommen. Wir jedoch haben in Sachen politische Hagiographie die nächste Evolutionsstufe erreicht. Wir brauchen weder Bilder an der Wand, noch staatlich vorgeschriebene Vivat-Vorschriften. Bei uns übernimmt die freie Presse die hagiographische Gestaltung aus freien Stücken.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.